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«Nein«, flüsterte Erna zurück. Sie betrachtete den großen, schweren, würdevollen Herrn genauer. Er sah sehr verschlossen aus, sehr unnahbar, sehr gesetzlich. Er winkte hoheitsvoll, alles setzte sich, nur Franz Busko blieb stehen. Als ihn ein strafender Blick des Richters traf, beugte er sich zu Erna hinunter.»Meesterin — «, sagte er leise.»Erinnern Se sich. der Treck, der junge Oberleutnant mit dem Ritterkreuz, der Oberfeldrichter, der ihn am Baum aufhängen ließ, der Kerl, der nachher auf dem Flüchtlingsschiff war… Opa hat uns die Namen aufgeschrieben, und der Meester Julius hat den Zettel gehabt, wir alle, die Kinder, ick und Se ooch, Meesterin. Warten Sie… ick hab den Zettel noch in der Brieftasche, Opa hat jesagt: Vergeßt nie den Namen, und wenn ihr hundert Jahre alt werdet, — hier is er, Meesterin. «Busko holte einen aus einem Heft gerissenen, vergilbten, zerknitterten Zettel aus der Brieftasche. die kräftige Schrift von Opa Jochen, auf einer Kiste im Leiterwagen geschrieben, bei Schneesturm und Frost, vor sich die zugefrorene Ostsee, im Rücken die vordringenden russischen Regimenter.»Dr. Eberhard Bollow, det is er, Meesterin. Det da is der Oberfeldrichter Bol-low. Und der will meinen Meister Kurowski verurteilen? Det ham wir gleich.«

Busko verließ den Gerichtssaal. Er machte es bewußt laut, und Dr. Bollow brüllte auch prompt:»Ruhe! Was ist das für ein Benehmen? Ich eröffne die Verhandlung gegen. «Die Tür klappte hinter Busko zu. Zehn Minuten später — Kurowski wurde gerade zur Person befragt — wurde der Herr Landgerichtsrat Dr. Bollow hinausgerufen.

Er kam nach fünf Minuten wieder, bleich, schwitzend, sehr zerknittert, und vertagte die Verhandlung wegen eines plötzlichen Unwohlseins des Gerichtes. Dann drehte er sich um und verließ schnell das Zimmer. Es sah wie eine Flucht aus.

Acht Tage später wurde das Verfahren eingestellt. Wegen Geringfügigkeit, wie es hieß.

«Was nun«, fragte Kurowski.»Wie geht's weiter, Franz?«

«Wie immer, Meester. «Busko grinste übers ganze Gesicht.»Die Spruchkammer hat sich geirrt. Sie werden zum Mitläufer eingestuft.«

«Das stimmt. «Kurowski nickte bitter.»Ich bin bis nach Sibirien mitgelaufen. Es ist zum Kotzen, daß wir es schon wieder nötig haben, mit Tricks zu unserem Recht zu kommen! Die Menschen lernen doch an gar nichts… selbst 55 Millionen Tote waren nicht ge-nug, um ihre Gehirne durchzublasen. Ein Hund, der irgendwohin pißt, wo er nicht darf, bekommt Schläge und meidet diese Ecke… aber der Mensch macht immer wieder dasselbe! Das soll einer begreifen!«

«Warum darüber nachdenken, Meester«, sagte Busko mit echter politischer Begabung.»Det Leben geht weiter — «

Es ging weiter. Fünf erfolgreiche Jahre lang. Ewald Kurowski schrieb in sein Tagebuch —»Ich schreibe es für die späteren Generationen«, sagte er,»obwohl ich weiß, daß das später keiner mehr lesen will«-unter anderem:

«Wenn man sagen kann, Gott hat einen gesegnet, so sind wir von ihm gesegnet. Jetzt, am 12. Juli 1955, habe ich neunzehn Schuhgeschäfte, einen Großhandel mit einer Lagerhalle von 3.000 qm, 144 Verkäufer, Angestellte, Buchhalter, Lagerarbeiter, Fahrer, 10 Lastwagen, ein Landhaus in Everkotten, zwei Autos und ein Bankkonto, von dem man sagen kann: Kurowski ist so etwas wie ein Millionär. Ich bin nicht stolz darauf, sondern nur dankbar… dankbar meinem Schwager Julius Paskuleit, der den festen Grundstein zu allem legte, dankbar meinem Freund Ellerkrug, dankbar meinen guten Kindern, dankbar Franz Busko, der tatsächlich im Bundestag sitzt und in Bonn Reden hält, und vor allem dankbar meiner Frau Erna… der besten, tapfersten, herrlichsten Frau dieser Erde.«

Am 14. Juli fuhr Ewald Kurowski nach Bad Neuenahr zur Kur.

