Lukerja bewegte kaum merklich die Brauen.
»Ach, nein, Herr«, flüsterte sie besorgt. »Bringen Sie mich nicht ins Krankenhaus, lassen Sie mir meine Ruhe. Dort werde ich mich bloß mehr quälen. – Wie kann man mich gesund machen …! Einmal kam ein Arzt her und wollte mich untersuchen. Ich bat ihn: ›Quälen Sie mich nicht, um Christi willen!‹ Aber es nützte nichts, er fing an, mich hin und her zu wenden, mir die Arme und die Beine zu biegen und zu kneten; er sagte: ›Ich mache es der Wissenschaft wegen, ich bin ja ein angestellter, gelehrter Mensch, und du darfst mir nicht widerstreben, denn ich habe für meine Mühe einen Orden um den Hals gekriegt und plage mich für euch Dummen ab.‹ Er zerrte mich hin und her, nannte mir meine Krankheit – es war ein so schwieriger Name – und fuhr davon. Mir taten aber dann eine ganze Woche alle Knochen weh. Sie sagen, ich sei allein, immer allein. Nein, das bin ich nicht immer. Man besucht mich hier. Ich bin so still und störe niemanden. Die Mädchen aus dem Dorf kommen mal her und plaudern, oder eine Wallfahrerin verirrt sich zu mir und erzählt mir von Jerusalem, von Kiew und von anderen heiligen Städten. Ich fürchte mich aber nicht vor dem Alleinsein. Es ist mir sogar angenehmer, bei Gott …! Herr, lassen Sie mir meine Ruhe, bringen Sie mich nicht ins Krankenhaus … Ich danke Ihnen, Sie sind so gütig, aber lassen Sie mir meine Ruhe, liebster Herr.«
»Nun, wie du willst, wie du willst, Lukerja. Ich wollte ja nur dein Bestes …«
»Ich weiß es, Herr, daß Sie mein Bestes wollen. Aber, liebster Herr, wer kann einem anderen helfen? Wer kann einem anderen in die Seele eindringen? Der Mensch muß sich selbst helfen! Sie werden es mir nicht glauben, manchmal liege ich so allein da, und es ist mir, als gäbe es in der Welt keinen Menschen außer mir. Nur ich allein bin lebendig! Und es ist mir, als schwebe etwas auf mich herab … Und es kommen mir so seltsame Gedanken!«
»Was für Gedanken, Lukerja?«
»Das kann ich Ihnen unmöglich sagen, Herr, man kann es gar nicht erklären. Auch vergesse ich es nachher. Es kommt über mich wie eine Regenwolke, die sich über mich ergießt, so frisch, so angenehm; was es aber ist, kann ich nachher nicht begreifen! Ich denke mir bloß, wenn ich Menschen um mich hätte, so wäre dies alles nicht, und ich würde wohl nichts außer meinem Unglück fühlen.«
Lukerja holte mühevoll Atem. Ihre Brust wollte ihr nicht gehorchen, genau wie die anderen Glieder.
»Wenn ich Sie so anschaue, Herr«, fing sie von neuem an, »so sehe ich, daß Sie mit mir großes Mitleid haben. Bemitleiden Sie mich aber nicht zu sehr, wirklich! Ich will Ihnen zum Beispiel sagen, daß ich auch jetzt manchmal … Sie erinnern sich doch, wie lustig ich einst war? Ein fixes Mädel …! Also wissen Sie was? Ich pflege auch jetzt noch meine Lieder zu singen.«
»Lieder …? Du?«
»Ja, Lieder, alte Lieder, Reigenlieder, Weihnachtslieder, Dreikönigslieder, allerlei Lieder! Ich habe doch viele Lieder gekannt und weiß sie noch alle. Nur die Tanzlieder singe ich nicht mehr. Zu meinem jetzigen Beruf passen sie nicht.« »Wie singst du sie denn … stumm, in dich hinein?«
»Stumm und auch laut. Sehr laut kann ich nicht, aber man kann mich doch hören. Ich erzählte Ihnen, daß mich ein Mädel besucht. Ein so verständiges Waisenkind. Ich habe sie es also gelehrt; vier Lieder hat sie mir schon abgelauscht. Oder Sie glauben mir nicht? Warten Sie, ich will Ihnen gleich …«
Lukerja holte tief Atem … Der Gedanke, daß dieses halbtote Wesen sich zu singen anschickte, weckte in mir ein Grauen. Doch ehe ich etwas sagen konnte, erklang in meinen Ohren ein gedehnter, kaum hörbarer, doch reiner und richtiger Ton … ihm folgte ein zweiter, ein dritter. Lukerja sang das Lied Auf den Wiesen. Sie sang mit dem gleichen Ausdruck ihres versteinerten Gesichts und mit starren Augen. So rührend klang diese armselige, angestrengte, wie eine dünne Rauchsäule bebende Stimme, so sehr wollte sie ihre ganze Seele ergießen. Ich empfand kein Grauen mehr, ein unsagbares Mitleid preßte mir das Herz zusammen.
»Ach, ich kann nicht mehr!« sagte sie plötzlich. »Meine Kräfte reichen nicht … Ich freue mich zu sehr über Ihren Besuch.«
Sie schloß die Augen.
