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«Dann sind wir abgeschnitten. «Der junge Oberleutnant betrachtete die Karte, die auf seinen Knien lag.»Rundherum Russen. Nur die Ostsee ist noch frei.«

«Sollen wir nach dem Westen schwimmen?«sagte Jochen Kurowski leise.»Ich geh zurück zu meiner Berta und leg mich daneben.«

«Wir kommen durch, verflucht nochmal!«Paskuleit hieb mit der Faust gegen die Wagenwand.»Was ist mit der Weichselmündung, Oberleutnant?«

«Daran denke ich auch. Aber wir müssen schneller sein als die sowjetischen Panzer. Wenn wir riesiges Glück haben, ist die Weichselmündung nur mit Treibeis bedeckt, und wir finden ein paar Boote. «Er faltete die Karte zusammen, — es war zu trostlos, ihre Lage auch noch gedruckt zu sehen.»Leute, weiter! Zur Weichsel! Erst dort können wir sagen: Alles im Eimer! Oder auch nicht!«

Die Adamsverdrusser zogen weiter. Sie ließen auf dem Haff sieben Wagen zurück. Nur leichtes Gepäck, hieß es. Das Leben ist wichtiger als ein Eichenschrank und ein blankgeputzter Herd. Wir müssen schneller werden. Von allen Seiten drängten die sowjetischen Divisionen durch Ostpreußen. Königsberg war eingeschlossen, über Hunderte von Kilometern brannten die Dörfer, türmte sich ein Berg von Greueln auf, machte man Jagd auf die Frauen. Der berühmte russische Dichter Ilja Ehrenburg schwelgte in einem Aufruf an die sowjetischen Truppen in der Vernichtung alles, was deutsch war.

Der Treck erreichte die Nehrung tatsächlich bei Pröbbernau. Von hier zog er weiter nach Westen, über Vogelsang, Bodenwinkel, Stutt-hof nach Steegen. Hier kreuzte die Straße von Elbing über Tiegenhof und die Elbinger Weichsel. Der große Treck saugte die Adamsver-drusser auf. Ein einziger Satz trieb Tausende vorwärts, ein Gerücht, das jeder als Wahrheit nahm, weil es das Leben bedeutete: Bei Nik-kelswalde, in der Weichselmündung, liegen noch drei Frachtschiffe.

O Gott im Himmel — drei Schiffe!

Ein dicker, schwarzer, endloser Wurm, so wälzte sich der Treck zur Weichsel. Und in diesem Wurm fuhr eine intakte deutsche Trup-pe in Regimentsstärke mit einem vollständigen Divisionsstab, der das Pech gehabt hatte, seine Division zu verlieren. Die Russen waren schneller gewesen. Sie schlossen die Division ein, aber der Stab war draußen. Nun zog er auch zur Weichsel, weil es sinnlos war, mit einer Schar Offizieren, Schreibern und einem voll besetzten Feldgericht gegen T34 anzurennen.

Aber die militärische Alltagsarbeit, dieser sture preußische Kasernengeist, blühte auch jetzt im Stadium der Auflösung. Jeden Morgen gab es Truppenappell, wurden die Kompanien strammstehend gemeldet. Während eines Ruhetages bei Pasewark setzten zwei Kompaniechefs sogar Gewehrgriffübungen an und Stiefelappell.

Hier in Pasewark geschah es auch, daß ein Oberfeldrichter, der einen Teil des Trecks an sich vorbeiziehen ließ, den Oberleutnant mit dem Ritterkreuz auf dem Kutschbock von Pfarrer Heydickes Wagen sitzen sah. Er sah den jungen Offizier an, winkte dann und brüllte:»Kommen Sie mal her!«

Der Oberleutnant sprang vom Bock. Paskuleit, der als nächster vorbeifuhr, hörte noch, wie der Oberfeldrichter schrie:»Was sagen Sie da?! Wo ist Ihre Truppe?! Sie Hundsfott! Mitkommen!«Dann sah er, wie beide in einen Horchwagen stiegen und nach vorn fuhren. Paskuleit warf die Zügel Busko zu und rannte nach vorn zu Heydicke.

«Herr Pfarrer!«schrie er.»Da braut sich was zusammen! Sie haben unseren Oberleutnant mitgenommen! Herr Pfarrer! Helfen Sie! Ich übernehme Ihren Wagen!«

Pfarrer Heydicke sprang vom Bock, saß hinten bei Felix Baum auf und brauste mit ihm dem Horch nach. Am Abend kamen sie zurück. An ihren Augen sahen alle, daß etwas Schreckliches geschehen war. Baum holte sein Parteibuch aus der Tasche und zerriß es.

