«Wir kommen vom Weg ab, sag ich euch! Die ziehen mit dem ganzen Fressen zur kämpfenden Truppe.«
«Die? Nie!«Paskuleit dachte an den dicken Stabsintendanten im ersten Lastwagen.»Ich bin dafür, daß wir nach Elbing kommen!«
Was Paskuleit sagte, war immer gut, man wußte das. Also blieben die Adamsverdrusser auf der Straße und ließen Passenheim hinter sich.
Jeden Abend und jeden Morgen hielt Pfarrer Heydicke einen schnel-len Gottesdienst. Dann übernahm Paskuleit die Kutsche, und Busko fuhr den Trecker. Heydicke stand dann auf dem Dach seines Wagens, festgehalten von sechs Händen, blickte zurück über die lange Reihe der Wagen, sprach sein Gebet, segnete die Frauen und Kinder, Greise und Männer und sagte am siebten Tag:»Mein Gott, verlaß sie nicht. Es sind gute Menschen; sie sind mutig und zäh. Bring sie hinaus aus der Hölle, — sie haben sie nicht verdient.«
Am 19. Januar 1945 überrannten die Russen Tilsit und Wlocla-wek. Am 20. Januar stießen ihre Panzerspitzen bereits nach Allenstein vor. In Polen fluteten die deutschen Truppen zurück. Sie gaben am 17. Januar Warschau auf, am 19. Lodz und Krakau. Durch das Weichseltal ergossen sich die sowjetischen Armeen und schnitten Ostpreußen vom Reich ab.
«Wir verlieren das Wettrennen«, sagte Pfarrer Heydicke spät in der Nacht zu Paskuleit. Sie hockten um ein Lagerfeuer. Zwei Stunden Rast, — man kann nicht ohne Unterbrechung laufen. Die Pferde hatten kaum noch Kraft, die schweren Wagen zu ziehen.»Spätestens in drei Tagen fällt Allenstein. Wenn wir jemals die Küste erreichen, — wohin dann? Wir leben auf einer Insel. Oder glauben Sie, wir bekämen ein Schiff?«
«Glauben ist Ihre Arbeit, Herr Pfarrer«, sagte Paskuleit und starrte in das knisternde Feuer.»Ich weiß nur, wir kommen durch. Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir nicht! An etwas anderes denke ich nicht! Lassen Sie uns erst am Meer sein.«
Kapitel 4
Zwei Tage später eroberten die sowjetischen Divisionen Allenstein. Ihre schnellen Panzerspitzen teilten sich. nach Königsberg und nach Elbing-Danzig ratterten jetzt die tonnenschweren Ungetüme über das verschneite, vereiste, von flüchtenden Menschen überschwemmte Land.
Ostpreußen wurde zerschnitten. Es gab kaum noch Widerstand. Aber die Menschen auf den Straßen und Wegen, die Wagenkolonnen, die Trecks, denen die Angst im Nacken saß, die kreuz und quer durch das Land zogen und überall auf russische Panzer trafen, wurden überrollt, niedergewalzt, in die Straßengräben gedrückt, die Frauen von den Wagen gezerrt oder aus den Häusern geschleppt und dem Haß und dem Siegestaumel überlassen.
Die Straßen Ostpreußens brauchten keine Bäume oder Chausseesteine mehr, — man erkannte sie an den Leichen, die rechts und links von ihnen im Schnee lagen. Meistens Frauen und Kinder, steinhart gefroren, in den Trümmern ihrer zerquetschten Wagen, oder auch einfach so, wie hingelegt, wie die totale Erschöpfung sie niedergeworfen hatte, wie sie zusammenbrachen und den Tod gar nicht merkten. Dann wieder Menschenhaufen, aufeinandergeschichtet, blutverschmiert, erschossen und zerstochen. Wegmarkierungen russischer Truppen. In den Trecks, die noch immer herumirrten innerhalb der sowjetischen Ringe, erzählte man sich grauenhafte Dinge, die von allen Seiten herankamen. Da sollten sibirische Truppen einen Pfarrer lebend an die Tür seiner Kirche genagelt haben. In einem Dorf, das schneller überrollt wurde, als es wegziehen konnte, hatte man alle Frauen, von der Achtzigjährigen bis zum zehnjährigen Kind, der Reihe nach vergewaltigt. In einem anderen Dorf hatten tatarische Verbände der Einfachheit halber alle Männer auf dem Marktplatz erschossen.
Greuel über Greuel. und die Eroberung Ostpreußens hatte erst begonnen.
