Miathan hatte sich in Trance aus seinem Körper herausbewegt, um sich für den vor ihm liegenden Abend auszuruhen, an dem er weitere Opferhandlungen vollbringen wollte, die seine Macht noch vergrößern würden. Er würde in den nächsten Wochen ziemlich viel Zeit außerhalb seines Körpers zubringen, die Gestalt seines neuen Strohmannes im Süden annehmen, während er dort die Dinge in Bewegung brachte, die zu Aurians Gefangennahme führen sollten. Im Vertrauen auf seine eigene Autorität war es ihm nie in den Sinn gekommen, daß Eliseth möglicherweise seine Pläne durchkreuzen könnte.
Aurians und Anvars letzter Angriff auf Eliseth riß den Erzmagusch mit einem Ruck wieder in seinen Körper zurück, während das Bett unter ihm zu zittern begann. Die plötzliche Rückkehr in die Körperlichkeit hatte ihn seiner Orientierung beraubt, und er taumelte auf die Füße, stolperte über den Boden, der unter ihm stampfte und bebte. Mit einem ohrenbetäubenden Knall und einer Explosion blendenden Lichts im Hof draußen erzitterten die Grundfesten seines Gemachs, und Glassplitter gingen auf ihn nieder. In seinen Ohren dröhnte es, während er die Splitter wegwischte und sich vorsichtig zum Fenster hin bewegte. Die Vorhänge flatterten wild im Wind, zerfetzt zu qualmenden Lumpen. Er schob sie beiseite, um aus dem Fenster zu spähen, und keuchte, als er die Verwüstung draußen erblickte. Das war unmöglich! Was war geschehen, während er seinen Körper verlassen hatte?
Der Hof erstickte unter Wogen aus glitzerndem Sand, und der Erzmagusch mußte sich durch diesen Sand hindurchkämpfen, um zu den geschwärzten Überresten des zerschmetterten Kuppelbaues zu gelangen. Nachdem er sich mühsam durch den qualmenden Schutt gekämpft hatte, erreichte er endlich die vollkommen zerstörte innere Kammer des Wetterdoms und sah Eliseth über einer schwarzen, entstellten Leiche knien: die kaum noch erkennbaren Überreste Bragars. Der Geruch von verkohltem Fleisch hing in der Luft, und der Erzmagusch mußte eine Welle der Übelkeit niederkämpfen.
»Aurian«, wisperte Eliseth. Sie war erschüttert, aber unversehrt. Bragar hatte die volle Gewalt des Schlags aufgefangen und sich geopfert, um sie zu schützen.
Wie hatte sie diesen ahnungslosen Tölpel nur dazu überredet? fragte Miathan sich und wischte dann alle Gedanken an den glücklosen Feuermagusch beiseite. Bragar war immer ein Idiot gewesen. Aber es war eindeutig, daß Eliseth ihm vorsätzlich ungehorsam gewesen war und einen Angriff auf Aurians Leben unternommen hatte. Zitternd vor Wut, wandte Miathan seinen drohenden Juwelenblick auf die sich krümmende Wettermagusch. Langsam und mit geballten Fäusten ging er auf sie zu.
»Was hast du getan?« fauchte er. »Was hast du getan?«
Aurian ließ den Stab fallen und ging in die Knie; sie zitterte vor Erschöpfung und von den Nachwirkungen der Magie. Anvar sank neben ihr nieder. »Wir haben es geschafft«, murmelte er, obwohl er immer noch unfähig war, es zu glauben. »Wir haben sie getötet.«
Aurian nickte. »Ich habe einen Todesschmerz gefühlt«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war blutleer, und Anvar fing sie auf, als sie plötzlich taumelte. »Mir geht es gut«, murmelte sie – ihre automatische Antwort –, aber sie zitterte heftig, als sie ihm ihr erschüttertes Gesicht entgegenhob. »Anvar, ich …«
»Aurian, nach dem, was du gerade durchgemacht hast – nach all den furchtbaren Dingen, die ich zu dir gesagt habe – wage es bloß nicht, dich bei mir zu entschuldigen«, schalt Anvar sie sanft.
»Aber ich …« Aurians Stimme erstickte in einem Sturzbach schrecklicher Schluchzer.
