Der erste Kunde war ein ausgebombter Bonbonfabrikant.»Den halten wir uns warm«, sagte Opa Jochen, nachdem Paskuleit vier Paar Schuhe besohlt hatte.»Wenn der wieder seine Bonbons zu kochen beginnt, lutschen wir uns in die Höhe!«Es war ein wertvoller Gedanke -
Ende September stand der >Neubau<. Stolz führte Erna Kurowski Pfarrer Heydicke durch die ausgebaute Laube und in die Werkstatt, wo Paskuleit und Busko jeden Tag vierzehn Stunden auf ihren Schemeln hockten und Schuhe reparierten. Teils für Geld, zum großen Teil aber gegen Sachwerte, die Baum und Opa Jochen über Land gegen andere wichtige Dinge eintauschten. >Goldener Sommer< hatte einen schönen Stall und trabte seit vier Wochen wieder als Reitpferd um eine provisorische Bahn. Er ernährte Julia Rambsen und ihr Kind, für die Paskuleit ein Zimmer an die Laube gebaut hatte.
«Ihr seid eine phantastische Familie«, sagte Pfarrer Heydicke, nachdem er alles besichtigt hatte.»Ihr zieht euch an den eigenen Haaren aus dem Dreck.«
«So ist's. «Paskuleit legte die schmutzigen Hände auf die Knie.»Wir sagen es jeden Tag im Chor, Herr Pfarrer: >Wir lassen uns nicht unterkriegen! <«
«Das ist das schönste Gebet; das stimmt, Paskuleit! Ich brauche noch einen Reifen.«
Seufzend verschwand Opa Jochen im >Lagerraum<.
Auch fünfundsechzig Reifen sind schnell verbraucht, wenn man mit ihnen eine Existenz aufbaut. Als Werkstatt und Wohnung standen und der P 4 als >Maggelwagen< herumklapperte, die ersten Kunden kamen und die >Schuhbesohlerei Ewald Kurowski< als anerkannter notwendiger Betrieb Bezugsscheine für Leder und anderes Material erhielt, lagen im >Lager< nur noch vier Reifen. Ein erbärmlicher Anblick.
«Das geht nicht«, sagte Opa Jochen.»Julius, morgen nacht tanken wir auf!«
Felix Baum wurde mit seinem Fahrrad losgeschickt und meldete am Abend: Das Lager ist noch da! Voll wie bisher. Die Engländer stehen herum und wissen nicht, wohin damit. Es ist wie bei den deutschen Beamten: Es liegt keine Verwendungsverfügung vor, also bleiben die Reifen liegen. Dabei würden sie überall in Deutschland dringend gebraucht.
«Auch ein P 4 kann schleppen!«sagte Opa Jochen.»Von jetzt ab pendeln wir jede Nacht hin und her. Franz und ich! Wenn man uns schnappt, ist das halb so schlimm. Ich bin ein alter Mann, und Franz ist ein lungenkranker Idiot! Ihr anderen werdet noch gebraucht!«
Busko lächelte breit, er nahm Kurowski das nicht übel. Jeder wußte, wie's gemeint war. Denn weder war Busko ein Idiot, noch war er mehr lungenkrank. Nach Kriegsende hatte er eine wundersame Heilung durchgemacht, nahm an Gewicht zu und wurde ein breiter, großer, verdammt kräftiger Mann.»So ein Kerl«, sagte Baum einmal.»Der hat die Wehrmacht glatt beschissen!«
Von nun an zockelte der Opel P 4 jede Nacht zwischen den Hügeln bei Malkendorf und der Werkstatt am Rande Lübecks hin und her. Man konnte nur jeweils zehn Reifen transportieren, sonst brach die Achse des Wagens, aber Nacht für Nacht zehn Reifen, das summierte sich. Das Lager füllte sich, drei Transportunternehmer und zwei Baufirmen wurden nicht Schuhkunden, sondern Reifenabnehmer, und in dieser Zeit fragte niemand, wo die Dinger herkamen, man tauschte sie ein und war eine große Familie, die sich gegenseitig alle Hände wäscht.
Bis heute weiß man nicht, wie's gekommen ist, ob die Engländer langsam doch merkten, daß die Reifenstapel niedriger wurden, oder ob man Opa Jochen und Franz Busko durch Zufall beobachtete… am 21. Oktober 1945, morgens gegen vier Uhr neunzehn (die Zeit stand später peinlich genau im Bericht) tauchte plötzlich zwischen den riesigen Reifenbergen eine britische Streife von vier Mann auf, legte die MPis an und brüllte:»Stop! Hands up!«
Opa Jochen verstand dieses Englisch sofort, blieb stehen, einen schönen, neuen Reifen zwischen den Beinen, und hob die Arme hoch in den Himmel. Franz Busko versuchte, mit einem verzweifelten Sprung hinter dem nächsten Stapel in Deckung zu gehen. Aber er sprang eine Sekunde zu spät… ein Feuerstoß erreichte ihn, aber nur eine Kugel traf. Doch sie genügte. Sie durchschlug seinen Oberschenkel und warf ihn mitten hinein in die Reifen. Der Stapel brach zusammen und begrub ihn.