Der Arzt hatte ihn gründlich untersucht, nicht nur Herz und Lunge abgehorcht, Blutdruck gemessen und dann gesagt:»Sie müssen sich ausruhen!«, sondern man zapfte Kurowski eine Menge Blut ab, schickte es in ein Labor und erhielt nach drei Tagen die Werte zurück.

«Jetzt haben wir den Salat — «, sagte der Hausarzt laut. Anders war mit Kurowski nicht zu reden. Er hatte schon Julius Paskuleit behandelt und die gleichen Predigten gehalten, die nun Kurowski anhören sollte. Genutzt hatten sie wenig, was Paskuleits Tod auf der

Straße bewiesen hatte. Aber dieser Tod war eine immerwährende Warnung für Erna. Sie war es auch, die ihren Mann zum Arzt getrieben hatte, wie eine Dompteuse, die einen dressierten, aber störrischen Bären hinter sich herzieht. Vieles deutete darauf hin, daß Ku-rowski seine unverwüstliche Gesundheit angeschlagen hatte. er war dicker geworden, kurzatmiger, hatte rote Flecken auf den Backen und bekam ab und zu akute Gichtanfälle. Dann schwoll das Gelenk der großen Zehe um das Doppelte an, er konnte nicht mehr laufen, schluckte gläserweise Tabletten, bis Ludwig, der älteste Sohn, sagte:»Mach man so weiter, Vater. Damit ruinierst du deine Leber!«

«Was für'n Salat?«knurrte Kurowski jetzt.»Ich bin gesund.«

«Das sagen Sie noch, wenn man Ihren Sargdeckel zuschraubt, was?«

«Die Gefangenschaft bleibt nicht in den Kleidern hängen — «

«Die Gefangenschaft ist längst vorbei und schon Geschichte! Daß Ihre Generation immer noch mit Krieg und Sibirien kokettiert! Da drinnen läuft das Uhrwerk falsch!«Der Hausarzt tippte auf Kurowskis Bauch.

«Waren Sie in Sibirien?«fragte Kurowski stur.

«Ja. Sogar Lagerarzt. Wieviel haben Sie zugenommen?«

«Vielleicht dreißig Pfund.«

«Und das nennen Sie normal, was?«

«Ich hatte allerlei nachzuholen, Doktor.«

«Und nun ist der Blutfettstoffwechsel im Eimer. Sie haben 190 Blutzucker, eine massive Hypotonie und einen so hohen Harnsäurespiegel, daß die Gicht sich in den Gelenken breitmacht. Wie lange wollen Sie noch leben?«

«Ich will hundert Jahre alt werden. «Kurowski lachte schief.

«So wie es jetzt steht, werden Sie keine fünfzig! Ist das deutlich genug?«

«Ja, nur glaube ich's Ihnen nicht. «Kurowski zog sein Hemd wieder an. Diese Ärzte, dachte er. Immer klingeln sie Alarm, wie die Feuerwehr, aber das gehört anscheinend zu ihrem Beruf. Ich fühle mich wohl, ich habe mich noch nie so wohl gefühlt. Und was heißt hier Zucker? Dann lassen wir eben die Schokolade weg und die abendlichen Plätzchen beim Fernsehen. Das genügt.

«Ihr Schwager Paskuleit hat es auch nicht geglaubt — «, sagte der Arzt grob.»Dann hing er am Baum!«

«Aha!«Kurowski grinste breit.»Meine Frau hat Sie aufgestachelt, Doktor. Denk an Julius… das höre ich täglich ein paarmal! Eine alte Platte.«

«Und woran denken Sie?«

«An meine neunzehn Geschäfte — «

«Gut. «Der Arzt lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.»Machen Sie, was Sie wollen! Ich kann Sie nicht narkotisieren, — aber wenn es nach mir ginge, sausten Sie schon morgen nach Bad Neuenahr in eine Klinik, wenn's sein muß, mit Gewalt.«

«Das möchte ich sehen!«sagte Kurowski und verließ das Sprechzimmer.

Man sah es! Keiner in der Familie wußte, wie es Erna fertiggebracht hatte… schon zwei Tage später machte sich Kurowski auf nach Bad Neuenahr. Sohn Ludwig fuhr ihn hin, im Fond saß Franz Busko als zusätzliche Bewachung.»Der kriegt es fertig und springt während der Fahrt 'raus!«hatte Erna gesagt.»Franz, laß ihn nicht aus den Augen, bis er in der Klinik ist.«

Als Kurowski wegfuhr, stand seine Familie auf der Straße und winkte.