»Ach, mein Liebes.« Anvar schloß seine Arme um sie und fuhr ihr übers Haar, während sie weiterweinte. »Meine liebe, tapfere Aurian.« Das Ausmaß von Aurians Entscheidung erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Sie war gezwungen gewesen, eine grausame Wahl zu treffen – eine unmögliche Wahl –, und doch war sie mit Mut zu Werk gegangen; und wenn er die Magusch kannte, dann auch mit vollkommener Ehrlichkeit. Und nachdem sie einmal ihre Entscheidung getroffen hatte, würde sie auch dabei bleiben. Noch während er sie tröstete, spürte Anvar, wie sich eine entsetzliche Last der Sorge von seinem Herzen hob. Seit jener Nacht ihrer Flucht aus Nexis, als sie mit ihm gehadert hatte, weil er ihr das Leben gerettet hatte, hatte er schreckliche Angst ausgestanden, daß sie am Ende doch noch jenen einen Weg wählen würde – daß sie ihn verlassen würde, um ihrem Liebsten in den Tod zu folgen. Aber nun hatten sie den schicksalsschweren Kreuzweg erreicht, und die Krise war vorüber. Aurian hatte das Leben dem Tod vorgezogen – hatte sich dafür entschieden, bei ihm zu bleiben, statt Forral zu folgen.
Obwohl Aurians Kummer ihn schmerzte, hob sich Anvars Geist wie zu einem freudigen Gesang. Oh, es lag noch ein langer Weg vor ihnen, soviel stand fest. Sie waren noch ganz am Anfang – Forral war kaum ein halbes Jahr tot, und Aurian würde noch einige Zeit um ihn trauern. Sie würde mit aller Kraft ihrer sturen Natur dagegen ankämpfen, jemand anderen zu lieben. Aber nichtsdestotrotz war das ein Kampf, den Anvar zu gewinnen beabsichtigte – und nun besaß er die Kraft und die Entschlossenheit, um ihrem eigenen, unbeugsamen Willen zu begegnen.
Anvar lächelte bei sich. Meine liebste Aurian, dachte er. Wieviel ich dir doch schulde! Zuerst hast du einen Magusch aus mir gemacht – und nun auch noch einen Krieger. Und eines Tages, das verspreche ich dir, werde ich dir das alles zurückzahlen – indem ich dich wieder glücklich mache. Anvar schloß seine Arme fester um die weinende Magusch. »Weißt du, was ich tun würde, wenn wir jetzt in Nexis wären?« murmelte er. »Ich würde dich in jede Taverne der Stadt schleppen und zusehen, daß du betrunkener wirst, als du es je in deinem Leben gewesen bist!«
Aurian sah dankbar zu ihm auf und schluckte. Dann bemühte sie sich, ihre Stimme wiederzufinden. »Es ist noch ein langer Weg bis nach Nexis«, sagte sie endlich.
»Wir werden es schaffen«, versicherte Anvar ihr. »Und wer weiß – vielleicht finden wir ja auch unterwegs schon ein paar Tavernen für dich!«
»Wenn wir welche finden, werde ich dein Angebot ganz bestimmt annehmen«, sagte Aurian kläglich. Anvar freute sich darüber, ihren alten Kampfgeist wieder aufblitzen zu sehen. In ihrer so vertrauten unbewußten Geste wischte sie sich das Gesicht mit dem Ärmel ab, und er stieß einen gespielten Seufzer aus.
»Weißt du«, neckte er sie, »ich glaube, daß ich dir diese schreckliche Angewohnheit niemals austreiben werde.«
Aurian funkelte ihn wütend an und war kurz davor, eine vernichtende Erwiderung zu machen, als Anvar kicherte.
»Also wirklich, du …« fauchte sie, aber ihre Lippen begannen zu zucken, und plötzlich warf sie die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. »Mein lieber Anvar«, murmelte sie. »Ich danke dir.«
Shia, die in der Hitze des Gefechts vollkommen vergessen worden war, kroch zu ihnen heran und legte ihren Kopf in Aurians Schoß. »Du hast einen tapferen Sieg erstritten, meine Freundin. Ich bin froh, daß du geblieben bist«, hörte Anvar sie sagen.
»Das sind wir beide«, fügte er sanft hinzu.
»Meine Freunde«, flüsterte Aurian und streckte die Hand aus, um die Katze zu streicheln. Sie sah erst Shia an, dann Anvar und holte schließlich tief Luft. »Wißt ihr«, sagte sie langsam, »trotz allem, was geschehen ist, bin auch ich froh, daß ich geblieben bin.«
Aurians Haar war vollkommen zerzaust und voller Sand; ihr Gesicht war schmutzig, von Tränen überströmt und abgeschürft von dem glitzernden Staub; ihre Kleider waren nichts als eine Masse Lumpen – aber für Anvar war sie, als er sie in seinen Armen hielt, schöner denn je. Es gab soviel, was er ihr in diesem Augenblick gern gesagt hätte, aber das mußte er sich für die Zukunft aufsparen – die Zukunft, die Aurian, ob sie es nun wußte oder nicht, ihm endlich doch gewährt hatte.