«Sie haben ihn verurteilt«, sagte Heydicke leise.»In einer regelrechten Gerichtsverhandlung unter dem Vorsitz von Oberfeldrichter Dr. Eberhard Bollow. Wegen Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feind… zum Tode. Ich habe versucht, ihn zu verteidigen… sie haben mich einfach hinausgeworfen. Eine Stunde später haben sie ihn aufgehängt. Er hängt an der Straße an einem Baum, das Ritterkreuz noch um den Hals.«

«Dr. Eberhard Bollow — «, sagte Opa Jochen laut. Dann nahm er ein Schulheft aus der Tasche, riß aus ihm ein paar Blätter, teilte sie in neun Streifen und schrieb neunmal den Namen Dr. E. Bollow darauf. Die Streifen verteilte er an Paskuleit, Baum, Busko, Heydicke, Erna, die Kinder und steckte selbst auch einen ein.»Damit ihr diesen Namen nie vergeßt!«rief er dröhnend.»Dieser Zettel ist wichtiger als jedes Geld! Nie vergessen! Wir werden den Namen Dr. Bollow noch brauchen!«Dann zogen sie weiter.

Nach vier Stunden kamen sie an dem Baum vorbei, an dem der junge Oberleutnant hing. Die Adamsverdrusser legten grüßend die Hände an den Kopf, Paskuleit ging zu ihm hin und drückte dem Toten die eisige Hand. Heydicke segnete ihn. Opa Jochen brüllte:»Mein Jungchen, wir werden immer an dich denken!«und zeigte den Kindern den Toten.»Das ist er! Und sein Mörder heißt Dr. Bollow! Nicht vergessen!«

In der Nacht, einer ganz klaren, frostklirrenden Nacht, erreichten sie die Weichsel bei Nickelswalde. Im treibeisübersäten Wasser lagen wirklich drei Schiffe. und vor ihnen eine dreifache Kette Soldaten mit gesenkten, geladenen Maschinenpistolen.

Die Lage war ganz klar: Die Schiffe standen bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen, — aber nur Frauen und Kinder. Die Männer mußten zurückbleiben und warten, ob dann noch Plätze frei waren. Konnten die Schiffe noch mehr aufnehmen, würden zuerst die Alten an Bord gelassen werden.

«Ich bleibe!«sagte Opa Jochen.»Aber ihr«- er zeigte auf Erna und die Kinder —»ihr geht aufs Schiff!Verflucht, keine Widerrede, Erna, — denk an Ewald!«

Durch einen Schlauch schwerbewaffneter Offiziere und Soldaten wurden die Frauen und Kinder an Bord gelassen. Der Abschied war für immer, die meisten ahnten es. Auf dem Land blieben die Wagen zurück, all die armselige Habe, die sie mit dem Treck gerettet hatten. Nur was man tragen konnte, war zugelassen, und die meisten Mütter trugen ihre Kinder auf den Armen. Auf ihren Rücken hingen Rucksäcke, zusammengerollte Decken, Kleiderbeutel, ein bißchen zu essen. Weinend gingen sie auf die Schiffe, und die Männer winkten ihnen nach, mit brennenden Augen und verzerrten Gesichtern. Am Morgen durfte auch Opa Jochen an Bord… er wehrte sich, aber Paskuleit ließ den Alten von Busko abschleppen, und eine Stunde später durfte er auch aufs Schiff. Ein Mann mit einem Holzbein, so entschied die Offizierskommission, ist nur bedingt wehrfähig.

«Nun sind wir alle wieder zusammen«, sagte Opa Jochen und umarmte Paskuleit.»Was haste mitgenommen?«

«Nur die Schuhmacherwerkzeuge.«

«Das reicht. Auch nach'n Krieg wird keener barfuß gehen.«

Über ihnen flatterte die Fahne des Roten Kreuzes. Sie wurde am Hauptmast hochgezogen. Und unter der Fahne stand ein Mann, von dem keiner wußte, wie er an Bord gekommen war, — aber er war da. Oberfeldrichter Dr. Eberhard Bollow.

Kapitel 6

Von einem neuen Treck, der aus Richtung Marienburg müde, am Ende aller Kräfte durch den eisigen Tag herankam, wurden wieder Frauen und Kinder durch die Absperrkette auf die Schiffe gelassen. Ein paar Offiziere gingen herum und schrien zu den schon an Bord befindlichen Männern:»Wenn der Platz nicht reicht, müßt ihr wieder runter! Verstanden?!«

«Verstanden!«brüllte Opa Jochen zurück.»Aber dann alle!«Er blickte zu Dr. Bollow hinüber, der unter der Fahne stand, als müs-se er dort Ehrenwache halten.»Ich sag's ihm persönlich!«knurrte Kurowski. Paskuleit hielt ihn am Ärmel fest.

«Bist du verrückt?!«zischte er.»Willste die Rübe abhaben?«

«Von dem da?«Opa Jochen lachte gefährlich.»Wenn ich tief einatme, hängt er mir unter der Nase!«Er riß sich los und stampfte über das Deck zu Dr. Bollow.

«Alle Männer von Bord!«schrie Kurowski.»Es kommen noch mehr Frauen!«

Verwirrt starrte der Oberfeldrichter den alten, großen Mann mit dem wilden Bart an.»Was wollen Sie?«sagte er dann ziemlich unsicher.