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«Platz für die Frauen! Was machen Sie auf dem Schiff, he?«

«Ich sorge hier für Ordnung, Mann!«Dr. Bollow straffte sich. Er schlug den Kragen seines Lammfellmantels hoch und ging an Ku-rowski vorbei. Kurz darauf hörte man seine helle Stimme irgendwo schreien:»Alle Männer bis 50 Jahre an der Brücke sammeln! Abzählen lassen! Für jede Frau zwei Männer von Bord!«

«So ein Schwein!«sagte Opa Jochen bitter.»Julius, was für eine dicke Sau! Wenn der den Krieg überlebt, muß mich Pfarrer Heydicke neu missionieren. Dann glaub ich nicht mehr an Gott.«

Gegen Mittag wurden die Stege eingezogen, die Schiffe waren überfüllt. Man wußte zwar, daß noch von allen Seiten mehrere große Trecks heranzogen, aber es hatte keinen Sinn mehr, sie abzuwarten. In der Ostsee sollten sowjetische U-Boote und Minensucher kreuzen und alles zusammenschießen, was von der deutschen Küste abstieß. Keiner wollte das Risiko eingehen, diese vollbeladenen Schiffe auch noch zu opfern. Die Soldaten und die zurückgebliebenen Männer, meistens Bauern und Arbeiter aus ehemals kriegswichtigen Betrieben, die nun längst von den russischen Divisionen überrollt waren, winkten den drei Schiffen nach, als sie langsam die Weichselmündung hinunterglitten zur offenen See. Über den Masten knatterten die Rote-Kreuz-Fahnen, auf den Dächern der Ruderhäuser leuchtete ebenfalls das internationale Zeichen. Hier suchten die Unschuldigsten und die am meisten Getroffenen eines Krieges ihr Le-ben wieder: Frauen, Kinder und Greise, von dieser Minute an heimatlos, erbärmlich arm, angespültes Strandgut der großen Schlachten, Überlebende mit der Chance, irgendwo zu verhungern oder draußen auf der Ostsee in einen russischen Torpedo zu laufen. Denn auch das Rote Kreuz hatte seine Mahnkraft verloren. Es galt nur noch eins: Vernichten! Auslöschen!

Als die Küste im Schneenebel versank, gingen Paskuleit und Opa Jochen durch das Schiff, um zu sehen, was von Adamsverdruß gerettet worden war. Zuerst sahen sie Oberfeldrichter Dr. Bollow. Er saß in der Kapitänskajüte und rauchte gemütlich eine Zigarre.»Er wird durchkommen«, sagte Kurowski in einem Ton, der bei Paskuleit ein Kribbeln unter der Kopfhaut erzeugte.»Wir werden ihn einmal in die Finger kriegen. Mein Jungchen hat er aufgehängt! Wo wären wir jetzt ohne den Oberleutnant?«

In der Masse der Flüchtlinge trafen sie Julia Rambsen wieder, die junge Gutsherrin mit ihrem Säugling.»Nun ist Ihr Trakehnerhengst >Goldener Sommer< auch hin«, sagte Paskuleit.»Ihr einziges Kapital.«

Julia Rambsen lächelte still.»Er steht unten in einem Ladebunker. Er fährt mit.«

«Wie haben Sie das denn fertiggekriegt?«

«Einer der Offiziere ist Turnierreiter. Welch ein Glück. «Ihr Lächeln war wie eine Sonne, die den eisigen Nachmittag aufwärmte.

Auch Pfarrer Heydicke war auf dem Schiff, und in einer Ecke saß sogar Felix Baum, der Ortsgruppenleiter. Er grinste, als Kurowski und Paskuleit sprachlos vor ihm stehenblieben, und zeigte auf sein rechtes Bein. Es war geschient und dick umwickelt.

«Wann ist'n das passiert?«fragte Opa Jochen.

«Gar nicht. Ich hab's nur verbunden. Verwundete dürfen mit.«

«Du verfluchtes Aas!«sagte Paskuleit leise.»Wenn das 'rauskommt!«

«Ich wollte bei euch bleiben! Verdammt, wir können uns mal gegenseitig notwendig haben. Der Frieden wird furchtbar sein, verlaßt euch drauf. Und wenn ich auch nichts habe, — 'ne große Fresse habe ich!«

«Da hat er recht«, sagte Opa Jochen überwältigt,»'ne große Fresse hat in Deutschland noch immer 'was genützt! Halt dich gut, Felix…«

Langsam, schwer im Wasser liegend, mit stampfenden Maschinen rollten die drei Schiffe durch die Ostsee. Sie fuhren in Küstennähe, um die Halbinsel Heia herum, manchmal so nahe, daß man bei klarem Wetter Feuerschein vom Land sehen konnte und der Wind dumpfes Grollen herübertrug. Die Russen waren schnell, — sie rollten Deutschland auf wie eine Konservendose. Ihre Panzerdivisionen waren die Büchsenöffner.

