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Der junge Mann schwang sich wieder auf sein Motorrad, raste zum nächsten Haus, rief die Polizei an und kehrte zu dem Auto im Buschgelände zurück. Dort wartete er, bis ein Streifenwagen, der Notarztwagen und kurz darauf ein Leichenwagen eintrafen und Paskuleit einkreisten. Wie damals in Ostpreußen, als ihn der Bulle anfiel und zuviel Zeit verging, bis er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, was ihm sein Bein kostete, so war auch diesesmal Paskuleit zu spät entdeckt worden. Die Männer des Leichenwagens hoben ihn vom Sitz, legten ihn in einen engen Zinksarg und schoben ihn in den schwarzen Transporter. Der Notarzt fertigte einen provisorischen Bericht aus, in dem stand: >Todesursache unklar. Wahrscheinlich Herzversagen. Keine Anzeichen von äußerer Gewaltanwendung^ Aber der Zusatz >unklar< genügte, Paskuleits Leiche zu beschlagnahmen und nach Kaiserslautern in die gerichtsmedizinische Abteilung zu bringen. Von dort rief man in Leverkusen an. Franz Busko war am Telefon, er bereitete seinen Auszug aus der Familie Kurowski vor, hatte eine schöne Wohnung bekommen in einem Neubau und kandidierte für den Posten des Landrates. Er hatte einen vorzüglichen Kontakt zu den englischen Besatzungsbehörden, trank mit den Kon-trolloffizieren schottischen Whisky und Gin und galt — da er nie Soldat und Parteigenosse gewesen war — als einer der seltenen Deutschen, mit denen man einen neuen Staat aufbauen konnte. Er fand überall offene Türen, sagte seine von Paskuleit einstudierten liberalen und christlichen Parolen auf und wurde so etwas wie der >neue Geist< nach der finsteren braunen Schreckensherrschaft.

Busko verstand erst gar nicht, was der Beamte der Staatsanwaltschaft in Kaiserslautern sagte.»Herr Paskuleit?«fragte er zurück und stierte wie leergeblasen gegen die tapezierte Wand. Streublümchen auf rosa Grund. Erna mochte dieses Muster besonders gern, es erinnerte an die Küche in Adamsverdruß. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch.»Was ist mit Herrn Paskuleit? Tot? Sie sind wohl verrückt?! Unser Meester ist tot? Det jibt et doch jarnich. «Er fiel wieder in seinen alten Tonfall. das Entsetzen ließ die in den letzten Monaten eingedrillte hochdeutsche Sprache vergessen.»Sie machen keene Witze, wa? Von der Staatsanwaltschaft sind Se? Kaiserslautern? Mann, ick bin der zukünftige Landrat und Parteisekretär der. Ja, ick vastehe! Tot im Auto! Unser Meester? Danke.«

Er legte auf, setzte sich auf den Stuhl vor das Telefon und brauchte eine Zeit, bis er fähig war, klar zu denken. Zum erstenmal spürte er das Gefühl völliger Verlassenheit und eines nicht mehr zu unterdrückenden Schmerzes. Als sein Vater starb, an einer Lungenentzündung, war er zehn Jahre und hatte geheult. Als die Mutter starb, an einer Lungenembolie, war er siebzehn Jahre und hatte es mannhaft ertragen. Aber das hier schlug ihn nieder. Für Busko war Paskuleit einfach alles gewesen, Vater, Mutter, Meister, die Heimat, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft, es war ihm undenkbar geworden, ein Leben ohne Paskuleit zu führen. und da fährt der Meister weg nach Pirmasens zu seinem Freund Ellerkrug und stirbt allein, von allen verlassen, neben der Landstraße. Für Franz Busko war die Welt auseinandergerissen. Sie konnte zwar wieder geflickt werden, aber die Risse blieben für immer sichtbar. Es war von da an nur eine gekittete Welt.

Erna Kurowski und die Kinder begriffen den Tod Paskuleits ebensowenig wie Busko. Sie fuhren alle schon eine Stunde später mit dem Zug nach Pirmasens, nachdem sie an die Ladentür ein Schild gehängt hatten: ^Vorübergehend geschlossene

Hübner von der Konkurrenz entdeckte das Schild als erster und rief sofort Runzenmann an.»Alles Käse!«schrie Runzenmann vor Freude.»Sie sind pleite! Es mußte so kommen, ich hab es geahnt.

