Der Krieg war vorbei, aber der Frieden war fürchterlich. Von Tag zu Tag wurde das Geld wertloser. man saß da, die Hände voller Reichsmark, und kaute an seinen hundert Gramm Maisbrot herum, das entweder im Mund staubte oder glitschig an den Zähnen klebte. In diesem Sommer 1947 sagte Julius Paskuleit zu Erna Kurowski:»Man hat uns Schustern immer die Pechärsche genannt! Jetzt sieh dir an, wo die Studierten sind! Die kloppen Steine an der Straße. aber bei uns geht's auseinander wie'n Hefekloß. Erna… noch ein Jahr, und wir können uns ein ganzes Haus kaufen!«
Die >Schuhbesohlerei Ewald Kurowski< am Rande von Lübeck war ein gesundes Unternehmen geworden. Jetzt arbeiteten schon zwei andere Gesellen in der vergrößerten Werkstatt, Paskuleit konnte es sich leisten, einmal im Monat beim Wirtschaftsamt zu erscheinen, Bezugsscheine für Leder, Nägel, Gummi, Beschläge und Zwirn zu fordern und die verschreckten, sich wieder in Akten einwühlenden Beamten anzubrüllen:»Was heißt hier einschränken? Ich weiß, daß ihr eure Bezugsscheine bebrütet! Himmel und Arsch, bei der nächsten Wahl werde ich Innungsmeister… wißt ihr, was das bedeutet? Ein Paskuleit Innungsmeister? Ihr wißt es nicht. Ihr habt noch keinen ostpreußischen Herbststurm mitgemacht — «
Ende August 1947 stellte Paskuleit eine Flasche Wein auf den Tisch und setzte sich Erna Kurowski, Ludwig, Peter, der kleinen Inge und
Franz Busko gegenüber. Er zog eine Zeitung heraus und schlug sie auf. Den Anzeigenteil.
«Bevor wir die Flasche aufmachen«, sagte er,»hört mal zu. Zwei Jahre lang haben wir keinen Kaffee getrunken, nur Pfefferminztee, selbst gepflückt und selbst getrocknet. Wir haben nicht geraucht und kaum Fett verbraucht. Du, Erna, hast alles Fett eingekocht, den Kaffee aufgehoben, die Zigaretten gesammelt. Wir haben geschuftet von morgens bis in die Nacht, und jeder von uns hat erst aufgehört, wenn er umgefallen ist. Wäre Opa noch bei uns, würde er jetzt brüllen: Das ist es! Andere verfressen ein Vermögen, wir machen eins. Liebe Familie, wir haben ein Vermögen. «Er zeigte auf die Zeitung und hob sie dann hoch, damit alle die rotumrandete Anzeige sehen konnten.»Hier stand vor drei Wochen das drin: >Ein ehemals gutgehendes, jetzt teilzerstörtes Schuhgeschäft in Leverkusen an Fachmann zu verkaufen. Preis Verhandlungssache.< Ich habe hingeschrieben, ohne euch zu fragen, ich habe verhandelt… ab 1. Oktober sind wir Besitzer eines Schuhgeschäftes mit Werkstatt in Leverkusen! Was sagt ihr nun?«
«Wenig. «Erna Kurowski starrte Paskuleit an. Sie schien noch gar nicht zu begreifen, was da gesagt worden war. Doch dann fragte sie:»Was kostet es?«
«Fünf Pfund Kaffee, zehn Pfund eingekochtes Fett, zweitausend Zigaretten und zehntausend Mark — «
«Unser ganzes Vermögen, Julius — «
«Alles!«Paskuleit ließ die Zeitung auf den Boden flattern.»Für ein Geschäft, Erna! Ein richtiges Geschäft mit großem Schaufenster und einem Laden und einer doppelt so großen Werkstatt dahinter wie hier. Und dann in Leverkusen.«
«Wo liegt Leverkusen, Julius?«
«Am Rhein, zwischen Köln und Düsseldorf. Das ist eine Ecke mit Zukunft, Erna. Da ist Industrie, da ist Bayer, da ist der Rhein, im Rücken das Ruhrgebiet. Ich habe es gewagt, Erna.«
«Unser ganzer Besitz! Und wenn es schiefgeht, Julius?«
Sie legte die Arme um ihre zusammengerückten Kinder.
