«Na also!«sagte Peter jetzt frech.»Was willst du dann hier? Mir den besten Rechtsanwalt ankündigen? Ich brauche keinen Anwalt… ich spucke dem Gericht ins Gesicht.«
«Der neue Stil der neuen guten Zeit!«Kurowski legte die Hände aneinander.»Von Mutter kann ich dich nicht grüßen. «sagte er dann langsam.
Peter's Kopf drehte sich verwundert.»Ist sie verreist?«
«Ja. Ins Krankenhaus. Vor einer Stunde habe ich sie hingebracht. Sie hat einen Nervenschock erlitten. Sie fand die Show, wie man ihren Sohn auf der Straße zusammenschlug, gar nicht interessant. Frauen — vor allem Mütter — haben da ihren eigenen Geschmack.«
Peter Kurowski setzte sich schwer. Er schluckte krampfhaft, seine staubtrockene Kehle brannte. Wasser, dachte er. Einen Schluck Wasser. Oder einen >Schuß<, nur einen halben >Schuß<, das genügt. Leute, ich gehe ja ein. Er griff nach der Wasserkaraffe, die zwischen ihm und seinem Vater stand, verzichtete auf das Glas und setzte sie einfach an die Lippen.
«Ist. ist es schlimm?«fragte er, als er die Karaffe abgesetzt hatte.
«Ja. Du säufst wie ein Schwein.«
«Mit Mutter!«schrie Peter.
«Sie hat dich — wie alle ihre Kinder — maßlos geliebt. So wie sie können nur Mütter zusammenbrechen.«
«Ich möchte zu ihr.«, sagte Peter leise.
«Das wird unmöglich sein.«
«Hol den besten Anwalt, Vater.«
«Versuch's doch mit dem Anspucken des Gerichtes.«
«Es gibt die Möglichkeit der Haftverschonung.«
«Nur bei einem festen Wohnsitz. Du bist ein Landstreicher geworden.«
«Ich wohne bei dir, Vater. Ich muß zu Mutter.«
Kurowski erhob sich. Er ist am Boden, dachte er. Jetzt soll man ihn nicht mehr treten. Vielleicht gelingt es Erna, ihn zurückzuholen. Er müßte kein Herz mehr haben, wenn er den Anblick Ernas ertragen könnte, wie sie jetzt im Krankenhaus liegt. Ich kann es nicht. um diese Frau zu retten, würde ich sogar meinen Sohn opfern!
«Wir wollen sehen.«, sagte er und ging zur Tür. Peter sprang auf, aber die starke Hand des Wachtmeisters hielt ihn zurück.
«Laß mich zu Mutter.«, heulte Peter.
Kurowski zuckte zusammen und hob die Schultern. Er fror. So heult ein Wolf, dachte er. Mein Gott, ist mein Sohn schon so weit vom Menschen weg.?
Ohne eine Antwort ging er hinaus, aber erst draußen, auf dem Flur, bewies er, daß auch ein Kurowski nicht eine unfällbare Eiche ist. er lehnte sich gegen die Wand, schlug die Hände vors Gesicht und brauchte eine ganze Zeit, um sich von dieser Begegnung zu erholen.
Franz Busko fuhr ihn zurück nach Leverkusen… seinen MdB-Wa-gen schickte er mit Chauffeur allein nach Bonn. Kurowski war jetzt nicht fähig, selbst zu fahren. er hing hinten in den Polstern, sprach kein Wort und wurde erst wieder der alte, der >Meester<, als sie sich Leverkusen näherten.
«Ob man ihn freiläßt?«fragte er.
«Bestimmt. «Busko blickte durch den Rückspiegel. Er sah Kurowskis Kopf, alt geworden, grauhaarig, aber kantig und eisenhart. Ein Schädel aus Adamsverdruß, aus Urgestein gehauen.»Ich habe für ihn gebürgt, Meester.«
«Was hast du?«
«Gebürgt. Das war der schnellste Weg. Als MdB.«
«Franz. «Kurowski schluckte. Rührung überkam ihn, kindliche Rührung.»Wie kann ich dir das jemals gutmachen?«
«Nächste Woche, Meester. Ich brauche eine neue Rede. Über die
Notwendigkeit der Entwicklungshilfe für Schwarzafrika.«
«Du meine Güte! Mußt du dich da dreinhängen? Such dir ein anderes politisches Gebiet aus.«
«Es geht nicht, Meester. «Sie bogen von der Autobahn ab, Richtung Krankenhaus.»Sie meinen alle, gerade in der Entwicklungspolitik wäre ich der richtige Mann. Vielleicht kann man in der Rede darauf hinweisen, daß 90 % aller Afrikaner barfuß laufen und die Erziehung zum Schuhbewußtsein vorrangig ist.«
«Du bekommst deine Rede. «Kurowski lehnte sich in die Polster zurück.»Also doch Lobbyist.«
«Ein Hintern an der Wand ist besser als ein Hintern im Wind. «Busko bremste. Krankenhaus. Er stieg aus, klappte den Kofferraum hoch und holte einen großen Blumenstrauß heraus. Langstielige rote Rosen.
