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Am fünften Tage hegten die Damen nicht mehr das Gefühl des Mitleids für ihn; an seine Stelle trat das des Mißtrauens und sogar der Furcht. Mischa blickte finster vor sich her; er mied jede Gesellschaft, schlich an den Wänden entlang wie Einer, der ein böses Gewissen hat, und drehte sich dann plötzlich mit schneller Wendung um, als glaubte er, daß ihn Jemand gerufen habe. Und wohin war die rosige Farbe seiner Wangen gekommen? Er sah aus, als sei er dem Grabe entstiegen.

»Bist Du noch immer unwohl?« fragte ich ihn.

»Nein, ich bin ganz wohl,« entgegnete er kurz und unwirsch.

»Langweilst Du Dich?«

»Weshalb sollte ich mich langweilen?«

Dabei wandte er sich zur Seite, als könnte er meinen Blick nicht ertragen.

»Ist vielleicht Dein alter Gram wieder erwacht?«

Er antwortete nichts auf diese Frage. In dieser Stimmung und Situation ging noch ein Tag vorbei. Am darauf folgenden Tage kam die Tante eiligst in mein Arbeitszimmer gelaufen; sie befand sich sichtlich in großer Erregung und erklärte kurz und bündig, daß sie mit ihrer Tochter das Haus verlassen werde, wenn Mischa noch länger in demselben bleibe.

»Aber weshalb denn?«

»Weshalb? Weil wir nicht wissen, wie wir uns vor ihm in Acht nehmen sollen, das ist ja gar kein Mensch mehr! Er läuft herum wie ein Wolf, ja, wie ein tollgewordener Wolf! Er geht umher, immer auf und ab, spricht kein Wort dabei, und sieht Einen nur so fürchterlich wild an! Es fehlte nur noch, daß er mit den Zähnen fletscht. Du weißt ja nun doch, daß meine Katia so sehr nervös ist. Vom Tage seiner Ankunft an hat sie sich für ihn interessirt. Jetzt habe ich natürlich Furcht, ihretwegen, und auch meinetwegen.«

Ich wußte nicht, was ich meiner Tante antworten sollte. Unmöglich konnte ich Mischa so ohne Weiteres wieder aus dem Hause weisen, nachdem ich selbst ihn zu mir eingeladen hatte.

Er selbst befreite mich aus der sehr peinlichen Situation.

An demselben Morgen, ich hatte mein Arbeitszimmer noch nicht verlassen, hörte ich plötzlich hinter mir eine dumpfe, mißlautende Stimme.

»Nikolai Nikolajewitsch! Heda, Nikolai Nikolajewitsch!«

Ich wandte mich um; in der Thür stand Mischa. Sein Gesicht war schrecklich anzusehen; ganz entstellt und finster blickte er drein.

»Nikolai Nikolajewitsch!« wiederholte er. (Er nannte mich nicht mehr »Onkelchen.«)

»Was willst Du?«

»Lassen Sie mich meines Weges gehen, sofort!«

»Wie meinst Du?«

»Sie sollen mich weiterziehen lassen. Sonst richte ich ein Unglück an; ich stecke das Haus in Brand oder ich schlage irgend Jemanden zu Boden.«

Er erbebte und zitterte, wie vom Fieber geschüttelt.

»Lassen Sie mir sofort meine Sachen wiedergeben,« fuhr er fort. »Geben Sie mir einen Wagen, der mich wenigstens bis zur Landstraße bringt, und wenn Sie dann noch wollen, geben Sie mir ein Stück Geld auf die Wanderschaft.«

»Aber bist Du denn über irgend etwas unzufrieden?« fragte ich.

»Ich kann so nicht länger leben!« schrie er mit aller Kraft seiner Lungen. »Ich kann nicht in Ihrem verdammt anständigen, in Ihrem Herrschaftshause leben! Es ekelt mich an! Ich schäme mich, so ruhig dahinzuleben! Wie können Sie selbst das nur ertragen?«

»Mit andern Worten,« unterbrach ich ihn meinerseits, »Du willst sagen, daß Du ohne Branntwein nicht bestehen kannst.«

»Nun ja! Nun ja!« brüllte er. »Lassen Sie mich doch nur wieder zurück zu meinen Brüdern, zu meinen lieben Freunden, den Bettlern. Zum Teufel mit Ihrer widerwärtig anständigen, Ihrer vornehmen und gebildeten Gesellschaft!«

