»Was hast du gesagt? Wo ist Aurian?«
»Das habe ich doch schon gesagt! Sie ist weg! Ich habe sie eingeschlossen, und sie hat die Fensterscheibe zerbrochen! Überall ist Blut, und sie ist draußen im Sturm und …«
»Das ist deine Schuld!« Forral riß sie mit einer Ohrfeige aus ihrer Hysterie heraus und verspürte eine grimmige Befriedigung, als sie vor Schmerz aufstöhnte. Es kostete ihn einige Mühe, den Wunsch zu bezähmen, sie auf der Stelle zu erwürgen. Sie mußten das Kind finden. »Komm!« rief er und tauchte bereits in den Mahlstrom des Schneesturms ein, während Eilin mühsam versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Der gesunde Menschenverstand sagte ihm, daß sie Aurian in diesem Sturm, in dem man nicht einmal die Hand vor Augen sah, niemals finden würden, daß es bereits zu spät war, aber er wehrte sich in wilder Verzweiflung gegen diesen Gedanken. Er war zu schmerzhaft, um ihn akzeptieren zu können.
»Forral – warte!« rief Eilin, aber der Schwertkämpfer schenkte ihr keine Beachtung. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte ihm nicht schnell genug folgen. Es dauerte nur noch einen kurzen Augenblick, dann war er spurlos in dem Unwetter verschwunden. Die Magusch fluchte wild. »O du Narr!« rief sie. »Du hitzköpfiger, törichter Sterblicher! Jetzt seid ihr beide verschwunden!« Einen Augenblick lang stand Eilin ungeachtet des eisigen Sturmwinds von Schuldgefühlen wie gelähmt da. Geraint hätte vor Wut getobt, wenn er gesehen hätte, wie sie seine Tochter und seinen Freund behandelt hatte! Forral hatte recht, wenn er sagte, alles sei ihre Schuld.“ Hätte sie ihm nur gestattet, bei Aurian im Turm zu wohnen, dann wäre es niemals zu dieser Tragödie gekommen. Schließlich faßte sie sich jedoch wieder. Sie hatte diejenigen von Aurians Freunden aus dem Tierreich, die dem Sturm standhalten konnten, herbeigerufen, um nach dem Kind zu suchen, aber Forral konnte die Tiere nicht verstehen. Für den Schwertkämpfer brauchte sie einen anderen Führer. Diesen Führer konnte sie herbeirufen, das wußte sie – aber welch entsetzliches Wagnis ging sie damit ein!
Die Sterblichen hatten schon vor langer Zeit aufgehört, an die Phaerie zu glauben. Nur das Volk der Magusch kannte die Wahrheit hinter den Geschichten über ein uraltes, hellseherisches Geschlecht, das über die Kraft der Alten Magie verfügte – denn vor endlosen Zeiten hatten die Magusch es aus Angst vor seinen Streichen und seiner Einmischung aus ihrer Welt verstoßen und in einem rätselhaften Anderswo gefangengesetzt, jenseits der Welt, die die Sterblichen kannten. Die Phaerie konnten nicht in die Welt zurückkehren, es sei denn, ein Magusch rief sie – und ein solcher Ruf hatte seinen Preis. Aber es blieb jetzt keine andere Möglichkeit, den Schwertkämpfer und ihr Kind zu retten. Mit zitternden Fingern umklammerte Eilin ihren Stab und sprach die Worte, die den Lord der Phaerie herbeirufen würden.
Forral taumelte blind durch die Schneeverwehungen und kämpfte gegen Kälte und Erschöpfung. Er fühlte sich wie in einem endlosen Alptraum gefangen. Die Wirkung von Eilins Trank ließ langsam nach, und seine schmerzenden Glieder waren steif vor Kälte. Jedesmal, wenn er ausrutschte und fiel, schien es weniger wahrscheinlich, daß er jemals wieder aufstehen würde. Aber verloren und erschöpft, wie er war, weigerte er sich doch, aufzugeben. »Was für ein armseliges Zerrbild eines Kriegers bist du bloß!« stachelte er sich selbst an, um die Angst auszulöschen, die sich in seine Brust gesenkt hatte und die viel kälter war als der Schneesturm draußen. »Aurian braucht dich! Nein, bei den Göttern – wenn das hier wirklich zu Ende ist, dann wirst du auf deinen Füßen sterben, auf der Suche nach Aurian i«
Für kurze Zeit war er aus dem Wald heraus gewesen, aber jetzt war er wieder mittendrin und taumelte wie ein Betrunkener auf unsicheren Beinen daher. Das Gehen war leichter hier – die Bäume brachen die Kraft des Windes, und Forral konnte ihre Äste benutzen, um sich festzuhalten. Und den Göttern sei Dank – das da vor ihm mußte Eilin sein. Er konnte ihr schimmerndes Licht zwischen den Baumstämmen tanzen sehen. »Eilin!« schrie er mit aller Kraft, die er seinen keuchenden Lungen abringen konnte. Zur Hölle mit dem dummen Frauenzimmer – warum hörte sie ihn nicht? »Eilin!« Aber sie bleib nicht stehen – und Forral, der Angst hatte, sie wieder zu verlieren, hatte keine andere Wahl, als dem unheimlichen Glühen zu folgen. Plötzlich hatte er den Waldrand erreicht – und dort vor ihm waren plötzlich zwei Lichter, die Seite an Seite unstet durch den wirbelnden Schnee flackerten.
