Lukerja schwieg eine Weile.
»Dann sah ich noch einen anderen Traum«, fing, sie von neuem an. »Vielleicht war es auch ein vom Himmel gesandtes Gesicht, ich weiß es nicht. Es träumte mir, daß ich hier in diesem selben Schuppen liege und meine seligen Eltern, Väterchen und Mütterchen, zu mir kommen; sie verbeugen sich tief vor mir, sagen aber nichts. Und ich frage sie: ›Was verbeugt ihr euch vor mir, Väterchen und Mütterchen?« Und sie antworten: ›Weil du dich in dieser Welt so sehr quälst, daß du nicht nur deine eigene Seele erleichterst, sondern auch von uns eine schwere Last genommen hast. Darum haben wir es in der anderen Welt viel besser. Mit deinen eigenen Sünden bist du schon fertig geworden, jetzt überwindest du unsere Sünden.‹ Nach diesen Worten verbeugten sich meine Eltern wieder und verschwanden, und ich sah nichts als die Wände. Später grübelte ich lange, was es wohl gewesen sei. Ich erzählte es sogar dem Pfarrer in der Beichte. Er meinte aber, es sei kein Gesicht vom Himmel gewesen, denn solche Gesichte haben nur Personen geistlichen Standes.«
»Dann hatte ich auch noch diesen Traum«, fuhr Lukerja fort. »Ich sitze unter einer Weide an der Landstraße, habe ein geschältes Stöckchen in Händen, einen Sack auf dem Rücken, und mein Kopf ist mit einem Tuch umbunden – ich sehe ganz wie eine Pilgerin aus! Und ich muß irgendwo weithin wallfahren. Lauter Pilger kommen an mir vorbei; sie gehen langsam, wie widerwillig, alle in die gleiche Richtung; sie haben alle traurige Gesichter und sehen sich alle ähnlich. Und ich sehe: Eine Frau, die um einen ganzen Kopf größer ist als alle und so merkwürdig, gar nicht russisch gekleidet, wirft sich zwischen ihnen hin und her. Auch ihr Gesicht ist so merkwürdig – vom Fasten ausgemergelt und streng. Alle anderen weichen ihr aus; sie aber geht plötzlich auf mich zu. Sie bleibt stehen und sieht mich an; ihre Augen sind aber so gelb wie die eines Falken, groß und seltsam hell. Ich frage sie: ›Wer bist du?« Und sie antwortet mir: Ich bin dein Tod.‹ Statt zu erschrecken, bin ich so furchtbar froh und bekreuzige mich. Und jene Frau, das ist mein Tod, spricht zu mir: ›Du tust mir leid, Lukerja, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Leb wohl!« Mein Gott, wie traurig wurde es mir da ums Herz …! »Nimm mich mit‹, sage ich ihr, ›Mütterchen, liebes Täubchen, nimm mich mit!‹ – Und die Frau wandte sich zu mir um und redete mir zu … Ich verstand nur, daß sie mir meine Stunde bestimmte, aber sie sprach so undeutlich … ›Nach den Petrifasten«, sagte sie mir … Da erwachte ich … So sonderbare Träume habe ich immer!«
Lukerja hob die Augen zur Decke … wurde nachdenklich …
»Aber mein Unglück ist, daß ich oft eine ganze Woche nicht einschlafen kann. Im vorigen Jahr kam hier eine Dame vorbeigefahren; sie sah mich und gab mir ein Fläschchen mit einer Arznei gegen die Schlaflosigkeit; sie sagte, ich soll jedesmal zehn Tropfen nehmen. Die Tropfen Halfen mir gut, und ich konnte schlafen; jetzt ist aber das Fläschchen leer … Wissen Sie nicht, was es für eine Arznei war, und wie ich sie mir verschaffen kann?«
Die durchreisende Dame hatte Lukerja offenbar Opium gegeben. Ich versprach, ihr so ein Fläschchen zu verschaffen, und mußte wieder laut meinem Erstaunen über ihre Geduld Ausdruck geben.
