Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es ist zu spät!«
Aurian murmelte einen wilden Fluch. »Hier – nimm das!« Sie schob ihm etwas in die Hand. Anvar spürte, wie eine prickelnde Woge durch seinen Körper floß, eine Woge, die wie flüssiges Licht durch seine Adern rann. Der Stab der Erde! Während er sich bemühte, diese ungebärdige neue Macht zu beherrschen, ließ er seinen Schild fallen und schlug zu.
Er hatte versagt – das wußte er augenblicklich. Luft und Wasser, die Elemente eines Wettermagusch, waren dem Stab fremd, und daher war seine Macht begrenzt. Unerfahren, wie er war, benutzte Anvar den Stab außerdem sehr unbeholfen und ohne die tödliche Präzision, mit der Aurian zu Werke gegangen wäre. Die Konzentration seiner Macht war schwach und ungelenk und löste sich auf, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, so daß sie nun wieder schutzlos Eliseths Angriffen ausgeliefert waren.
»Tot und Begraben, Anvar! Ausgepeitscht, tot und begraben, ohne eine Spur zu hinterlassen!« Eliseths kreischendes Gelächter verhöhnte den Magusch, während sie mit der vollen Gewalt des Sturms auf ihn eindrosch. Er war auf seine Knie gefallen, blutete und würgte, und die gnadenlosen Zähne des Staubs fraßen an seinen Gliedern.
Eine Hand griff nach ihm – zog an seinem Ärmel … Sie fand Anvars Handgelenk, dann die Hand selbst, die immer noch den Stab umklammert hielt. Die Hand schloß sich um seine eigene, zwang seine Finger fester um das schlangenförmig geschnitzte Holz. Dann kam die Berührung von Aurians Geist, und es war wie ein Segen – keine Störung, keine Einmischung, sondern eine zaghafte Frage –, eine Berührung, die sanfter war und intimer als jegliche körperliche Liebkosung es hätte sein können. Obwohl die Magusch ihre Kraft verloren hatte, waren ihre Gedanken durch die Macht des Stabes mit denen Anvars verbunden gewesen, dieses Stabes, den er geschnitzt und den sie mit Magie ausgestattet hatte. Ah, welche Nähe! Anvar wußte ohne zu fragen, was Aurian von ihm wollte. Glücklich und voller Vertrauen überließ er ihr seine Kräfte, hielt sie ihr hin, legte sie in ihre Hände.
»Jetzt!« Anvar konnte später nicht sagen, ob er wirklich laut oder nur in Gedanken aufgeschrien hatte. Sie entriß ihm seine Magie, verwob sie mit der Macht des Stabes und formte sie zu einem Schild. So gewaltig war die Kraft ihrer Tat, daß der Sand unter ihren Füßen davongeblasen wurde, bis sie in einem flachen Krater knieten, während der Zorn des Sturms sich abermals legte.
Weit entfernt in Nexis taumelte Eliseth nach hinten, als ihre Magie an einer unbeugsamen Mauer der Kraft abprallte und sie zurücktaumeln ließ, als hätte sie ein körperlicher Schlag getroffen. Das Gebäude zitterte, als befände es sich im Griff eines Erdbebens, und sie wurde auf den Boden des Wetterdoms geworfen, wo sie mit dem großen Kartentisch zusammenstieß und sich den Kopf aufschlug.
»Eliseth! Was ist los? Ich konnte die Magie bis in den Maguschturm hinein spüren.« Es war Bragar. Er hob die Wettermagusch auf die Füße, und sein Schild senkte sich, um eine feurige Wand um sie beide zu schließen, die sie vor dem bösartigen Rückprall jeder Magie beschützte. Ausnahmsweise war Eliseth einmal wirklich dankbar dafür, ihn zu sehen.
»Aurian!« keuchte sie. »Sie hat mich angegriffen!« Bragar durfte nicht herausfinden, daß sie sich Miathans Befehlen widersetzt hatte – er war zu feige, um sich einer so offenen Rebellion anzuschließen, und sie brauchte seine Hilfe.
»Was? Aber wie?« Auf Bragars Gesicht zeigte sich der gewohnte Ausdruck von Verständnislosigkeit. »Der Erzmagusch sagte, sie habe ihre Kräfte verloren …«
»Er hat sich geirrt!« Eliseth hatte ihr Gedanken so weit wieder unter Kontrolle, daß sie einen neuen Plan schmieden konnte. Diesen feigen Bastard Anvar hätte sie ja noch allein besiegen können, aber er und Aurian zusammen waren zuviel. Doch wenn sie die beiden trennen könnte … Und es gab eine Möglichkeit, das wußte sie: eine Schwachstelle in Aurians Verteidigung, die immer existiert hatte. Aber Eliseth hatte nicht die Absicht, sich noch einmal der gesammelten Macht der beiden Abtrünnigen auszusetzen. Nicht, wenn sie den armen, ach so gefügigen Bragar dafür benutzen konnte. Eliseth drehte sich zu dem Feuermagusch um und schenkte ihm ihr verführerischstes Lächeln. »Es tut mir leid, Bragar. Ich wollte dich nicht so anfahren. Ich bin froh, daß du gekommen bist, denn nur du kannst mir jetzt noch helfen.«
»Keine Angst, Eliseth – ich werde dich beschützen«, rief Bragar. Bei den Göttern, er war so einfältig! Während sie innerlich kicherte, weihte die Maguschfrau ihn schnell in ihren Plan ein.