»Forral!«
Er hörte die Stimme der Magusch. Als der Schwertkämpfer auf sie zutaumelte, glitt er aus und stürzte abermals. Als er sich mühsam aus dem Schnee erhoben hatte, beugte sich Eilin sich über ihn, und die beiden Lichter waren irgendwie eins geworden. Nach einem Schluck aus Eilins Flasche fühlte Forral sich schon ein wenig besser. »Dem Himmel sei Dank für das da«, murmelte er. »Einen Augenblick lang habe ich schon doppelt gesehen! Hast du sie gefunden?«
»Nein – aber ich weiß, daß sie ganz in unserer Nähe sein muß. Kannst du jetzt weitergehen?«
Forral nickte. »Aurian«, rief er verzweifelt und versuchte, mit seiner Stimme den tosenden Sturm zu übertönen. Aber das – das war nicht der Wind! Durch den Schneesturm drang das entsetzliche Heulen eines Wolfes, unheimlich und triumphierend. Forral blieb stehen, wie versteinert vor Entsetzen. »Nein!« flüsterte er.
Eilin zog an seinem Arm, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude. »Sie haben sie gefunden!« rief sie.
Forral zuckte zusammen. Bei den Göttern, hatte sie nun wirklich und wahrhaftig den Verstand verloren? Haßte sie ihr Kind wirklich so sehr? Grenzenlos angewidert hob er seine Faust, um sie niederzuschlagen.
»Forral, nein!« schrie Eilin. »Das sind Aurians Wölfe – ihre Freunde! Ich habe sie gerufen, um nach ihr zu suchen!«
Verblüfft senkte Forral langsam seinen Arm. Die Wölfe heulten wieder. »Schnell«, sagte Eilin.
Während er ein wachsames Auge auf die gewaltigen grauen Gestalten hielt, die ihn jetzt umringten, hob Forral den leblosen Körper Aurians aus dem Schnee und fühlte ihr mit kältesteifen Fingern den Puls. »Sie lebt!« Er hätte vor Erleichterung weinen können, aber das mußte warten. »Wir müssen uns beeilen. Findest du den Weg zurück?«
»Ich finde immer meinen Weg nach Hause«, gab die Magusch zurück. Sie kämpfte sich mit ihrem Maguschlicht an der Hand an seiner Seite durch den Schnee, gefolgt von etwa einem Dutzend magerer, zottiger Wölfe, die sich um das Kind geschart und es mit der Wärme ihrer Körper am Leben gehalten hatten. Nicht ein einziges Mal ließen die Tiere Aurians reglose Gestalt aus den Augen.
Als Forral den Turm betrat, folgten die Wölfe ihm entschlossen hinein. Dann hielten sie sich jedoch ein wenig abseits, während sie zusahen, wie er und Eilin Aurian die nassen Kleider abstreiften und sie auf ein provisorisches Bett in der Nähe des Ofens legten. Schließlich wickelten sie sie in jede Decke und jedes Laken, das sie finden konnten. Während Eilin Wasser auf den Herd setzte, blieb Forral bei dem Kind sitzen und strich ihm mit zitternder Hand die feuchten Locken aus dem bläulichen Gesicht. »Kannst du nicht irgend etwas tun?« fragte er schließlich ungeduldig.
»Ich bin bereits dabei!« Eilin ließ den Topf mit einem lauten Knall auf den Herd krachen, und Wasser zischte auf, als es über die heiße Fläche rann. Dann bedeckte die Magusch ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.
»Dafür ist es jetzt zu spät«, sagte Forral brutal. »Sobald es ihr gutgeht – wenn es ihr überhaupt irgendwann wieder gutgeht – werde ich sie von hier wegbringen, und du wirst mich nicht davon abhalten.«