In der Nacht brach der Treck zum Haff auf. Am Morgen, gegen sieben Uhr — es war noch dunkel — kamen die russischen Flugzeuge. Nur drei Stück, tuckernde, langsame, schwergepanzerte Stahlvögel. Aber sie flogen tief, so tief, daß man glaubte, sie fassen zu können, und sie schossen mit überschweren Maschinengewehren in den Treck und warfen kleine Bomben mit verheerenden Splitterwirkungen.
Der erste Tote war Oma Berta in ihrem Haufen aus Decken, Küchengerät und Stroh.
Kapitel 5
Zuerst hatte man es gar nicht gemerkt. Als die ratternden, feuerspeienden Ungetüme wieder im tiefhängenden, bleigrauen Schneehimmel verschwunden waren und der auseinandergespritzte, in den Straßengräben und unter den Wagen liegende Treck wieder hervorkroch, rannte auch Opa Jochen zu seinem breiten Leiterwagen und hieb mit der Faust auf den Küchentisch, unter dem im Stroh und in Decken gewickelt die Oma lag.
«Komm 'raus!«brüllte Joachim Kurowski.»Mein Gott, is die Alte schwerhörig. Wenn wir im Westen sind, laß ich ihr die Ohren durchblasen! Berta! Wach auf!«Dann erst sah er mitten in der Tischplatte einen Einschuß. Ein zersplittertes Loch, ein einziges nur, aber genau dort, wo Berta Kurowski im Stroh lag. Sicher ein Zufallstreffer, aber er hatte Kurowskis Welt ärmer gemacht.
Mit zitternden Händen wühlte er das Stroh weg.»Julius!«brüllte er dabei.»Herr Pfarrer! Herr Oberleutnant! Die Berta. die Berta.«
Als das Stroh zur Seite geschoben war und die Gestalt in den Dek-ken frei lag, konnte Jochen Kurowski nicht mehr weiter. Er lehnte bleich am Wagen, und Paskuleit wickelte Oma Berta aus ihrer herrlich warmen Umhüllung. Die Kugel des überschweren Flugzeugmaschinengewehres hatte sie genau von hinten ins Herz getroffen.
Sie hatte nicht mehr ihren Tod gespürt, vielleicht nur einen kurzen, heißen Schlag, der alles Bewußtsein plötzlich auslöschte. Pfarrer Heydicke zog die Decke wieder über das ruhige, entspannte, noch von der wohligen Wärme gerötete Gesicht. Der Oberleutnant mit dem Ritterkreuz legte den Arm um Kurowskis Schulter. Und plötzlich weinte Opa Jochen, lehnte den Kopf an die Schulter des Offiziers und schüttelte sich im Schluchzen. Es war das erstemal, daß die Familie den Großvater weinen sah — man hatte bisher angenommen, er könne das gar nicht.»Meine Berta.«, stammelte er. Seine Stimme war jetzt wirklich greisenhaft, zurückverwandelt in das Greinen eines Kindes.»Meine alte, gute Berta — «
«Wir haben neunundvierzig Tote im Treck«, sagte der Oberleutnant. Es sollte ein Trost sein. Sie ist nicht allein. Ein Krieg vernichtet nicht einzelne, — er ist ein legitimer Massenmörder.»Und wir wissen noch nicht, wie es weitergeht, Opa. Vielleicht«- er blickte hinüber zu dem zugefrorenen Haff, über das sie in einer Stunde ziehen wollten —»hat sie die beste Art gewählt, aus diesem Wahnsinn auszusteigen.«
Heydicke sprach ein Gebet. Paskuleit und Busko hoben Oma Berta aus dem Wagen, wickelten sie in eine andere Decke und wollten mit ihr unbemerkt weggehen. Aber Kurowski merkte es trotz allen Schmerzes.»Halt!«brüllte er und riß sich von dem jungen Oberleutnant los.»Wohin?! Stehenbleiben! Meine Berta begrabe ich allein!«Er holte Paskuleit ein und umklammerte dessen Schulter.»Du willst sie einfach wegwerfen, was? Wie einen faulen Kohlstrunk, was? Hast du kein Herz, du Schuft? Meine Berta — «
«Der Boden ist steinhart gefroren«, sagte Paskuleit milde.»Du kommst keine zehn Zentimeter tief! Opa, ich weiß, es ist zum Kotzen, es ist grausam… aber Tausende liegen in den Straßengräben, — wir müssen Oma dazulegen!«
«Nie!«schrie Kurowski.»Nie! Und wenn, dann lege ich mich daneben! Eine Schaufel her! Eine Hacke! Berta bekommt ein Grab!«
«Wir müssen weiter!«Der Oberleutnant blickte über den Treck. Die anderen Toten lagen rechts und links der Straße wie Meilen-steine. Ihre Hinterbliebenen knieten vor ihnen, und Pfarrer Heydicke ging herum, segnete, sprach Gebete, schlug das Kreuz.»Herr im Himmel«, sagte er achtundvierzigmal —»sie haben Deine Gnade verdient. «Dann kam er zu Berta Kurowski, die Opa Jochen jetzt auf den Armen trug wie ein Kind.
