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Franz Busko überstand diesen Anblick nicht. Er mußte sich am Sargrand festhalten, heulte laut, sagte immer wieder schluchzend:»Nee, Meester, nee… warum haste det jetan? Ick hatte de Schwindsucht, und du jehst weg! Meester, ick bejreife det nich. «Und dann packte er den alten Koffer aus Adamsverdruß aus, holte die dreckige, fleckige, geflickte, lederne Schusterschürze heraus, band sie Julius Paskuleit um und war dann nicht mehr fähig, aufrecht zu stehen. Er fiel auf einen Schemel, schlug die Hände vors Gesicht und weinte wie ein Kind.

Erna Kurowski sah den Beamten, der sie in den Keller geführt hatte, bittend an.»Die Kinder.«, sagte sie stockend.»Sie haben so an ihrem Onkel gehangen. Dürfen sie ihn nicht noch einmal sehen?«

«Ich würde es nicht tun. «Der Beamte blickte unschlüssig zu Ellerkrug.

«Sie haben auf dem Treck die Leichen rechts und links an der Straße liegen sehen«, sagte Ellerkrug.»Sie haben miterlebt, wie ihre Oma im Schnee verscharrt wurde. Sie haben gesehen, wie man Säuglinge, steif gefroren wie Bretter, aus den Wagen warf. Das ist eine Generation, die vor keinem Toten zittert oder umfällt.«

«Wenn Sie wollen. «Der Beamte hob die Schultern.»Ich kann Sie nicht daran hindern.«

Erna Kurowski holte die Kinder, die in einem kahlen Vorraum warteten, herein. Hintereinander gingen sie an dem Sarg vorbei und sahen Onkel Paskuleit an. Zuerst Ludwig, der Älteste, er war seinem

Vater Ewald am ähnlichsten. Er blieb vor dem Toten stehen, legte seine Hand auf die gefalteten Hände von Onkel Julius und sagte laut:»Ich passe auf Mama auf, Onkel. Das verspreche ich dir. «Dann ging er hinüber zu dem heulenden Busko, legte ihm den Arm um die zuckende Schulter und blieb dort stehen.

Peter und die kleine Inge sahen den Toten mit weiten Augen an. Daß Onkel Julius tot war, begriffen sie, sie hatten den Tod in nächster Nähe miterlebt, hundertfachen Tod, aber es ist etwas anderes, jemand Unbekanntes sterben zu sehen, als plötzlich vor dem bleichen Körper zu stehen, der für sie eigentlich unsterblich gewesen war.

«Wir werden immer bei Mama bleiben«, sagte auch Peter. Sein Kindergesicht bekam plötzlich etwas erstaunlich Erwachsenes.»Hab keine Angst, Onkel Julius. «Und die kleine Inge sagte:»AufWiedersehen, Onkel Julius. Wenn du Oma und Opa siehst, grüß sie schön.«

Es war der Moment, wo auch der starke Heinrich Ellerkrug zu weinen begann und Erna Kurowski sich schutzsuchend an ihn lehnte.

Alles kann überwunden werden, auch der Tod eines Julius Pasku-leit.

Tröstend war, daß er nicht gelitten hatte. Der Arzt hatte es Erna erklärt:»Um es verständlich auszudrücken«- sagte er —»sein Tod war völlig schmerzfrei. Eine wichtige Ader zu seinem Herzen platzte, und wie man ein Licht ausdreht, so kam der Tod. Es war ein Sekundentod. Er hat nichts gespürt, außer vielleicht ein leichtes Unwohlsein und einen Stich. Die Obduktion hat ein ganz klares Bild ergeben.«

Nach dem Begräbnis in Leverkusen, bei dem auch die Konkurrenten Hübner und Runzenmann erschienen und sogar einen Kranz opferten, machte Erna Kurowski ihren Schuhladen wieder auf, und Franz Busko gelang es durch seine Partei, zwei Schuhmachergesellen zum Eintritt in die Werkstatt zu bewegen.

Das Geschäft lief weiter. Runzenmann, der nach einer Schonfrist von 14 Tagen aufkreuzte und Erna ein Angebot zum Kauf machte, mußte sich sagen lassen, daß die Fa. >Westschuh< jetzt zu 45 % einer Schuhfabrik in Pirmasens gehöre und statt einzugehen sogar expandieren wolle.