Dieser Paskuleit mit seinem Ehrlichkeitstick! Ich wette… nächste Woche erfahren wir vom Verband, daß er einen rauschenden Konkurs gebaut hat. Er wird froh sein, wenn wir ihm seinen Laden abkaufen!«

«Daran habe ich auch gedacht und sofort angerufen!«Hübner lachte fett.»Geht keiner an den Apparat.«

«Sag ich's nicht? Faul bis in die letzte Wurzel. Abwarten, Hübner… in einer Woche ist Paskuleit so reif, daß er jedes Angebot akzeptiert.«

In Pirmasens holte Heinrich Ellerkrug die Familie Kurowski vom Bahnhof ab und fuhr sie sofort nach Kaiserslautern in das gerichtsmedizinische Institut. Franz Busko, lang, dürr, in seinem schwarzen Anzug noch trauriger aussehend als Don Quichotte, hatte einen Koffer bei sich, ein uraltes Ding mit verrosteten Schlössern. Als er Ellerkrugs fragenden Blick sah, sagte er:

«Da is die Lederschürze vom Meester drin. Wenn ick mal sterbe, hat er jesagt, bindste mir die um, Franz, verstanden? Ick will in mee-ner Schürze bejraben werden. Ick war'n Schuster und als Schuster will ick vor meenen Herrgott treten. «Busko standen die Tränen in den Augen, er wischte sie mit dem Handrücken weg, aber das Zittern seiner Lippen konnte er nicht wegwischen.»Ich erfüll ihm den letzten Wunsch, det is doch klar.«

«Du mußt jetzt ganz tapfer und stark sein, Erna«, sagte Ellerkrug zu Erna Kurowski, als sie nach Kaiserslautern fuhren.»Jetzt hast du alles allein zu tragen… drei Kinder, die Werkstatt, das Geschäft und den Franz. Und der Ewald ist nun seit vier Jahren vermißt; wer in Gefangenschaft ist, hat längst geschrieben… Erna.«

Sie nickte und legte Ellerkrug die Hand auf den Arm. Eine kleine, aber harte, an Arbeit gewöhnte Hand.»Ich weiß, was du sagen willst, Heinrich«, sagte sie.»Es wird Zeit, daß wir uns das mit uns beiden überlegen.«

«Ich bin immer für dich da, Erna. Immer. Das weißt du. Jeden

Tag. du brauchst nur Ja zu sagen. Denk vor allem an die drei Kinder.«

«Und wenn Ewald doch noch wiederkommt?«

«Nach menschlichem Ermessen, Erna, ist das ausgeschlossen.«

«Aber wie klein ist dieses menschliche Ermessen, Heinrich… Bleib weiter unser Freund.«

«Und das Geschäft?«

«Ich schaffe das schon.«

«Die Werkstatt.«

«Ich werde einen Gesellen einstellen.«

«Die Kinder wachsen heran. Ludwig macht in zwei Jahren das Einjährige. Er wird weiter auf dem Gymnasium bleiben, er ist ein begabter Junge. Er wird studieren wollen. Was aus Peter und Inge wird, kann man noch nicht überblicken. Erna… das alles allein zu machen, ist unmöglich! Auch er wollte alles allein machen. nun liegt er da. Ich weiß, es ist jetzt der ungünstigste und dümmste Augenblick… aber, Erna… ich hab dich lieb, das sollst du wissen.«

«Ich weiß es, Heinrich. «Sie drückte seinen Arm und nickte ihm zu. In ihren Augen stand Dankbarkeit, aber es waren die Augen eines ratlosen, ausgesetzten Tieres.»Laß es mich versuchen. Wenn ich es nicht schaffe. ich rufe dich. Bestimmt. Du kennst unseren Spruch.«

«Ja. «Ellerkrug starrte auf das unter ihm wegfliegende Band der Straße.»Paskuleits verdammtes >Wir lassen uns nicht unterkriegen<. Es hat ihn untergekriegt. Erna, überleg es dir.«

In Kaiserslautern, im Keller des Instituts für Gerichtsmedizin, durften Erna Kurowski, Franz Busko und Heinrich Ellerkrug zum letztenmal Julius Paskuleit sehen. Man hatte ihn bereits obduziert, aber das sah man von außen nicht. Er trug wieder seinen Anzug, und der verdeckte die breiten Sezierschnitte, die vom Halsansatz bis zum Schambein führten. Von Paskuleit lag nur noch seine Hülle da, innen war er leer wie ein durchlöcherter Eimer. Aber die Ärzte hatten sich dadurch ein Bild seines Sterbens gemacht, und die Staatsanwaltschaft hatte die Leiche bereits zur Beerdigung freigegeben. Die

>Todesursache unklar< war geklärt.

Stumm, sich an der Hand haltend standen Ellerkrug und Erna Kurowski vor dem bleichen Körper. Es war Paskuleit, und doch war es nicht Paskuleit… der Tod hatte ihn verändert. Zeit seines Lebens hatte er kein so glattes, entspanntes, geradezu seliges Gesicht gehabt, und wer immer behauptet hatte, Paskuleit sei kein schöner Mann gewesen, sondern so knorrig wie die im Sturm gebogenen Bäume von Masuren, der mußte jetzt Abbitte leisten vor dem Toten. Hier lag ein Mann, der das Leben bezwungen hatte und jetzt, in der ewigen Ruhe, das Recht hatte, majestätisch zu sein.