Der Treck aus Adamsverdruß war bisher verschont geblieben. Es schien, als ob der Zahlmeister vorne im ersten Wagen der Verpflegungskolonne einen guten Riecher hatte: Er fuhr auf Nebenwegen, mühsam, aber unangefochten, zielstrebig nach Elbing. Aber an der großen Kreuzung beim Bahnhof Schlobitten kam der Treck zum Stehen. Es schien, als sei eine ganze deutsche Armee unterwegs von
Allenstein zum Haff. Die Straßen waren vollständig verstopft, der Weg nach Elbing durch Artillerieregimenter und Panzer verbaut. Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Doch nach Norden, über Braunsberg und die Passarge entlang zum Frischen Haff.
Pfarrer Heydicke und Paskuleit waren sich einig, nicht aber die rollende Verpflegung vor ihnen. Sie blieb auf der Straße nach Elbing und versuchte, sich in die Militärkolonne einzugliedern.
«Das können wir nicht zulassen«, sagte Opa Jochen, als feststand, daß die Adamsverdrusser zum Haff ziehen würden.»Wir können doch nicht unsere Speisekammer sausen lassen! Jungchen, das muß geregelt werden!«
«Willst du die ganze Kolonne überfallen?«knurrte Paskuleit.
«Genug dazu wären wir. «Jochen Kurowski schielte zu Heydicke und faltete dann die Hände über dem Bauch.»Denken Sie intensiv an den Himmel, Herr Pfarrer… ich muß mit Julius etwas besprechen.«
Was Kurowski vorschlug, war geradezu idiotisch, aber es sollte später der Familie das Leben retten.»Ich habe nichts gehört«, sagte Heydicke später.»Und ich sehe auch nichts. Gottgefällig ist es nicht… aber du hast recht, Jochen: Wo ist Gott jetzt?«
In der Nacht — die ganze Kolonne stand noch auf der Straße und konnte nicht vor und zurück, weil von Allenstein deutsche Truppen heranrückten und Feldpolizei rigoros alles vom Weg drängte, was ein schnelles Vorwärtskommen behinderte — verschwanden aus sieben Verpflegungswagen zwanzig Kisten mit Konserven, Brot, Butter, Schmalz, Öl und Dauerwurst. Man merkte es gar nicht in den bis unter die Planendecke reichenden Kistenbergen, daß hier und da eine freie Stelle war. Vor Aufregung schwitzend, lautlos und wie gleitende Schatten in der Nacht, transportierten Paskuleit, Busko und Felix Baum die Kisten ab. Ab der neunten Kiste kam noch Ortsbauernführer Lusken hinzu, der die gelähmte Juliane Brakau in seinem Wagen transportierte und sie jetzt, wo sie schlief, allein lassen konnte.
Opa Jochen unterhielt unterdessen jeweils die Besatzung des Wa-gens, der hinten bestohlen wurde, mit Witzen und fröhlichen Jagderzählungen aus Masuren. Er war in solchen Geschichten unerschöpflich, erhielt zum Kehleschmieren überall ein paar Schlucke Schnaps und war nach dem Abtransport der zwanzig Kisten soweit, daß Paskuleit ihn abschleppen mußte. Selbst Pfarrer Heydicke machte mit. Um sie abzulenken, klopfte er mit den Offizieren des Transports einen mörderischen Skat.
Am frühen Morgen endlich ging es weiter. Das rollende Verpflegungslager zog nach Elbing, der Treck nordwärts nach Braunsberg. Traurig hockte Opa Jochen auf seinem Kutschbock und blickte den graugrünen Lastwagen nach.
«Da fährt Fressen für ein ganzes Jahr — «sagte er.»Eine Schande ist das, eine Schande. Warum ist von euch Holzköpfen nicht früher einer auf die Idee gekommen, uns vollzuladen! Brauchen wir Küchenschränke, he? Bettgestelle? Kommoden? Sessel? Eckbänke? Zu Fressen brauchen wir. dann raucht der Ofen! Wer gut kackt, kann auch gut arbeiten. Maanchen, wir hätten die ganzen Wagen umladen sollen!«
Der Frost wuchs. Oma Berta kroch vollständig ins Stroh und rührte sich nicht. Ihr Zusammenkriechen war so vollkommen, daß Opa Jochen am frühen Nachmittag anhielt und brüllte:»Alles halt! Ich habe meine Berta verloren. Das Luder muß aus'n Wagen gefallen sein! Zurück!«
Aber zurück war unmöglich. Es gab nur ein Vorwärts.
Felix Baum und Busko, die mit Motorrad und Fahrrad den zurückgelegten Weg absuchten, kamen ohne Ergebnis zurück.
Der Treck stockte.»Ohne meine Berta fahr ich nicht weiter!«schrie Jochen Kurowski.»Wir waren einundfünfzig Jahre zusammen!«