Unter all' diesen, die hier aus Mitleid und Erbarmen ernährt wurden, traten besonders Persönlichkeiten durch ihre Eigenart hervor: ein Zwerg, der den Beinamen Janus oder der Zweigesichtige führte, dänischer oder, wie Einige behaupteten, jüdischer Abstammung, und ferner der verrückte Fürst L.
Im Gegensatz zu den Sitten und dem Gebrauche der damaligen Zeit diente der Zwerg durchaus nicht etwa dem Hausherm als ein Gegenstand des Amüsements oder als Narr. Gerade das Gegentheil war der Fall; Janus war immer schweigsam, sah finster und verdrossen darein, zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und knirschte mit den Zähnen, sobald irgend Jemand sich einfallen ließ, eine Frage an ihn zu richten. Alexis Sergejewitsch nannte ihn »den Philosophen« und hatte in gewissem Sinne sogar Hochachtung vor ihm. Bei Tisch wurden, sobald die Herrschaft und die Gäste bedient waren, die einzelnen Schüsseln ihm zuerst vorgesetzt.
»Gott hat ihn heimgesucht,« pflegte Telegin zu sagen; »das war der göttliche Wille. Um so weniger darf ich oder ein Anderer noch wagen, ihm zu nahe zu treten.«
»Warum halten Sie ihn denn eigentlich für einen Philosophen?« fragte ich einst. Janus konnte mich nicht leiden; sobald ich mich ihm nur näherte, wurde er ärgerlich und brummte mit heiserer Stimme: »Laß mich in Frieden, aufdringlicher Mensch!«
»Weshalb soll er, Gott behüte, kein Philosoph sein?« antwortete mir Telegin. »Beachte doch nur einmal, mein Junge, wie gut er zu schweigen versteht.«
»Und weshalb nennt man ihn den Zweigesichtigen?«
»Deshalb, mein Junge, weil er ein Gesicht nur nach außen zeigt – und nach diesem beurtheilt Ihr ihn natürlich, Ihr Naseweise. Er hat aber noch ein anderes Gesicht, das ist sein wirkliches. Dieses verbirgt er. Ich kenne es einzig und allein, und ich liebe ihn deswegen auch, denn dieses zweite Gesicht ist ein gutes Gesicht. Du siehst z.B. hin, und nimmst doch nichts wahr; ich aber, ich sehe und erkenne Alles, was in ihm vorgeht, auch wenn er kein Wort spricht. Ich erkenne es sofort, wenn er mit mir unzufrieden ist. Er ist sehr streng, aber er hat immer Recht. Du, mein Bürschchen, kannst das natürlich nicht begreifen, aber glaube es nur, wenn es ein so alter Mann sagt, wie ich es bin.«
Die wirkliche Geschichte des Zwerges Janus – woher er stammte, auf welche Weise er zu Telegin ins Haus gekommen war – blieb aller Welt ein Geheimniß. Dagegen war die Geschichte des Fürsten L. uns Allen wohl bekannt.
Er stammte aus einer reichen und sehr angesehenen Familie, war im Alter von zwanzig Jahren nach Petersburg gekommen und in ein Garderegiment eingetreten. Gleich beim ersten großen Empfange im Schlosse bemerkte ihn die Kaiserin Katharina; sie blieb vor ihm stehen, und indem sie mit dem Fächer auf ihn deutete, sagte sie laut zu einem Herrn ihres Gefolges: »Sieh doch nur, Adam Wassiljewitsch, welch' ein hübscher Mensch das ist. Man glaubt wirklich, eine Puppe vor sich zu haben.«
Dem armen jungen Mann drehte sich Alles vor den Augen im Kreise herum. Kaum war er in seiner Wohnung wieder angelangt, als er auch schon den Wagen anspannen ließ, und nachdem er das Band des Annenordens angelegt hatte, fuhr er in der Stadt spazieren mit der Miene und den Manieren Eines, der bereits der erklärte Günstling geworden.
»Fahr' über Alle hinweg!« schrie er seinem Kutscher zu. »Hörst Du wohl? Du sollst über Alle hinwegfahren, die mir nicht ausweichen!«
Das wurde natürlich zur Kenntniß der Kaiserin gebracht. Die Folge davon war, daß der junge Mann für toll erklärt und zweien seiner Brüder zur Bewachung übergeben wurde. Diese machten auch nicht viel Federlesens, brachten ihn aufs Land, schlossen seine Füße mit Ketten an einander und sperrten ihn in ein steinernes Gewahrsam. Da sie das Vermögen des Bedauernswerthen für sich selbst haben wollten, so hielten sie ihn auch dann noch gefangen, als er schon längst wieder zur Vernunft gekommen war. Schließlich war er so lange, unter dem Verdacht wahnsinnig zu sein, festgehalten worden, bis er thatsächlich den Verstand verlor.
