Heydicke schielte zu Paskuleit und verbiß ein Lachen, als er dessen ernstes Gesicht sah. Der Gauamtsleiter war beeindruckt über soviel Nationalismus.»Lübeck ist frei«, sagte er.»Im Lager Lübeck könnte Adamsverdruß — welch ein Name! — noch unterkommen. Vierzehn Familien, das geht. Wollen Sie nach Lübeck?!«
«Das war immer mein Wunsch. «Paskuleit sagte es fast feierlich.»Lübeck ist gut. Dort halten wir aus, bis der Endsieg uns die ostpreußische Heimat wiederbringt und wir die Russen hinter den Ural zurückjagen!«
«Heil Hitler!«rief der Gauamtsleiter.
Nach zehn Minuten hatte Pfarrer Heydicke als Chef der Adams-verdrusser den Marsch- und Einweisungsbefehl nach Lübeck in der Tasche.»Sie sind ein verdammter Hund, Paskuleit«, sagte er draußen.
«Und Sie haben als Pfarrer eben verdammt gesagt, Herr Pfarrer!«Paskuleit lächelte.»Wir sind jetzt ein Wolfsrudel und müssen heulen wie die Wölfe! Sie sehen, Herr Pfarrer, — das versteht man!«
Nach fünf Tagen rollten die vierzehn Familien von Adamsverdruß mit drei Waggons weiter nach Nordwesten, nach Lübeck. Im letzten Waggon, zwischen Heu- und Strohhaufen, betreut von Franz Busko, stand der Trakehnerhengst >Goldener Sommer<. Für das Heu hatte Opa Jochen seine wertvollste Habe eingetauscht: Die goldene Uhr der Kurowskis, seit 1813 in Familienbesitz. Der Bauer Hermann Poltin hatte sie angenommen.
«Das vergesse ich Ihnen nie«, sagte Julia Rambsen mit Tränen in den Augen. Opa Jochen winkte ab.»Ich hol se mir wieder. Ich kenn ja den Namen. Vergessen Sie nicht: Wir Kurowskis sind unausrottbar wie die Wanzen.«
Von Stralsund bis Lübeck fuhr der Güterzug zwei Tage und zwei Nächte. Das heißt, — am Tage versteckte er sich irgendwo auf der Strecke und fuhr nur des Nachts. Was keiner in den drei letzten Waggons wußte: Vorne, in zwölfWagen, wurden Granaten transportiert. Hätte Opa Jochen das geahnt, wäre er nicht so fröhlich gewesen wie auf dieser Fahrt durch ein noch erstaunlich stilles, vom Kriege kaum berührtes Land. Zwei Tage und zwei Nächte lang war es, als lebe man auf einem anderen Stern, der >Frieden< hieß —
Lübeck war ein einziges Heerlager.
Die Stadt, obgleich auch stark durch Bombenangriffe beschädigt, war vollgestopft von Menschen. Verschiedene Flüchtlingszüge waren bereits aufgenommen worden, und als die vierzehn Familien aus Adamsverdruß mit ihrem Hengst >Goldener Sommer< im Lager V erschienen, rauften sich die Männer der Lagerleitung die Haare.
«Was heißt hier Einweisung und Marschbefehl?«schrie ein dicker Mann, der anscheinend viel zu sagen hatte.»Der Gauheini in Stralsund kann gut solche blöden Zettel ausschreiben! Wohin mit Ihnen, das frage ich?! Wir sind so voll, daß sich schon das Dach hebt! Und dann auch noch'n Pferd dabei!«
«Ein Trakehnerhengst. >Goldener Sommer<!«sagte Opa Jochen.
«Leckt mich im Arsch mit eurem Hengst! Und >Goldener Som-mer<? Jawoll, das wird noch'n goldener Sommer! Ihr werdet das Vieh auffressen!«
«Nie!«sagte Paskuleit laut.
«Wetten?«Der dicke Mann hieb auf den Tisch.»Pro Woche gibt's fünfzig Gramm Fett und 100 Gramm Wurst… wenn se da ist! Und ihr führt ein paar Zentner bestes Fleisch spazieren! Ihr Vollidioten! Gut, ihr seid im Lager! Aber ich habe keine Betten, keine Decken, keine Ecke, wo ihr liegen könnt, — nur scheißen könnt ihr im Gemeinschaftslokus und euch waschen in der Waschbaracke! Sieg Heil!«
«Nicht aufgeben!«sagte Paskuleit draußen. Die vierzehn Familien und >Goldener Sommer< standen vor der Lagerleiterbaracke.»Wichtig ist: Wir sind erfaßt. Wir haben eine Nummer, wir sind im Westen, wir sind eingegliedert. Wir gehören jetzt dazu! Man kann uns nicht mehr weiterjagen. Lübeck ist ein Ort wie jeder Ort auf der Karte — wir werden hier leben! Los, Leute, Quartier suchen! Wir zeigen denen mal, was da aus Adamsverdruß gekommen ist!«
Und sie zeigten es! >Goldener Sommer< wurde in einer Remise neben der Lagerküche untergebracht.»Jungs, wenn ihr ihn abstecht, zerhacke ich euch!«sagte Opa Jochen ernst.»Ich gucke jede Stunde nach ihm!«Dann verteilten sich die Adamsverdrusser über alle Baracken, und Paskuleit und Busko begannen, schon am ersten Tag Schuhe zu reparieren, und besohlten sie mit zerschnittenen Autoreifen. Dafür bekamen sie einen Platz zum Schlafen. die anderen rückten eben zusammen.