Ich wollte ihn anfänglich an das mir gegebene Versprechen erinnern, das er noch dazu mit einem Eide beschworen hatte; aber sein furchtbar erregter Gesichtsausdruck, das abgerissene, stoßweise Sprechen, das konvulsivische Zittern aller seiner Gliedmaßen, das Alles war so schrecklich, daß ich mich beeilte, mit ihm auseinanderzukommen. So erklärte ich ihm denn, daß er sofort seinen früheren Anzug wiedererhalten solle und daß man eine Telega anspannen werde; dann nahm ich eine Fünfundzwanzigrubelnote aus dem Schranke und legte sie auf den Tisch. Mischa kam drohend auf mich zu, plötzlich aber blieb er stehen, er stutzte und sein Gesicht war wie von Blut übergössen. Dann schlug er sich vor die Brust, Thränen liefen ihm aus den Augen, er stammelte: »Onkelchen, Du mein Engel! Ich bin ein verlorener Mensch! Dank! Dank!«

Damit ergriff er die Banknote und lief davon.

Eine Stunde später saß er bereits auf der für ihn angespannten Telega; wieder war er als Tscherkesse gekleidet, wieder sah er rosig und heiter aus, wie nur je zuvor. AIs die Pferde anzogen, schrie er vor Freude laut auf, riß die Fellmütze vom Kopf, schwenkte sie über seinem Haupte und machte dann eine Verbeugung nach der andern. Einen Moment vor seiner Abreise hatte er mich noch lange umarmt, mich fest an seine Brust gedrückt und dabei gestammelt: »Mein Wohlthäter! Du mein Wohlthäter! Ich bin ja doch nicht mehr zu retten!« Er war auch zu den Damen gelaufen, hatte ihre Hände mit Küssen bedeckt, war vor ihnen auf die Knie gesunken, hatte Gott angerufen und ihn um Verzeihung für sein Thun gebeten. Als der Wagen sich entfernt hatte, fand ich Katia in Thränen.

Der Kutscher, mit welchem Mischa abgefahren war, erzählte mir nach seiner Heimkehr, daß er Jenen bis zur ersten an der Landstraße belegenen Schenke gefahren habe. Ihn von dort wieder fortzubringen habe er kein Mittel gefunden. Mischa hatte alle Anwesenden eingeladen, auf seine Kosten zu trinken, und bald war er wieder so bezecht gewesen, daß er besinnungslos auf der Bank lag.

Seit jener Zeit bin ich mit meinem Neffen nicht mehr zusammengetroffen. Was ich aber über seinen Ausgang von anderer Seite vernommen, will ich hier noch kurz erzählen.

VIII.

Es mochten seit den eben geschilderten Ereignissen etwa drei Jahre verflossen sein, als ich mich wieder einmal auf meinem Landgute befand. Ein Diener trat zu mir ins Zimmer und sagte, daß eine Frau Poltew mich zu sprechen wünsche. Ich kannte nun keine Frau Poltew und der Diener hatte auch, als er mir die Meldung machte, auf etwas sarkastische Art gelächelt. Auf meinen fragenden Blick theilte er mir mit, daß die Dame, welche mich zu sprechen wünsche, jung sei, ärmliche Kleidung trage und in einem Bauernwagen angekommen sei, dessen einziges Pferd sie selbst gelenkt habe.

Ich ließ der Frau Poltew sagen, daß ich sie in meinem Arbeitszimmer sprechen werde.

Bald stand ich einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau gegenüber, die den Anzug des kleinen Bürgerstandes trug und ein Tuch um den Kopf geschlungen hatte. Das Gesicht bot nichts ungewöhnliches; es war ein bischen rund, deshalb aber nicht ohne Anmuth. Sie hielt die Augen gesenkt – später konnte ich bemerken, wie kummervoll und traurig ihr Blick war. Alle ihre Bewegungen zeugten von Scheu und Verlegenheit.

»Sie find Frau Poltew?« fragte ich, sie mit einer Handbewegung einladend, Platz zu nehmen.

»Jawohl, mein Herr!« antwortete sie mit leiser Stimme und ohne sich zu setzen. »Ich bin die Wittwe Ihres Neffen Michael Andrejewitsch Poltew.«

»Michael Andrejewitsch ist todt? Seit wann? Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Vor fast zwei Monaten ist er gestorben.«

»Sind Sie lange mit ihm verheirathet gewesen?«

»Ich habe im Ganzen ein Jahr mit ihm zusammen gelebt.«

»Woher kommen Sie jetzt?«

»Aus der Gegend von Tula. Dort liegt ein Dorf, das Snamonskoje-Gluschkowo heißt; vielleicht kennen Sie es. Ich bin die Tochter des dortigen Küsters und dort haben auch mein Mann und ich gelebt. Er ließ sich bei meinem Vater nieder. Ja, ein Jahr lang haben wir zusammen gelebt.«