«So ein Rindvieh!«brüllte Jochen Kurowski.»Da sieht man wieder, daß er nie gedient hat!«Er blieb mit hocherhobenen Händen stehen und ließ sich dann von den Engländern abführen. Busko wurde hinterhergetragen, er war ohnmächtig, aber er lebte.
In dieser Nacht war Felix Baum mitgefahren und wartete in den Hügeln am P 4. Und wieder hatte die Familie Kurowski Glück. als die Schüsse krachten, sprang Baum hinter das Steuer und hoppelte davon. Wohl schoß man hinter ihm her, aber im schwimmenden Morgenlicht gingen alle Schüsse weit daneben. Er erreichte die Straße und verschwand in Richtung Lübeck.
«Jetzt müssen wir Opa heraushauen«, sagte Paskuleit drei Stunden später. Auch Pfarrer Heydicke war gekommen — Baum hatte ihn gleich aus dem Lager mitgebracht.»Herr Pfarrer, Sie sind jetzt der einzige, der zu ihm kann.«
«Ich werde noch heute mit ihm sprechen«, sagte Heydicke.»Aber es ist eine verdammte Situation: Jetzt habt ihr Kleinen die großen Sieger gegen euch — «
Kapitel 9
Die Situation war wirklich sehr gefährlich, wenn man sie von Opa Jochen aus betrachtete. Pfarrer Heydicke, der ihn ganz kurz sprechen durfte, berichtete, daß britische Gerichtsoffiziere ihn Tag und Nacht verhörten und an eine organisierte Sabotageaktion des nationalistischen >Wehrwolfes< glaubten. Joachim Kurowski begeg-nete diesem gefährlichen Verdacht, nach dessen Beweis die Todesstrafe fällig war, mit einer schauspielerischen Glanzleistung: Er ver-lor sein Gedächtnis. Da man keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden hatte, ebensowenig wie bei Franz Busko, erinnerte er sich plötzlich nicht mehr seines Namens, stierte dümmlich in die Gegend, grinste die englischen Offiziere an und sagte nach fünf Tagen:»Schentlemänner, ich bin ein Findelkind. Wenn ihr herausbekommt, wer ich bin, würd mich das sehr freuen — «
Franz Busko schwieg ebenfalls. Bei ihm hatte der harmlose Fleischschuß in den Oberschenkel ebenfalls eine Blutleere im Hirn erzeugt. Wenn ihn jemand ansprach oder gar verhörte, zuckte er so nervös mit den Augen, daß die britischen Offiziere schnell wieder aus dem Krankenzimmer gingen.
«Trotzdem müssen wir Opa und Franz herauspauken!«sagte Pas-kuleit nach zwei Wochen.»Die kriegen es fertig und hängen dem Opa alles an, was noch unaufgeklärt ist.«
«Und unsere vierundneunzig Reifen sind hops!«sagte Felix Baum.»Das mit dem >Wehrwolf< — das müssen sie erst beweisen.«
Schon im Dezember fand die Gerichtsverhandlung statt… eine harmlose Verhandlung vor einem britischen Militärgericht wegen Plünderung von Beuteware. Busko humpelte in das Zimmer, Opa Jochen saß starr und schweigsam in einem alten Korbsessel. Der einzige Deutsche, der der Verhandlung zuschauen durfte, war Pfarrer Heydicke. Von ihm wußte man später, was geschehen war.
Die Verhandlung war kurz. Ein paar Fragen, ebenso wenig Antworten. Man bemühte sich nicht mehr, die Namen der beiden Angeklagten festzustellen; in den Trümmerbergen Deutschlands liefen so viele Menschen ohne Namen herum, daß es auf zwei gar nicht mehr ankam. Es war auch nicht wichtig — man steckte ja keine Namen in die Zellen, sondern Körper. Und so verurteilte das britische Militärgericht die Körper eines vielleicht siebzig Jahre alten Mannes und eines ungefähr Ende der Zwanzig stehenden Mannes zu einem Jahr Gefängnis wegen Diebstahls. Opa Jochen nahm das Urteil schweigend an; Franz Busko sagte:»Und wie verrechnen wir meinen zerschossenen Hintern?!«Er zeigte damit zum erstenmal eine Begabung zum Ausgleich, die ihn auf seinem weiteren Lebensweg begleiten sollte.
Kurowski und Busko bezogen eine Zelle im Lübecker Gefängnis. Eine große Gemeinschaftszelle, in der bereits vierzehn Verurteilte hockten und die Neuen mit Hallo und Gesang begrüßten. Damals hinter Gittern zu sitzen, schien eine Auszeichnung zu sein, wie Monate vorher das Eiserne Kreuz. Es stellte sich heraus, daß alle vierzehn Mitinsassen wegen fast gleicher Delikte bestraft worden waren und jeden Neuzugang als Vergrößerung einer Familie ansahen.