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Ich antwortete nicht darauf; in diesem Augenblicke aber erschien er mir so herzensgut, in seinem Gesicht sprach sich eine solche liebenswürdige beinahe kindliche Einfalt aus, daß ich mich im tiefsten Innern ergriffen fühlte. Wie ein Blitz fuhr mir der Gedanke, hier zu helfen, durch den Kopf.

»Setze Dich zu mir in den Wagen!« sagte ich.

Er machte eine Bewegung, die sein großes Erstaunen ausdrückte.

»Wie? Ich – in diesen Wagen?«

»Jawohl,« wiederholte ich. »Setze Dich zu mir, ich will Dir einen Vorschlag machen. Setze Dich doch, wir wollen zusammen weiterfahren.«

»Wie Sie wollen.«

Er nahm neben mir Platz.

»Und Ihr, meine lieben Freunde und ehrenwerthen Genossen,« fuhr er fort, sich an die Bettler wendend, »lebt wohl! Auf Wiedersehen!«

Er nahm seine Fellmütze ab und grüßte sehr höflich. Die Bettler standen starr vor Überraschung. Ich befahl dem Kutscher, die Pferde tüchtig laufen zu lassen, und so rollte denn unser Wagen bald wieder auf der Chaussee dahin.

Ich wollte Mischa folgenden Vorschlag machen: Mir war der Gedanke gekommen, ihn mit mir auf meinen Landsitz zu nehmen, der etwa dreißig Werst von jener Station entfernt war, auf der ich ihn wiedergesehen hatte. Hier wollte ich ihn bessern oder doch wenigstens den Versuch zu seiner Besserung unternehmen.

»Höre einmal, Mischa,« begann ich, »willst Du in meinem Hause leben? Du sollst ganz nach Deiner Bequemlichkeit leben; auch mit Kleidung und Wäsche wird man Dich versehen und Dich überhaupt ordentlich ausstatten. Geld zu Taback und anderen kleinen Genüssen und Vergnügungen sollst Du ebenfalls erhalten, aber alles das nur unter einer Bedingung: Du darfst keinen Branntwein mehr trinken. Gehst Du darauf ein?«

Mischa schien vor plötzlicher Freude ganz erschrocken zu sein; seine Augen blickten mich starr an, sein ganzes Gesicht erglühte; dann sank er plötzlich an meine Schulter, überhäufte mich mit Küssen und wiederholte einmal über das andere mit halberstickter Stimme:

»Onkel! Onkelchen, mein Wohlthäter, Gott vergelt's Ihnen!«

Schließlich brach er in lautes Weinen aus, nahm seine Fellmütze vom Kopf und wischte sich damit die Augen, die Nase und den Mund.

»Vergiß aber nicht,« sagte ich eindringlichst, »daß ich eine Bedingung gestellt habe, von deren Innehaltung alles Andere abhängig ist: Du darfst keinen Brantwein trinken.«

»Der Teufel hole den Branntwein!« rief er, beide Hände wie abwehrend von sich streckend. In Folge dieser Bewegung strömte förmlich eine Wolke von dem Spiritusgeruch, der ihn ganz zu durchdringen schien, auf mich zu.

»Ach, mein liebes gutes Onkelchen, wenn Sie nur wüßten, welch ein Leben ich geführt habe! Aber mein ständiger Gram war schuld an Allem und das Schicksal hat mir auch gar zu arg mitgespielt! Aber nun schwöre ich, Onkelchen, ja, ich schwöre Ihnen, daß ich mich bessern werde! Sie werden es ja sehen, Onkelchen; ich habe noch niemals gelogen, Sie können danach fragen, wen Sie wollen. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Onkelchen, aber ich habe nun einmal kein Glück im Leben gehabt. Niemand hat mir bisher Liebes und Gutes erwiesen –«

Nun konnte er vor Schluchzen schon gar nicht mehr sprechen. Ich gab mir alle denkbare Mühe, ihn zu trösten und zu beruhigen, und das gelang mir endlich auch; als wir vor meinem Landhause anlangten, war Mischa schon längst in bleiernen Schlaf gesunken, wobei sein Haupt sich so tief herabbeugte, daß es schließlich auf meinen Knieen lag.

VII.

