Zuerst führte der Pfad durch eine schmale Kluft in den steilen Felsen. Schlaff herabhängende Bäume überschatteten den Weg und bildeten einen Tunnel, und die hohen Ufer auf beiden Seiten waren mit runden, moosigen Felsbrocken und mit den federleichten, grünen Fontänen von Farnbüscheln übersät. Eine weiche, klebrige Feuchtigkeit und der Duft von vermoderten Blättern, wildem Knoblauch und nassem Laub hingen in der Luft. Anvar spürte, wie die Spannung in seiner Brust langsam nachließ; er atmete wieder tief durch. Die feuchte, duftende Luft war eine solche Erleichterung nach der sengenden Wüste …
Die Wüste! Anvar blieb abrupt stehen und versuchte mit aller Kraft, die flüchtige Erinnerung einzufangen. Er war in der Wüste gewesen … Der alte Mann griff mit einem warnenden Kopfschütteln nach seinem Arm. Schon die ungeheure Anspannung seines Körpers verriet eine verzweifelte Eile. Beeil dich, schien er zu sagen. Keine Zeit für solche Gedanken. Er ließ Anvar los und ging mit großen Schritten weiter; das schwache Glühen seiner Laterne verschwand schnell in der nebligen Dunkelheit. Anvar, der von Panik erfüllt war bei dem Gedanken, seinen Führer in dieser fremden, unheimlichen Welt zu verlieren, beeilte sich, ihn einzuholen.
Mit einer Plötzlichkeit, die Anvar den Atem raubte, öffnete sich der schmale Weg zu einem Tal. Der klebrige Dunst verschwand und ließ nur einen seidigen, silbernen Bodennebel zurück, der um seine Füße waberte, verdrängt und verschoben von seinen lautlosen Schritten und denen seines Führers. Ein kurzer Blick machte Anvar klar, daß der Pfad plötzlich verschwunden war und er auf einem Teppich von kurzgeschorenem Rasen ging. Über ihm funkelten Millionen von Sternen am samtschwarzen Nachthimmel, und links und rechts von ihnen erhoben sich die runden Wölbungen von eng aneinandergeschmiegten Hügeln wie schwarze Buckel. Die Stille wob einen fast körperlichen Zauber um das nebelverhüllte Tal, während Anvar ohne eine Erinnerung an die Vergangenheit oder einen Gedanken an die Zukunft der gebeugten, vermummten Gestalt mit der Laterne folgte, als sei er nur zu diesem einen Zwecke geboren worden.
Das Wäldchen ragte aus der Dunkelheit empor, als wäre es plötzlich aus einem Traum geschaffen worden, und für Anvar ging eine unheimliche Vertrautheit davon aus – aber gewiß hatte er nie zuvor diesen merkwürdigen, unirdischen Ort betreten – das Durcheinander uralter Bäume, die sich zueinander hinbeugten, als wollten sie ein Geheimnis verbergen, als flüsterten sie einander durch die endlose Nacht Geheimnisse ins Ohr. Einen Augenblick lang blitzte der Gedanke an die Wüste wieder in Anvars Erinnerung auf. Zu seinem Entsetzen begann die Szene vor ihm sich zu kräuseln und zu verzerren, als hätte er einen Stein in den machtvollen, unergründlichen Brunnen der Meditationen dieser Bäume geworfen. Er hielt eine Hand hoch und bemerkte, daß sie nebelhaft und körperlos wurde, daß die dunklen, skeletthaften Umrisse der Bäume durch sein dahinschwindendes Fleisch deutlich sichtbar waren.
Der alte Mann fuhr mit einem warnenden Zischen herum – das erste Geräusch, das Anvar von ihm gehört hatte. Sein Atem hing in einer Wolke vor seinem Gesicht und überzog seinen buschigen, ergrauten Bart mit Tröpfchen, die im Licht der silbernen Lampe wie Sterne funkelten. Der Anblick genügte, um Anvar von seinen Überlegungen abzubringen und seine umherirrenden Gedanken wieder auf dieses seltsame Hier und Jetzt zu konzentrieren; und zu seiner Erleichterung beruhigte sich das Bild vor ihm, und sein Heisch wurde wieder fest.