«Helfen Sie, Herr Pfarrer«, stotterte Kurowski.»Sie wollen sie einfach an die Straße legen. Meine Berta. Versuchen wir zu graben.«
Sie versuchten es. Während der Treck langsam weiterzog, blieben Kurowski, Busko, Ortsgruppenleiter Baum und ein Nachbar der Ku-rowskis zurück und hieben mit zwei Spitzhacken und drei Spaten in die gefrorene Erde. Paskuleit hatte unrecht, — sie kamen keine zehn Zentimeter tief, sondern gaben es bereits auf, als die längliche Grube erst fünf Zentimeter herausgehämmert war. Der Boden war härter als Stein, der Frost hatte die Erde zu Stahl verwandelt, an dem Werkzeuge abprallten. Jochen Kurowski ließ sich neben seiner Frau auf die Knie fallen und beugte sich über sie.»Berta — «sagte er mit einer Zärtlichkeit, vor der sich Paskuleit abwenden mußte, um nicht laut loszuheulen.»Berta, altes, liebes Aas… es geht nicht. Du mußt an der Straße liegen bleiben. Aber das verspreche ich dir, Berta… wenn ich den Krieg überlebe, werde ich jedem, der bei mir von Heldentum, Soldat und Feld der Ehre spricht, in die Fresse schlagen. Berta«- Er umarmte die kleine Gestalt in der Decke —»Leb wohl. Oben seh'n wir uns wieder, wenn se mich hineinlassen — «
Sie legten Oma Berta neben die Straße, schaufelten Schnee über sie, beteten und nahmen dann Jochen Kurowski in ihre Mitte. Sie zogen ihn weg, und Paskuleit sagte rauh:»Sieh dich nicht um, Opa! Verdammt, dort drüben ist unser Treck, unser Adamsverdruß. Der Wagen mit Erna und den Kindern, Ewalds Kinder, Opa! Von deinem Sohn! Wenn Ewald wiederkommt, müssen wir zu ihm sagen können: Hier, Ewald, sind Erna und deine Kinder! Wir haben sie durchgebracht. Die Kurowskis und Paskuleits geben nicht auf. Nie! Komm, Opa.«
Jochen Kurowski nickte. Er blickte nicht zurück, schwankte zwischen Paskuleit und Busko dem Treck nach, nur Felix Baum blieb zurück, hieb mit der Spitzhacke eine zerbrochene Deichsel aus einem zerschossenen Bauernwagen und steckte sie hinter Bertas Kopf in den Schneehaufen. Ein zerborstenes, riesiges, bizarres Kreuz. Finger, die nach Gott griffen. Aufschrei und Mahnung. Dann stieg er auf sein Motorrad und knatterte der Kolonne nach.
Das Haff war zugefroren. Man hatte die richtige Stelle ausgesucht, das Eis schien meterdick zu sein. Vorsichtig zog der Treck über die blanke Fläche. Die Bauern hatten ihren Pferden und Ochsen die Hufe mit Säcken umwickelt, damit sie nicht ausrutschten, es war ein mühseliger Weg, aber man kam langsam voran. Nur die Motorfahrzeuge rutschten heillos herum, ihnen konnte man keine Säcke um die Reifen drehen. Felix Baum mit seinem Motorrad hatte die Spitze und die Erkundung übernommen. er schlidderte über das Haff, die Füße meistens auf dem Eis, um sein Fahrzeug zu halten, und brachte die neuesten Meldungen mit. Heydicke und der Oberleutnant, die im ersten Wagen saßen, konnten nicht viel sehen. grau war der Himmel, war die Luft, das Eis, das Licht des Tages. man zog einfach in das Nichts hinein mit dem Glauben, irgendwo anzukommen… drüben, auf der Nehrung, auf diesem schmalen Landstreifen, auf dem man dann westwärts ziehen wollte, nach Danzig.
Felix Baum kam am zweiten Tag von einem weiten Ausflug zurück. Der Treck hatte mitten auf dem Eis übernachten müssen… es ging nicht mehr. Die Pferde stolperten über ihre eigenen Beine, drei Wagen stürzten dadurch um, vier Räder brachen. Man mußte die Wagen aufgeben, liegenlassen und sie auf andere Fahrzeuge umladen. Nur das Wichtigste, das Leben im Rohzustand: Ein paar Betten, Kissen, Decken, Töpfe, ein Herd. Schluß!
«Wir kommen bei Pröbbernau auf die Nehrung«, berichtete Baum,»wenn wir die Richtung weiterziehen. Aber von Kahlberg ist ein anderer Treck unterwegs und von Elbing zieht ein ganzes Heer herauf. Das ganze Gebiet um Elbing ist auf den Beinen! Die größte
Scheiße aber: Vor Danzig steht schon der Russe!«