Bei Stolpmünde stießen zwei Küstenwachboote zu ihnen, hinter Rügenwalde gliederte sich ein Minensuchboot ein. wie ein Geleitzug dampfte die kleine Kolonne durch die eisige See in die Freiheit.

Pfarrer Heydicke betete jeden Tag in einer Art Bordgottesdienst.»Gott, laß uns durchkommen. Mach die U-Boote blind. Leg Nebel zwischen die Russen und uns. Mein Gott, schütze uns. «Gebete, die man nie vergessen sollte.

Sie fuhren vierzehn Tage durch die Ostsee, ohne daß sie ein feindliches Schiff sahen. Dreimal überflogen sowjetische Kampfflugzeuge den Schiffszug, aber sie griffen nicht an. Sie kamen vom Festland und hatten anscheinend alle Munition verschossen.

Ununterbrochen tickte in der Funkkabine der Telegraf. Von den großen Häfen, die man anlaufen wollte, um die Flüchtlinge auszuladen, flogen böse Meldungen heran. Kolberg fiel aus… der Russe näherte sich. Stettin konnte man nicht anlaufen, hier stauten sich andere Schiffe und machten sich Kriegsschiffe zum Landkampfbereit. Greifswald bot keine Chance, aber Stralsund war bereit, die Schiffe zu entladen. Auf den Gleisen des Güterbahnhofs standen Hunderte von Waggons.

«Bis Stralsund kommt kein Russe!«sagte Opa Jochen, als die Nachricht durch das Schiff lief.»Da sind die Engländer schneller, ich sag dir's.«

Nach drei Wochen Angst und Beten erreichten sie Stralsund. Es war ein heller, kalter, sonniger Tag, als die Schiffe mit brüllenden

Sirenen die Stadt und die Rettung begrüßten. Erna Kurowski stand mit ihren Kindern an der Reling und blickte hinüber zu dem Land, das auch Deutschland war, aber so ganz anders als Ostpreußen, so fern und fremd, wie es etwa Afrika oder Amerika für sie gewesen war, wenn man in Adamsverdruß über es sprach.

«Ich habe Angst, Julius«, sagte sie zu ihrem Schwager Paskuleit.»Wir kommen über diese Menschen wie Heuschrecken, und so werden sie uns auch behandeln.«

«Nicht einen Schuster!«Paskuleit klopfte mit breitem Grinsen an seinen Rucksack mit den Werkzeugen.»Eine Sohle unterm Fuß hat noch immer einen Mann ernährt. Erna, — wie ist unser Wahlspruch?«

«Wir lassen uns nicht unterkriegen!«sagten Erna und die Kinder im Chor. Es war ein guter Spruch… aber die Angst von drinnen im Herzen blieb trotzdem.

Am Mittag wurden sie ausgeladen. Zweitausenddreihundertneunundvierzig Frauen und Kinder, Greise und Verwundete. Und siebzig Soldaten und Offiziere als Begleitkommando, unter ihnen Oberfeldrichter Dr. Bollow. Als er an Land ging, knallten die Hacken der Soldaten am Fallreep. Dr. Bollow hob stolz den Kopf und blickte sich um. In seinen Augen lag der Endsieg.

Das Auffanglager war eine große Fabrik. In den Werkhallen lagerten die Flüchtlinge auf Stroh, Rote-Kreuz-Helfer verteilten Decken und heiße Suppe aus Bohnen und wäßriger Bouillon, Malzkaffee und Brote mit einem nach Leberwurst schmeckenden Kunstaufstrich. Die Grundlage war Mehl und Grieß. In vier Schreibstuben wurden alle namentlich erfaßt und nach Verwandten im Westen gefragt. Als Erna Kurowski ihre Schwägerin in Krefeld angab, winkte man ab. Krefeld war kein Ziel mehr… wer aus der Hölle kommt, den schickt man nicht in neue Trümmerhaufen. Aber wo war Deutschland noch heil? In der Lüneburger Heide, im Sauerland, im Bayerischen Wald, in der Holsteinischen Schweiz, im Münsterland, im Frankenwald? Noch war man so höflich, zu fragen: Wo wollen Sie hin? Noch konn-te man mit Zügen fahren, auch wenn Tausende von britischen und amerikanischen Bombern die Luft über Deutschland beherrschten und ab und zu auch die langen Züge angriffen. Noch war Deutschland ein Schwamm, der sich nicht vollgesogen hatte und die Menschen aus dem deutschen Osten aufnehmen konnte.

Paskuleit und Pfarrer Heydicke wurden beim Leiter des Auffanglagers, einem Gauleiter in babyschißfarbener Uniform, vorstellig.»Wir bitten darum, daß das Dorf Adamsverdruß — oder was noch davon übrig ist — zusammenbleibt«, sagte Paskuleit.»Es sind nicht mehr viel. Vierzehn Familien nur. Ist das möglich?«Und einer Eingebung folgend, fügte er hinzu (er hatte so etwas einmal von Felix Baum gehört):»Es ist der Wille des Führers, daß Dorfgemeinschaften als Grundzelle des Staates zusammenbleiben.«