Der Anfang einer neuen Schuhmacherwerkstatt war gemacht. Nach zehn Tagen kannte jeder im Lager den Julius Paskuleit. Es war erstaunlich, wieviel heimliche Lebensmittel kursierten und bei Paskuleit, dem Schuster, hängenblieben. Es gab im Lager Genies, die spazierengingen und mit vollen Taschen zurückkamen.»Von denen werde ich lernen«, sagte Opa Jochen.»Jungchen, ich gehe für mein Leben gern spazieren — «Aber die Organisationsgenies ließen den alten Kurowski nicht in ihre Reihen. Sie hängten ihn mit allen Tricks ab.
«Die kennen mich noch nicht«, sagte Opa Jochen knirschend.»Ich muß hier erst mal warm werden. Bei einem Kurowski dauert das nicht lange.«
Plötzlich waren die Engländer da.
Sie rückten in Lübeck ein ohne großen Lärm, besetzten die Stadt, übernahmen nominell das Lager, ließen die alte Lagerleitung bestehen und pflanzten nur einen jungen Captain in die Kommandanturbaracke, der deutsch sprach, sehr freundlich war und bei seinem Antritt eine Rede vor allen Flüchtlingen hielt.
«Meine Eltern wurden in Auschwitz vergast«, sagte er.»Aber ich weiß, - ihr armen Schweine könnt nichts dafür. Wenn ihr Sorgen habt, — kommt ruhig zu mir.«
Für Lübeck, das Flüchtlingslager und die Leute aus Adamsverdruß war der Krieg zu Ende. Sie hatten ihn überlebt.
«Jetzt geht es los«, sagte Paskuleit an einem Morgen zu der Familie Kurowski.»Jetzt beginnt der Kampf um ein Plätzchen an der Sonne — «
Kapitel 7
Der erste Versuch, aus dem Lagerleben auszubrechen, mißlang.»Ich schreibe nach Krefeld«, sagte Erna Kurowski, als die Familie die naheliegendsten Möglichkeiten durchgesprochen hatte.»Tante Elfriede bewohnt dort ein großes Haus, — sie kann uns alle aufnehmen. Wenigstens die erste Zeit.«
«Zwei Monate höchstens. «Paskuleit klatschte in die Hände.»Wir suchen uns einen Schuppen, bauen ihn aus und machen eine Werkstatt auf. Es hat noch nie eine Zeit gegeben, in der man einen Handwerker nicht brauchte. Also auf nach Krefeld.«
Nach einer Woche traf ein Brief von Tante Elfriede ein. Die Sache war hoffnungslos.
«Ihr wißt doch«, schrieb die Tante,»daß Onkel Adolf einen hohen Posten in der Partei hatte. Nun haben ihn die Sieger verhaftet und in ein Lager nach Darmstadt gebracht. Unser Haus, das noch gut erhalten war, haben sie auch beschlagnahmt. ich lebe jetzt bei meiner Freundin Monika auf einem Zimmer und warte und bete, daß Onkel Adolf wieder nach Hause kommt. Ihr wißt doch, — Adolf war immer ein guter Mensch, er war nur fehlgeleitet, er ließ sich immer so schnell begeistern… das hat er nun davon. Ich weine Tag und Nacht.«
«Essig!«sagte Opa Jochen.»Das kann lange dauern, bis der Adolf Hammes aus dem Lager zurückkommt. Braune Uniform und dann noch mit Vornamen Adolf. das kann eine Ewigkeit dauern. So lange warten wir nicht. Streichen wir Krefeld. Ehrlich, — wir hätten auch nicht in die stinkfeine Villa gepaßt. Also sehen wir uns hier um. Lübeck ist 'ne schöne Stadt, und die Ostsee ist die gleiche See wie an der Nehrung. Direkt heimatlich ist das.«
Der dicke Lagerleiter von Lager V war der einzige, der Schwierigkeiten machte. Warum er ausgerechnet die Familie Kurowski unter Beschuß nahm, wußte nur Opa Jochen, aber der verriet es nicht. Es war nämlich am vierten Tag nach ihrer Ankunft in Lübeck, als der Dicke bei Julia Rambsen in der Remise erschien und zuschaute, wie sie ihren Hengst >Goldener Sommer< fütterte.