«Jetzt weiß ich, warum du Politiker geworden bist«, sagte Kurowski, nahm die Rosen und stampfte ins Krankenhaus.
Nach zwei Tagen wurde Peter Kurowski aus der Untersuchungshaft entlassen. Es bestand keine Fluchtgefahr, ein MdB bürgte für ihn, er hatte einen festen Wohnsitz. nach der Unterschrift unter die Verpflichtung, sich zweimal wöchentlich bei der örtlichen Polizei zu melden, öffneten sich ihm die Gefängnistore. Sein erster Weg war zum Frankfurter Hauptbahnhof. Dort kaufte er sich für 50,- DM eine Ampulle Morphium und eine Einwegspritze, ging auf die Toilette und gab sich den ersehnten Schuß. Im Frankfurter Bahnhof konnte man alles kaufen, wenn man die Typen kannte und die Ecken wußte, wo sie standen. Eine Ampulle Morphin war da noch das geringste. es hatte einen Mann gegeben, der dort ein völlig intaktes, gut gepflegtes und geöltes Flak-Geschütz mit zwanzig Schuß Munition anbot. Er bekam es nicht los. Flaks sind zu groß für den Untergrund. Man munkelte, er habe später seine Riesenkanone an kroatische Freiheitskämpfer losgeschlagen.
Der zweite Weg führte Peter zum Telefon. Er rief seine Mieze an, ließ sich durchgeben, wieviel sie in seiner Abwesenheit verdient hatte, war zufrieden, versprach, in zwei Tagen wieder zurückzukommen, und rauchte hastig eine Haschzigarette. Dann erst suchte er einen Zug nach Leverkusen aus und kam gegen Mittag zu Hause an. Er machte erst gar nicht den Umweg zu seinem Vater, sondern fuhr sofort ins Krankenhaus. Zuerst wollte man den Mann in der verkommenen Kleidung und dem Bart nicht vorlassen, aber als er schrie, er würde den ganzen Saustall zur Minna machen, führte man ihn zu Ernas Zimmer. Zwei Pfleger blieben vorsichtshalber vor der Tür im Gang.
Erna lag bleich und mit geschlossenen Augen im Bett. Aus einer Tropfflasche rann langsam ein Vitaminkonzentrat in ihre linke Armvene. Sie war dem Tode näher als dem Leben. Peter sah das sofort, ging leise an das Bett, zog den Stuhl heran und setzte sich.»Mutter.«, sagte er heiser.»Mutter. ich bin's.«
Sie hob mühsam die Lider, erkannte ihn, ein Lächeln zog über ihr Gesicht, ihre Hand tastete nach seinen Fingern.
«Peter.«, sagte sie mühsam.»Mein Kleiner. Gut, daß du da bist.«
«Ja, Mutter. «Peter beugte sich vor und küßte sie auf die kalte Stirn.»Was machst du denn für Sachen, Mutter.«
«Ich? Du. Peter. du. «Sie bewegte sich. Peter hielt sie mit beiden Händen fest.»Reg dich nicht auf, Mutter«, stammelte er.»Bitte, reg dich nicht auf. Du mußt gesund werden. Wir alle brauchen dich.«
«Du auch?«
«Ich auch.«
«Ich will mir Mühe geben. «Sie lächelte wieder, und es lag ein unbeschreiblicher Zauber von mütterlicher Liebe über ihrem Gesicht. Peter erkannte ihn, und er kam sich elend und gemein vor. Hundsgemein.»Bleibst du jetzt zu Hause, Kleiner?«
«Ja, Mutter.«
«Und du nimmst nicht mehr dieses. dieses Zeug.?«
«Nie mehr, Mutter. Ich verspreche es dir.«
«Dann ist ja alles gut. «Sie schloß die Augen, streckte sich und dämmerte in die Müdigkeit der Erschöpfung hinüber.»Ich bin so froh, mein Junge.«
Auf Zehenspitzen schlich sich Peter hinaus. An der Tür blieb er noch einmal stehen, sah lange seine Mutter an, warf sich herum und verließ das Zimmer. Sein Weggang aus dem Krankenhaus glich einer Flucht.
In dem Waldstück zwischen Leverkusen und Burscheid ließ er sich von dem Taxi, das er gemietet hatte, absetzen. Zu Fuß ging er weiter und verschwand im Unterholz. Es gibt keinen Ausweg mehr, dachte er. Ich komme von den Spritzen nicht los, ich werde nie ein Versprechen halten können, ich werde immer in der Gosse leben, ich bin im Sumpf, ich stecke in ihm, es kann mich keiner mehr rausholen. Und wenn ich auch ein dämlicher Hund bin, — ich weiß genau, wo ich enden werde. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Konzentration der >Schüsse<.