Ich legte meine Hand auf ihre kleinen, kalten Finger … Sie blickte mich an und senkte wieder ihre dunklen Augenlider mit den goldenen Wimpern, die mich an die Augenlider alter Statuen erinnerten. Einen Augenblick später leuchteten sie wieder im Halbdunkel … Tränen hatten sie benetzt.
Ich saß noch immer regungslos.
»Was bin ich für eine!« sagte plötzlich Lukerja mit unerwarteter Kraft. Sie öffnete weit die Augen und versuchte durch Zwinkern die Tränen von den Wimpern abzuschütteln. »Schäme ich mich denn gar nicht? Was fällt mir bloß ein? Schon lange ist mir so was nicht passiert … seitdem mich Waßja Poljakow einmal im vorigen Frühjahr besucht hat. Solange er bei mir saß und mit mir sprach, ging es noch; als er aber gegangen und ich wieder allein geblieben war, da weinte ich! Wo nahm ich nur die Tränen her …! Wir Weiber brauchen sie ja nicht zu kaufen. – Herr«, fügte Lukerja hinzu, »Sie haben wohl ein Tüchlein … Ekeln Sie sich nicht vor mir, wischen Sie mir die Augen ab.«
Ich beeilte mich, ihren Wunsch zu erfüllen, und ließ ihr auch das Taschentuch. Anfangs wollte sie es nicht annehmen. »Was brauche ich so ein Geschenk?« Das Tuch war sehr einfach, aber weiß und sauber. Dann ergriff sie es mit ihren schwachen Fingern und ließ es nicht mehr los. Da ich mich an die Dunkelheit, in der wir uns beide befanden, schon gewöhnt hatte, konnte ich ihre Züge deutlich unterscheiden, konnte sogar die leichte Röte bemerken, die ihr bronzenes Gesicht überhauchte, konnte in diesem Gesicht – so schien es mir wenigstens – die Spuren einstiger Schönheit entdecken.
»Sie fragten mich vorhin, Herr«, begann Lukerja von neuem, »ob ich schlafe. Ich schlafe wirklich selten, habe aber dafür jedesmal Träume, so schöne Träume! Niemals sehe ich mich im Traum krank – im Traum bin ich immer so stark und jung … Eines ist nur schlimm: Wenn ich erwache und mich ordentlich strecken möchte, so bin ich wie gefesselt. Einmal hatte ich einen wunderbaren Traum! Soll ich ihn erzählen? Nun, hören Sie zu. – Ich stehe im Feld, und rings um mich her ist Korn, hohes, reifes, wie Gold schimmerndes Korn …! Ich habe ein rotbraunes Hündchen bei mir, es ist böse und will mich immer beißen. Und in der Hand halte ich eine Sichel, es ist aber keine gewöhnliche Sichel, sondern der Mond, der einer Sichel gleicht. Mit dieser Mondsichel soll ich das ganze Korn abmähen. Ich bin aber matt vor Hitze, der Mond blendet mich, und ich bin so faul; ringsherum wachsen ungewöhnlich große Kornblumen! Sie wenden alle ihre Köpfe nach mir um. Ich sage mir: ›Ich will mir diese Kornblumen pflücken; Waßja versprach herzukommen, darum will ich mir zuerst einen Kranz aus Kornblumen flechten; zum Mähen ist noch immer Zeit.‹ – Ich beginne die Kornblumen zu pflücken, aber sie zerschmelzen mir zwischen den Fingern. Ich kann mir also keinen Kranz flechten. Ich höre aber, wie sich mir jemand nähert; er ist schon ganz nahe und ruft: ›Luscha! Luscha!‹ Und ich sage mir: ›So ein Pech, ich bin doch nicht fertig geworden! Nun ist alles gleich, ich will mir diesen Mond statt der Kornblumen auf den Kopf legen.‹ Ich setze mir die Mondsichel wie ein Diadem auf die Stirn, und sie erstrahlt gleich so hell, daß es im Feld ganz licht wird. Und ich sehe, über die Kornähren schwebt zu mir jemand heran – es ist aber nicht Waßja, sondern Christus! Woran ich erkannt habe, daß es Christus war, kann ich nicht sagen; auf den Heiligenbildern wird er ganz anders dargestellt; ich wußte aber bestimmt, daß Er es war. Bartlos, groß gewachsen, jung, weiß gekleidet mit goldenem Gürtel, reicht Er mir die Hand. Und Er sagt zu mir: ›Fürchte dich nicht, meine geliebte Braut, folge mir; du wirst bei mir im Himmelreich den himmlischen Reigen führen und paradiesische Lieder singen.‹ Ich küsse Seine Hand, und mein Hündchen beißt mich gleich in die Füße … Doch wir schweben beide empor. Er fliegt voraus … Seine Flügel, so lang und weiß wie die einer Möwe, füllen den ganzen Himmel; und ich fliege Ihm nach. Das Hündchen muß aber zurückbleiben. Da begriff ich erst, daß das Hündchen meine Krankheit bedeutete und daß es mir ins Himmelreich nicht nachfolgen wird.«