«Wenn Ewald zurückkommt.«
«Er kann in Leverkusen ebenso leben wie in Lübeck. «Paskuleit nahm die Flasche und drehte den Korken heraus.»Erna, laß uns darauf anstoßen. Wir haben den Treck überlebt, wir haben uns aus dem Dreck gezogen… wir haben immer alles gewagt. Wie heißt es bei uns?«
«Wir lassen uns nicht unterkriegen!«riefen die Kinder. Paskuleit nickte.»Da — Erna — ruft unsere Zukunft! Für die klettern wir jetzt auf die Leiter. Verdammt, Franz.du sitzt herum wie ein Kalb. Was sagst du?«
Und Franz Busko sagte bedächtig:»Du bist der Meister! Ich kann auch in Leverkusen Zwecken in die Sohlen kloppen!«
«Dann ist's gut. «Paskuleit lachte, beugte sich über den Tisch und küßte Erna auf die Stirn.»Lach auch, Erna… wir rücken in Leverkusen an mit zweitausend Gummisohlen aus Opas Autoreifen. Mit dieser Armee erobere ich unsere Zukunft!«
Der unaufhaltsame Aufstieg der Kurowskis begann.
Kapitel 10
Das >teilzerstörte Schuhgeschäft< in bester Lage von Leverkusen erwies sich als ein Trümmerhaufen. Zwar stand das Haus noch, oder besser — man konnte an den Außenwänden erkennen, daß es ein schönes, stattliches Haus gewesen war… aber von einem Ladengeschäft zeugten nur noch die leeren Schaufensterhöhlen und der dahinter liegende, mit Schutt gefüllte, ziemlich große Raum. Was allein stimmte, war die >beste Lage<… nahe am ebenfalls zerstörten Bahnhof, mitten in dem, was man großzügig eine City nennen würde, eine Straße, durch die jeder gehen mußte, die Aorta Leverkusens gewissermaßen… aber jetzt nur ein geräumter Pfad zwischen
Ruinen und Schuttbergen.
Die Familie Kurowski stand sprachlos vor ihrem neuen Besitz, mit Koffern und Pappkartons neben sich auf dem Bürgersteig, Rucksäcken und einem Flechtkorb, den sich Franz Busko wie eine Kiepe auf den Rücken geschnallt hatte. Die zweitausend Gummisohlen, die Einrichtung der Schuhmacherwerkstatt, die alten Maschinen, der ganze in Lübeck angeschaffte Hausrat aus der schönen ausgebauten Laube rollte mit einem Güterwagen noch von Norden nach Südwesten. Auch hier hatten zwei Pfund Butter und ein Pfund Kaffee dafür gesorgt, daß der Waggon bevorzugt abgefertigt und an die nächsten Züge, die ins Rheinland fuhren, angekoppelt wurde.
«Ist det 'ne Scheiße!«sagte Busko und starrte auf das Ruinenfeld.»Habense det jewußt, Meester?«
«Ich hab's geahnt, Franz. «Paskuleit legte den Arm um Erna Kurowski.»Nun heul nicht los, Schwesterchen… in de Hände spucken, ist wichtiger. Dafür brauchste alle Feuchtigkeit, nicht zum Wegweinen. Was glaubste, was Opa jetzt sagen würde, wenn er noch bei uns wäre.«
«Du Idiot, würde er sagen!«Erna Kurowski lächelte unter Tränen.
«Und dann würde er brüllen: Ran an de Bäume, Maanchen! In drei Wochen kloppen wir de ersten Nägel in de Sohlen!«
«Von mir aus!«Franz Busko setzte sich auf einen der großen schweren Koffer, die sie vom Bahnhof bis vor ihr neues Haus geschleppt hatten. Der frühere Besitzer war noch nicht erschienen, obwohl er zum Empfang der Familie Kurowski zugegen sein wollte, hatte er geschrieben. Er schien zu ahnen, daß in diesen ersten Minuten in der neuen Heimat Julius Paskuleit die letzte Rate des Kaufvertrages mit der Faust bezahlt hätte. Erst eingewöhnen lassen, dachte er. Sie kommen aus dem Lager und aus einer Baracke. sie müssen sich erst an die städtischen Verhältnisse gewöhnen. Wenn sie die Kerle sind, als die sich Paskuleit ausgegeben hat, werden sie in ein paar Jahren hier eine Goldgrube haben.
In ein paar Jahren. mein Gott, um sie durchzustehen, mußte man ein Kreuz aus Beton haben!
«Dann wollen wir — «, sagte Paskuleit rauh und rieb die Hände.»Wir sind da, das Haus gehört uns, ich habe den Kaufvertrag in der Tasche — «er legte die rechte Hand auf seinen Rock, wo in der Innentasche das Dokument knisterte: Julius Paskuleit kauft das Haus Nordstraße 34 in Leverkusen mit allen Einrichtungen und Gegenständen, wie beschrieben —»die Sonne scheint, der Sommer ist die beste Zeit, um die Ärmel hochzukrempeln… also los!«