»Ich bin bereit«, sagte Bragar. Die Wettermagusch warf einen überaus befriedigten Blick auf die kräftige, flammende Barriere, die er mit all seiner Kraft aufgebaut hatte. Falls ihre List fehlschlagen sollte, dann würde sie zumindest keine Angst vor den Konsequenzen zu haben brauchen. Im sicheren Schutz hinter dem Schild von Bragars Magie wandte Eliseth ihren Willen wieder auf Aurian und begann eine Illusion zu weben, eine Illusion und eine unwiderstehliche Verlockung.
Aurian und Anvar waren durch ihre um den Stab gelegten Hände immer noch in Gedanken miteinander verbunden. Ihre Berührung schenkte ihnen Kraft und Trost. Aurian, die es nicht wagte, auch nur für einen Augenblick loszulassen, benutzte ihre freie Hand, um sich das Blut und den Sand aus dem Gesicht zu wischen. Hinter ihrem Schild wütete der Sturm weiter, obwohl seine Kraft jetzt etwas nachgelassen hatte.
»Wir haben sie nicht umgebracht, nicht wahr?« Anvars Gedanke drang so deutlich zu der Magusch hinüber, als hätte er ihn ausgesprochen.
»Nein«, erwiderte Aurian. »Wir haben sie durchgeschüttelt – aber sie wird gleich wieder da sein.«
In wortloser Übereinstimmung überdachten sie ihre Möglichkeiten. Sollten sie es riskieren, den Schild sinken zu lassen, um Eliseth zu schlagen, bevor sie sich erholen konnte, oder sollten sie ihn lieber solange wie möglich aufrecht erhalten, so daß sie sicher zum Rand der Wüste gelangen konnten? Es würde ein langer Marsch werden – ihre Pferde waren verschwunden und mittlerweile gewiß tot. Es war Shia, die die Angelegenheit endgültig besiegelte. Die große Katze kauerte flach auf dem Boden. Sie hatte ihre Pfoten über die Augen gelegt und war unfähig, sich unter dem gewaltigen Ansturm von Magie zu bewegen, der in ihrem Schild herrschte. Sie würde es niemals schaffen, das wußte Aurian. Sie sah zu Anvar hinüber und wußte, daß sie in diesem Augenblick ihre Entscheidung getroffen hatten – in absoluter Harmonie. Sie würden kämpfen.
Aurian erhob sich unsicher auf die Füße, wobei sie immer noch Anvars um den Stab gelegte Hand umklammerte. Wieder einmal nahm sie seine rohen Kräfte und die des Stabs der Erde zu Hilfe und kombinierte sie mit der geübten Kraft ihres Willens. Sie fühlte sie belebt und gestärkt durch die tröstende Nähe seiner Berührung. Dann ließ sie den Schild sinken, sammelte sich …
Und erstarrte. Durch die dahinstreifenden Vorhänge aus Staub kam eine Gestalt auf sie zu – die vertraute Geistergestalt ihrer verlorenen Liebe. »Forral«, rief sie. Wie gebannt von der Erscheinung, ließ Aurian Anvar los, löste ihre Hand von dem Stab und trennte ihre Verbindung. Ohne sich bewußt zu sein, daß sie die anderen auf Gedeih und Verderb dem Sturm überließ, bewegte sie sich wie eine Schlafwandlerin auf den Geist des ermordeten Kriegers zu. Sie schützte ihre Augen mit den Händen vor dem brennenden Sand und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. Durch den peitschenden Diamantstaub sah sie, wie Forral sich von ihr entfernte, so wie er es in Dhiammara getan hatte; er winkte ihr, ihm in das Herz des Sturms zu folgen. »Forral.« Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern. Die Magusch machte einen taumelnden Schritt nach vorn und dann noch einen …
Aurian spürte mehr, als daß sie es sah, wie Anvar den Schild wieder aufrichtete. Als der Sand um sie herum zu Boden fiel und dort liegenblieb, trat er mit einem undeutlichen Fluch hinter sie. Eine grobe Hand griff nach ihrer Schulter und riß sie zurück, und er kämpfte sich an ihr vorbei, so daß er ihr den Blick auf Foralls geisterhafte Gestalt versperrte. »Nein. Du kannst sie nicht haben!«