«Halt!«sagte Baum.»Hier muß es sein. Hinter dem Hügel in der
Senke beginnt der Stacheldraht. Mann o Mann, wie wollen Sie da zurück, Herr Pfarrer? Leer geht das, — aber vollgeladen? 'n Achsenbruch fehlt uns noch!«
«Der Pfarrer wird beten«, sagte Opa Jochen und sprang aus dem Wagen.»Aber das versteht ein ehemaliger Ortsgruppenleiter ja nicht! Los, Jungchen — ran an die Bouletten!«
Wie Schatten glitten Paskuleit, Opa Jochen, Baum und Busko in das Hügelgelände und wurden nach wenigen Metern von der Nacht verschluckt. Es war eine gute Nacht, warm und dunkel, dunstig dazu, der Mond schwamm als armselige Sichel in einer trüben Brühe, die kein Licht durchließ. Lautlos zu sein, hatte man im Krieg gelernt, und so huschten die vier im Schutz von Büschen und Birken, Wacholder und Zwergkiefern bis zu der Senke, die durch einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun abgesperrt war. Hinter dem Draht, schwarzen Türmen und runden Hügeln gleich, türmten sich die Autoreifen. Soweit das Auge die Dunkelheit durchdringen konnte… Berge von Reifen. Ganz in der Ferne schimmerte ein mattes Licht: Die Wachbaracke. Die Scheinwerfer an den hohen Masten waren ausgeschaltet. Für die Engländer schien es ausgesprochen blödsinnig zu sein, alte Autoreifen zu bewachen. Aber Befehle müssen ausgeführt werden.
«Guck dir das an, Jungchen«, sagte Opa Jochen ergriffen.»Das ist an Schuhsohlen gar nicht mehr auszurechnen.«
«Fehlen uns nur Klebstoff und Nägel. «Paskuleit trat an den Zaun heran und betrachtete ihn mißtrauisch. Er hatte gehört, daß man auch durch Stacheldrahtzäune Starkstrom jagen kann.»Anspucken kann ich die Sohlen nicht.«
«Der Kerl hat immer was zu meckern!«Jochen Kurowski packte zu, ehe Paskuleit ihn daran hindern konnte. Er bog die beiden mittleren Drähte auseinander und winkte mit dem Kopf.»Los, rein.«
«Da haste aber Glück, daß die nicht unter Strom stehen«, sagte Paskuleit und atmete pfeifend aus.
«Ihr müßt mich alle für blöd halten, was?«knurrte Opa Jochen.»Das habe ich gestern doch längst mit 'nem Stück Holz festgestellt.
Los, rein.«
Sie kletterten in das Lager, ließen sich sofort auf den Boden fallen und warteten. Es konnte sein, daß jetzt in der Wachbaracke durch irgendeinen Impuls eine Alarmglocke anschlug. Aber alles blieb still. Es war genau zwei Uhr morgens, die Zeit, in der die britischen Posten bis auf einen ausgelosten Wachhabenden schliefen. Bis zu dem ersten Stapel Reifen waren es nur sechs Meter.
Paskuleit fuhr mit beiden Handflächen über die Profile.
«Mann, das sind ja ganz neue«, flüsterte er.»Das werden keine Schuhsohlen. dafür bekommen wir Butter, Speck, Eier, Fleisch!«
«Und der Lagerkirche stiften wir vier Reifen«, sagte Opa Jochen ergriffen.»Jungchen, von Adamsverdruß bis hier. haben wir ein Glück gehabt.«
«Nun heul nicht gleich. «Paskuleit klopfte Kurowski auf den Rük-ken.»Schnapp dir zwei, Opa. und ab damit.«
Sie arbeiteten von zwei bis halb fünf Uhr. Zweieinhalb Stunden schleppten sie Reifen nach Reifen weg, der Schweiß lief ihnen in die Schuhe, die Lungen schienen zu platzen, schließlich schwankten sie nur noch herum, als seien es keine Gummireifen, sondern Bleiräder, die sie an ihren Armen hängen hatten.
Pfarrer Heydicke lud sie hinten auf den Wagen. Um halb fünf nahm er Opa Jochen aus der Kolonne. Der Alte keuchte wie ein alter Dampfkessel und benahm sich wie ein Betrunkener.
«Schluß!«sagte Heydicke scharf.»Sie bleiben hier!«
«Ich laß mich von dem Paskuleit nicht unterkriegen!«keuchte Kurowski und lehnte gegen die Autowand.»Bis jetzt stehen wir gleich.«
«Und bei der nächsten Tour fallen Sie um! Schluß sage ich!«
Und Opa Jochen fügte sich. Gegen einen Pfarrer kam er nicht an.
Um fünf Uhr war die Aktion zu Ende. Der Zaun war unbeschädigt, im trüben Morgenlicht sah man gar nicht, wo die Reifen fehlten, denn Paskuleit hatte angeordnet, sie von verschiedenen Stapeln wegzunehmen.