»Ach, Herr!« entgegnete sie. »Was fällt Ihnen ein? Was ist das für eine Geduld? Symeon, der Stylite, der hatte wirklich Geduld – dreißig Jahre lang stand er auf einer Säule! Ein anderer Heiliger ließ sich bis an die Brust in die Erde eingraben und die Ameisen fraßen ihm das Gesicht … Ein Schriftkundiger erzählte mir aber einmal diese Geschichte: Es war einmal ein Land, und die Heiden hatten dieses Land erobert und alle Einwohner gepeinigt und erschlagen; was die Einwohner auch alles anfingen, sie konnten sich unmöglich von den Heiden befreien. Da erschien zwischen jenen Einwohnern eine heilige Jungfrau; sie nahm ein großes Schwert in die Hand, legte sich eine zwei Zentner schwere Rüstung an, zog gegen die Heiden und vertrieb sie alle hinters Meer. Und als sie sie vertrieben hatte, sagte sie ihnen: ›Verbrennt mich jetzt, denn es war mein Gelübde, daß ich für mein Volk den Feuertod erleide.‹ Und die Heiden nahmen sie und verbrannten sie, aber das Volk war von nun an erlöst. Es war eine Tat! Was bin ich dagegen?«
Ich wunderte mich still darüber, daß die Legende von der Jeanne d'Arc hierher und in solcher Gestalt gedrungen war. Nach kurzem Schweigen fragte ich Lukerja, wie alt sie sei.
»Achtundzwanzig … oder neunundzwanzig … Dreißig bin ich noch nicht. Aber was soll ich die Jahre zählen! Ich will Ihnen noch eines sagen …« Lukerja hustete plötzlich dumpf und stöhnte auf …
»Du sprichst zuviel«, sagte ich ihr. »Das kann dir schaden.«
»Es ist wahr«, flüsterte sie kaum hörbar. »Unser Gespräch ist zu Ende; jetzt ist alles gleich! Wenn Sie wegfahren, werde ich wieder nach Herzenslust schweigen können. Nun habe ich mir wenigstens das Herz erleichtert.«
Ich verabschiedete mich von ihr, wiederholte mein Versprechen, ihr die Arznei zu schicken, und bat sie, es sich noch einmal zu überlegen und mir zu sagen, ob sie nicht etwas wolle. »Ich brauche nichts; ich bin, Gott sei Dank, mit allem zufrieden«, sagte sie mit großer Mühe, doch gerührt. »Gott gebe allen Gesundheit! Herr, wenn Sie Ihre Frau Mutter bitten wollten – die Bauern sind hier so arm – , daß sie ihnen den Erbzins herabsetzt! Sie haben zuwenig Land … Die Bauern würden für Sie zu Gott beten … Ich aber brauche nichts, ich bin mit allem zufrieden.«
Ich gab Lukerja das Wort, ihre Bitte zu erfüllen. Als ich schon an der Tür war, rief sie mich wieder zu sich heran.
»Erinnern Sie sich noch, Herr«, sagte sie, und etwas Wunderbares huschte über ihre Augen und Lippen, »was ich einst für einen Zopf gehabt habe? Erinnern Sie sich noch, er reichte mir bis an die Knie! Ich konnte mich lange nicht entschließen … Solche Haare …! Aber wie sollte ich sie in meiner Lage kämmen …! Also schnitt ich sie mir ab … Ja … Nun, leben Sie wohl, Herr! Ich kann nicht mehr …«
Am gleichen Tag sprach ich vor dem Aufbruch zur Jagd mit dem Schulzen des Vorwerkes über Lukerja. Ich erfuhr von ihm, daß man sie im Dorf die Lebendige Reliquie nenne und daß sie im übrigen keinen Menschen störe; man höre sie niemals murren oder sich beklagen. »Sie selbst verlangt nichts, ist sogar im Gegenteil für alles dankbar; so still ist sie und sanft, das muß man sagen. Gott hat sie geschlagen«, schloß der Schulze, »wahrscheinlich für ihre Sünden; aber wir fragen nicht danach. Bereden tun wir sie nicht. Soll sie ihren Frieden haben!«
Einige Wochen später erfuhr ich, daß Lukerja gestorben war. Der Tod hatte sie also doch geholt … und sogar ›nach den Petrifasten‹. Man erzählte, sie habe an ihrem Sterbetag immer Glockenläuten gehört, obwohl die Kirche mehr als fünf Werst weit von Alexejewka lag und es ein Wochentag war. Lukerja hatte übrigens gesagt, das Läuten sei nicht von der Kirche gekommen, sondern »von oben«. Wahrscheinlich wagte sie nicht zu sagen: vom Himmel.
Es klopft!
»Was ich Ihnen sagen wollte«, sagte Jermolai, zu mir in die Stube tretend – ich hatte eben zu Mittag gegessen und mich auf mein Feldbett gelegt, um nach einer recht erfolgreichen, aber ermüdenden Birkhuhnjagd auszuruhen – , es war gegen Mitte Juli, und die Hitze war fürchterlich … »Was ich Ihnen sagen wollte – das Schrot ist uns ausgegangen.«
Ich sprang vom Bett auf.
»Das Schrot ist ausgegangen? Wieso? Wir hatten doch an die dreißig Pfund von zu Hause mitgenommen! Einen ganzen Sack voll!«