Runzenmann brauchte gar nicht nach dem Namen der Fabrik zu fragen… verstört lief er zu seinem Kollegen Hübner und sagte:»Wir sollten uns in Freundschaft mit den Kurowskis arrangieren. Kampf hat keinen Sinn mehr. Hinter denen stehen Kapital und Partei. Aus, mein Lieber.«

Jede Woche einmal war jetzt Ellerkrug in Leverkusen und sah nach, ob Erna sich nicht überarbeitete. Franz Busko war ausgezogen, bewohnte seine Neubauetage, hielt Wahlreden — die ihm jetzt Ellerkrug schrieb —, besprach das fernere Schicksal Deutschlands mit Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, Dr. Maier und Theodor Heuss, war viel auf Reisen und pflegte seine Verbindungen zu den Briten. Er lernte sogar in Abendkursen Englisch, und als er nach zwanzig Stunden ein paar vollständige Sätze sprechen konnte, ging er zum Friedhof, stellte sich an Paskuleits Grab und sagte:»Jetzt paß mal uff, Meester, det hättste nie jeglaubt: I have a coat. Na, da biste platt!«

So ging ein ganzes Jahr vorbei. Erna Kurowski wurde immer unsicherer… über das Rote Kreuz erfuhr sie, daß Ewald Kurowski als tot anzusehen sei, man mache ihr den Vorschlag, schon wegen des Geschäfts, Kurowski für tot erklären zu lassen. Ellerkrug las den Brief und sagte nichts dazu, aber Erna verstand ihn auch so. Sie begann, realistisch zu denken, und sie sprach darüber mit ihrem Mann, der immer bei ihr war… als großes, gerahmtes Bild neben dem Bett auf dem Nachttisch. Der Unteroffizier Kurowski, die letzte Aufnahme im letzten Urlaub… ein fröhlicher, kräftiger Mann mit wasserblauen, verliebten Augen.»Ich werde Heinrich heiraten, Ewald — «sagte sie im November 1949. Über dem Geschäft waren zwei Etagen des zerbombten Hauses aufgebaut worden, die erste Etage bewohnten nun die Kurowskis, in der zweiten lebte ein Studienrat von Ludwigs Gym-nasium, was sich als sehr fördernd auf die Zensuren auswirkte. Einen Teil des Geldes zum Ausbau hatte Ellerkrug gegeben… zinsloses Darlehen. Das Leben schritt weiter, und es wurde schöner und liebenswerter, erfolgreich und anspruchsvoller.

Busko war Landrat geworden. wenn es jemals wieder eine selbständige deutsche Regierung geben würde, war ihm ein Platz im Parlament oder in einem Ministerium sicher, das hatte die Partei ihm versprochen. Als >Mann der ersten Stunde< hatte er schon so etwas wie einen Mythos… aber die Reden schrieb ihm immer noch Heinrich Ellerkrug.

«Die Kinder brauchen einen Vater, Ewald — «, sagte Erna zu dem Bild.»Ludwig wird flegelig, Peter hat Schwierigkeiten in Latein und Mathematik, und Inge wird einmal ein hübsches Mädchen, auf das man verdammt aufpassen muß. Und dazu der Laden, die Werkstatt, nächstes Jahr will Heinrich zwei Filialen gründen… es wird zuviel, Ewald. Laß mich Heinrich heiraten.er hat wirklich geduldig gewartet.«

Es war der 15. November 1949, ein grauer, nebeliger, feuchter Herbsttag, als sich Erna ein neues Kleid anzog, das Ellerkrug ihr geschenkt hatte und das er >Cocktail-Kleid< nannte. Es hatte Goldfäden, war ziemlich tief ausgeschnitten, ließ die Ansätze von Ernas schönen, runden Brüsten sehen und verwandelte sie in eine selbst ihr fremde Schönheit. Ellerkrug wollte sie um halb acht Uhr abholen, mit ihr nach Köln ins Theater fahren — das Schauspielhaus spielte jetzt notdürftig auf der Bühne der Universitätsaula — und dann in einem guten Lokal am Rhein mit ihr feudal essen gehen. Sie freute sich auf diesen Abend, und sie wußte, daß an diesem 15. November zwischen ihr und Ellerkrug die Entscheidung fiel. Sie war bereit, Ja zu sagen.

Kurz nach 19 Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Erna band einen Schal um die neue Frisur, zog das Cocktailkleid gerade und öffnete.»Du bist pünktlich, Heinrich!«wollte sie sagen, aber jeder Laut blieb ihr in der Kehle stecken.

Draußen im Hausflur stand ein fremder Mann. Nach vorn gebückt, elend, auf einen Stock gestützt, ein alter Wehrmachtsmantel um-schlodderte ihn, dicke, schmutzige Stiefel, von denen der Regen tropfte, schienen den ganzen Körper zu tragen. Auf dem kahlgeschorenen Kopf saß verloren, fast lächerlich eine Schirmmütze, viel zu klein, durchnäßt, das Wasser lief aus ihr über das bleiche Gesicht und durch die Stoppeln eines graumelierten Bartes.