«Wieviel, Herr Pfarrer?«fragte er und saß müde und schweratmend, von Schweiß überflossen, auf dem Trittbrett.
«Genau neunundsechzig. Alles neue Reifen!«
«Weniger vier für die Kirche, bleiben fünfundsechzig«, sagte Opa Jochen zufrieden.»Damit läßt sich ein Leben aufbauen! Leute, hier tanken wir jede Woche wenigstens einmal nach — «
Die Rückfahrt gelang ohne Kontrollen. In der Scheune eines Bauernhofes zwischen Bad Schwartau und Lübeck — der Bauer erhielt dafür eine komplette Bereifung seines klapprigen DKW — wurde die Beute abgeladen, noch einmal gezählt, und Opa Jochen sagte zu dem Bauern:»Jungchen, wenn ein Reifen fehlt, geht's dir wie dem Bullen, der zum Ochsen wurde. Verstanden?!«
Um acht Uhr fuhren sie wieder ins Lager ein; Pfarrer Heydicke lieferte den Lastwagen ab.
«Ich will nicht fragen«, sagte der Lagerkommandant,»aber ganz privat interessiert es mich: Wo waren Sie mit meinem Wagen?«
«Ich habe eine neue Altardecke geholt und zwei Kerzenleuchter.«
«Mit einem Lastwagen?«
«Gott zu dienen, ist Schwerarbeit, Captain«, sagte Heydicke.»Vergessen Sie nicht. wir fangen ja im Jahre Null wieder an — «
Die Familie Kurowski und Julia Rambsen mit ihrem Trakehnerhengst >Goldener Sommer< verließen das Flüchtlingslager. Auf einmal — die anderen wußten es nicht zu erklären — lief alles wie am Schnürchen, so als hingen alle Kurowskis wie Marionetten in den Händen eines großen Puppenspielers. Am Rande Lübecks, wo es schon ländlich wurde, bekamen sie eine hölzerne Wohnlaube zur Miete mit dem Recht, sie auszubauen. Das kostete sechs Reifen. Bauholz, Nägel, alte, abgeklopfte Ziegelsteine aus Trümmerschutt, Zement und durchgesiebter Trümmersand kosteten zehn Reifen. Zweimal einen Lastwagen leihen: Zwei Reifen! Dann hockte die ganze Familie Kurowski vierzehn Tage lang um einen Berg Steine, klopfte den Mörtel ab und stapelte sie. Der jetzt elfjährige Ludwig und der fünfjährige Peter hämmerten mit, Erna Kurowski mischte von Hand die Mörtelspeise und den Beton, Opa Jochen, Paskuleit, Felix Baum und Busko mauer-ten die Laube aus und bauten drei Zimmer und eine Werkstatt an. So etwas wie Bauamt, Bauplätze und statische Berechnungen, Baufluchtlinien und Vorschriften, wie die Fenster sein sollten, gab es noch nicht. Wohl begann das deutsche Beamtentum wieder anzulaufen, aber noch waren es Männer, denen der Krieg frisch in den Knochen steckte und die in den anderen Bürgern Kameraden sahen. O selige Zeit! Das sollte sich bald ändern. Nichts wächst auch nach einer totalen Vernichtung schneller nach als die Bürokratie! Auch in den Trümmern blühten als erstes die Disteln.
Ab und zu tauchte Pfarrer Heydicke auf, half dann am Bau mit und kassierte immer einen Reifen.»Ein schamloser Mensch!«knurrte Opa Jochen.»Früher tat man 'nen Groschen in'n Klingelbeutel, heute 'nen Autoreifen!«
Das größte Geschäft machte Paskuleit mit zwanzig Reifen… er tauschte dagegen einen alten Opel P 4. Gleichzeitig mit der Zulassung meldete er sein Gewerbe an und kam zurückgefahren mit einem Blumenstrauß auf dem Kühler.»Die Firma >Schuhbesohlerei Ewald Kurowski ist gegründet!«schrie er noch vor dem Bremsen aus dem Fenster. Und dann, leiser, indem er die weinende Erna umarmte:»Wir nennen den Betrieb nach Ewald, Erna. So ist er immer bei uns. Verdammt, wir wollen nie daran zweifeln, daß er zurückkommt.«
Als erstes stand die Werkstatt. Erna und Jochen zogen los und organisierten einen großen Ringtausch, dessen Basis die Reifen waren. So bekamen sie Nägel, Gummikleber, Heftzwirn, Pechdraht, Stifte, Zwecken, Stoßplatten, Ösen, eine alte Aufdoppelmaschine und eine verrostete Steppmaschine, die Franz Busko reparierte, Pas-kuleit schnitzte aus Pappelholz Leisten, und jetzt zeigte sich, daß das Wichtigste, das sie aus Adamsverdruß gerettet hatten, im Treck quer durch Ostpreußen, über die Nehrung und die Ostsee der Rucksack mit den Schusterwerkzeugen war.