Sogleich nach unserer Ankunft wurde ein Zimmer für ihn in Ordnung gebracht, vor allen Dingen aber wurde für ihn ein Bad bereitet, das war es, worauf es dem Augenschein nach ganz besonders ankam. Seine gesammte Kleidung einschließlich des Dolches, der Fellmütze und der zerrissenen Stiefel wurde zusammengepackt und in eine Kammer gelegt und dafür erhielt er Wäsche, Pantoffeln und Kleidungsstücke von mir; wie dies merkwürdigerweise bei armen Teufeln, die man mit solchen Gegenständen ausstattet, immer der Fall ist, paßten auch ihm die Sachen wie angemessen. Als er dann zu Tisch kam, gewaschen, sauber, frisch, da sah er so frohbewegt, so glücklich und dankbar aus, daß auch ich vor Rührung und Freude mich gehoben fühlte. Der Ausdruck seines Gesichtes hatte sich vollkommen verändert. So sehen wohl zwölfjährige Knaben am Ostersonntag aus, wenn sie das Abendmahl bekommen haben und nun mit ihren überaus stark pomadisirten Haaren, in neuen Anzügen und mit steifgestärkten Kragen in Begleitung ihrer Eltern ausgehen, um allen lieben Verwandten und Bekannten die »Osterküsse« zu verabreichen.

Mischa tastete fortwährend vorsichtig und mit der Miene eines Zweifelnden an sich selbst herum und wiederholte beständig: »Wie hängt denn das Alles zusammen? Sollte ich vielleicht doch schon im Himmel sein?«

Am andern Morgen erklärte er mir zum Ueberfluß auch noch, daß er vor Entzücken und Freude während der ganzen Nacht kein Auge habe schließen können.

Eine alte Tante mit ihrer Nichte lebte damals bei mir in jenem Landhause. Beide waren außerordentlich bestürzt, als sie hörten, daß ich Mischa mitgebracht hätte; sie konnten gar nicht begreifen, wie ich einen solchen verkommenen Menschen zu mir ins Haus nehmen könnte; der Ruf, der ihm voranging, war nämlich in Wirklichkeit so ziemlich der schlechteste, den ein Mensch überhaupt haben kann. Nun war ich aber erstens fest davon überzeugt, daß er sich den Damen gegenüber keine Freiheit herausnehmen würde, und zweitens hatte er mir ja fest versprochen, daß er sich bessern wolle. Und während der ersten beiden Tage rechtfertigte Mischa nicht nur die Hoffnungen, die ich auf ihn baute, sondern er übertraf noch in jeder Beziehung meine Erwartungen. Meine Damen waren von ihm geradezu entzückt. Mit der alten Tante spielte er Piquet, war ihr beim Garnwickeln behilflich und lehrte sie einige neue Arten des Patiencespieles; die Nichte, die eine allerdings nicht sehr umfangreiche Stimme hatte, begleitete er auf dem Klavier, auch las er ihr russische und französische Gedichte vor. Außerdem erzählte er den Damen lustige, dabei aber durchaus schickliche Anekdoten, mit einem Wort: er unterhielt sie so gut und erwies sich in kleinen Handgriffen und Dienstleistungen so geschickt und anstellig, daß sie ihr Erstaunen offen ausdrückten. Die Tante fügte noch hinzu:

»Da kann man wieder einmal sehen, wie ungerecht doch die Menschen urtheilen! Was haben sie nicht Alles über ihn zu erzählen gewußt und wie höflich, wie nett und artig ist er doch in Wirklichkeit. Armer Mischa!«

Nun muß ich allerdings erwähnen, daß der »arme Mischa« immer in besonders ausdrucksvoller Art die Lippen leckte, sobald er bei Tische eine Flasche auch nur von Weitem zu sehen bekam. Ich brauchte ihm jedoch nur mit dem Finger zu drohen, so schlug er die Augen zur Decke empor, legte die Hand aufs Herz und sagte: »Aber ich habe ja geschworen!«

»Ich bin jetzt wie vollständig umgewandelt,« versicherte er mich einmal über das Andere.

»Gott gebe, daß es wahr ist,« dachte ich bei mir selbst.

Leider hatte diese Umwandlung keinen langen Bestand.

Während der beiden ersten Tage war er sehr gesprächig, aufgeweckt und heiter. Aber schon am dritten Tage erschien er mir etwas verstimmt, obwohl er es noch nicht merken lassen wollte und nach wie vor bemüht war, in Gesellschaft der Damen zu bleiben und sie zu unterhalten. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, wie aus Traurigkeit und Nachdenklichkeit gepaart, und dieses Gesicht erschien mir auch etwas bleicher und eingefallener zu sein, als an den vorhergehenden Tagen.

»Solltest Du unwohl sein?« fragte ich ihn.

»Ja,« antwortete er; »ich habe etwas Kopfschmerzen.«

Am vierten Tage war er schon vollständig schweigsam. Er saß fast immer in eine Ecke gedrückt, ließ wie eine kummervolle Waise den Kopf hängen und sein betrübtes Aussehen erweckte das innige Mitleid der beiden Damen, die nun ihrerseits Alles aufboten, um ihn zu unterhalten und zu zerstreuen. Bei Tisch aß er nichts, starrte unverwandten Blickes auf seinen Teller und drehte mechanisch Brodkügelchen zwischen den Fingern.