Dieser niederträchtige Streich brachte ihnen aber keinen Vortheil. Fürst L. überlebte seine Brüder und nach zahllosen Schwierigkeiten und Scheerereien kam er endlich, halb durch Zufall, unter die Vormundschaft Telegins, der auf irgend eine Weise mit ihm verwandt war. Er war ein dicker, vollkommen kahlköpfiger Mann mit langer, spitzer Nase und blauen aus dem Kopfe hervorstehenden Augen. Er hatte das Sprechen mit der Zeit vollkommen verlernt und stieß nur unartikulirte Laute aus. Aber zum Singen hatte er bis ins hohe Alter eine treffliche, silberhell klingende Stimme sich bewahrt und russische Volkslieder trug er wirklich entzückend vor. Beim Singen brachte er auch jedes einzelne Wort vollkommen klar und wohllautend zum Ausdruck.
Von Zeit zu Zeit hatte er Anfälle von Tobsucht und dann war er wahrhaft schrecklich. Er stellte sich dann in eine Ecke, drehte das Gesicht der Wand zu und stieß, während sein Gesicht roth und schweißbedeckt war und sogar die Glatze dunkelroth erschien, ein gellendes Lachen aus, stampfte mit den Füßen und befahl, irgend Jemanden – wahrscheinlich hatte er dabei seine Brüder im Sinn – aufs Allerstrengste zu bestrafen.
»Schlage!« brüllte er auf, während ein Lachanfall ihn fast zu ersticken drohte. »Peitsche ohne Erbarmen darauf los! Schlage! Schlage diese Ungeheuer, meine Feinde! Gut so, gut so, immer noch kräftiger!«
Am Vorabende von des Fürsten Tod trug sich etwas zu, was Alexis Sergejewitsch in höchsten Schrecken versetzte. Blaß und sehr still trat der Tolle in das Zimmer meines Onkels, verneigte sich tief, dankte für das Obdach und alle die Unterstützungen, die ihm in diesem Hause zu Theil geworden waren und bat dann, zu einem Geistlichen zu schicken, denn der Tod sei ihm genaht – er habe ihn schon gesehen; deshalb sei es jetzt auch an der Zeit, von Allen Abschied zu nehmen und an sein Seelenheil zu denken.
»Du hast den Tod gesehen?« murmelte ganz entsetzt Telegin, der zu gleicher Zeit aufs Höchste erstaunt war, denn er hatte noch niemals zuvor Jenen in so zusammenhängender Weise reden hören. »Wie sah er denn aus? Trug er eine Sense?«
»Nein,« erwiderte Fürst L. »Es war einfach ein altes, mit einer Jacke bekleidetes Weib. Es hatte nur ein einziges Auge – mitten auf der Stirn. Ein solches Auge bekommt man in aller Ewigkeit nicht zum zweiten Male zu sehen.«
Wirklich starb Fürst L. am nächsten Tage, und zwar starb er bei vollständiger Klarheit des Geistes, nachdem er mit dem Geistlichen gesprochen und sich von allen Hausgenossen verabschiedet hatte.
»Auch ich werde so sterben,« sagte Telegin zuweilen. Und ziemlich ähnlich ging es in der That bei seinem Tode zu; doch das werde ich später erzählen. Vorerst wollen wir zu unserm eigentlichen Gegenstande zurückkehren.
Mit seinen Nachbarn unterhielt Telegin, wie ich schon sagte, nur äußerst geringfügigen Verkehr, und auch sie mochten ihn nicht besonders leiden; sie bezeichneten ihn als einen Sonderling, als stolz, spöttisch und sogar als einen »Martinisten«, womit sie einen Menschen bezeichnen wollten, der die Pflichten, welche er der Obrigkeit gegenüber hatte, nicht anerkennen wollte.
Die Leute hatten dabei bis zu einem gewissen Grade sogar Recht. Alexis Sergejewitsch hatte fast siebzig Jahre hintereinander auf seiner Besitzung Suchodol verlebt und war dabei zu den Behörden, zu der Verwaltung und zum Gericht fast in gar keine Beziehung getreten.
»Das Gericht ist für die Räuber geschaffen, die Verwaltungsbehörden sind wegen der Soldaten da,« pflegte er zu sagen. »Gott sei Dank bin ich aber weder Räuber noch auch Soldat.«
Ein Sonderling war der alte Herr in mancher Beziehung ganz entschieden; aber eben so sicher ist, das seinem Wesen alles Niedrige und Kleinliche fremd war.
Ich habe niemals genau erfahren können, welcher Art eigentlich seine politischen Anschauungen waren – wenn es überhaupt gestattet ist, einen so modernen Ausdruck auf die damalige Zeit und einen ihrer Vertreter anzuwenden. Alles in Allem genommen, war er ein Aristokrat und zwar noch mehr Aristokrat als das, was man in Rußland gemeiniglich mit »großer Herr« zu bezeichnen pflegt. Einigemale gab er seinem Bedauern darüber Ausdruck, daß Gott ihm keinen Sohn und Erben geschenkt habe, »um das Geschlecht zu Ehren zu bringen und die Familie zu erhalten.« An der Wand seines Zimmers hing in einem vergoldeten Rahmen der sehr verzweigte Stammbaum der Telegins; es waren da eine Menge Kreise zwischen die Blätter gezeichnet, daß es aussah, als hingen Aepfel von den Zweigen herab.