Der alte Mann ging weiter auf das Wäldchen zu und verbeugte sich dreimal tief. Zu Anvars Überraschung tauchte ein Pfad zwischen den uralten, moosbedeckten Baumstämmen auf, als hätten die Bäume sie akzeptiert und träten nun hastig zurück, um ihnen einen Durchgang zu ermöglichen. Anvar, der voller Ehrfurcht war und auch voller Angst, folgte seinem Führer und trat durch den Bogengang aus lebendem Holz in das Herz des Waldes ein.
Im Zentrum des Ringes aus Bäumen, geborgen in einem Kreis aus weichem Moos, lag ein Teich – der eigentliche Schoß dieses magischen Ortes. Obwohl schützende Zweige über ihm hingen, störte nicht ein einziges herabgefallenes Blatt die Ruhe seiner stillen, dunklen Oberfläche. Anvar folgte seinem seltsamen Führer an den Rand des Gewässers, blickte hinunter und prallte vor Erstaunen zurück. Statt sein eigenes, von dem Filigranmuster der darüberhängenden Zweige umrahmtes Gesicht zu reflektieren, spiegelte sich in den Wassern von unermeßlicher Tiefe nichts als strahlende Unendlichkeit. Anvar wurde schwindlig, sein Herz hämmerte, als wollte es sich seinen Weg aus seiner Brust heraus erkämpfen. Er war von der festen Überzeugung erfüllt, daß er, wenn er in dieses Wasser hineinfiel, für immer und ewig fallen würde.
Der alte Mann stieß einen langen, geduldigen Seufzer aus. Dann zeigte er zu Anvars Entsetzen entschlossen auf den furchterregenden Teich und begann endlich zu sprechen, wobei seine Stimme so trocken und tot war wie Friedhofsstaub, den der kühle Wind der Mitternacht aufrührt. »Glaube nie, der Tod sei gnadenlos. Dies ist der zweite Teil unseres Handels – vergiß nicht, daß es der dritte Teil sein wird, der über alles entscheidet.« Mit diesen Worten verschwand er.
Anvar wirbelte herum und blickte wild um sich, obwohl er tief in seinem Herzen wußte, daß es hoffnungslos war. Sein Führer war verschwunden. Das einzige, was er verstanden hatte, war der klare Befehl, zu dem Teich zurückzukehren. Er zögerte, denn er hatte Angst, sich dem schwindelerregenden Ufer zu nähern. Als hätten sie .seinen Widerwillen gespürt, begannen die Bäume vor Ärger zu zittern, und ein murmelndes Zischen hallte durch ihre Aste, die sich zu drehen und zu winden begannen und sich wie knochige, drohende Hände nach ihm ausstreckten.
Hastig kehrte Anvar zum Teich zurück, und der Tumult in den Bäumen erstarb. Als er näher kam, blitzten und flackerten Lichtstrahlen aus der Dunkelheit der glasigen Oberfläche auf und ließen ihn zusammenzucken und seine Augen beschirmen. Er ging mit zitternden Gliedern weiter und kniete am Rand des Teiches nieder, da er sich auf diese Weise etwas sicherer fühlte. Und es war eine gute Entscheidung gewesen. Das funkelnde Universum in den Wassern drehte sich in einem wilden Wirbel aus Licht und zog ihn hinunter in seinen schwindelerregenden Strudel …
Anvar spürte, wie er sich gefährlich weit über den Teich beugte und seine Nase diese wirbelnde Oberfläche beinahe berührte. Er verlor das Gleichgewicht … Unfähig, sich von dem hypnotischen Strudel zurückzuziehen, grub er seine Finger tief in das nachgiebige Moos am Ufer und preßte sich mit der ganzen Kraft seiner steifen Arme nach hinten. Er blinzelte, als aus den Tiefen ein feuriger Fleck, seltsam leuchtend inmitten des wirbelnden Weiß, auf ihn zuraste. Der Punkt wurde größer; teilte sich; nahm eine glühende Form an und schließlich eine Gestalt. Ein Schrei entrang sich Anvars Kehle. Er wurde mit ungeheurer Gewalt zurückgerissen, als eine Gestalt aus den Wassern hervorbrach und ihn mit kristallenen Tropfen übersäte, die wie Feuer brannten. Eine verzweifelnde Stimme rief seinen Namen, während Aurian in der Mitte des Teiches um sich schlagend kämpfte und sich mit aller Kraft dagegen wehrte, wieder hinunter in das wirbelnde Nichts gezogen zu werden.