»Wir Telegins,« sagte er, »sind ein altes Geschlecht, das sein Bestehen schon in der grauen Vorzeit nachweisen kann. Aber so viel wir unserer auch waren, niemals sah man Einen von uns sich in den Vorzimmern der Großen herumdrücken. Nie hat sich ein Telegin auf dem Treppenflur des Czarenpalastes die Beine müde gestanden, niemals sich eine Gnadenstelle ausgebeten, niemals einen Schmuck getragen, den er erbeten hätte, niemals in Moskau oder in Petersburg intriguirt. Wir blieben immer hübsch daheim. Jeder saß auf seiner Scholle – wir liebten unser Nest und blieben ihm treu. Wir sind Eingesessene, mein Junge! Ich selbst habe zwar in der Garde gedient, aber auch das hat, Gott sei Dank, nicht lange gedauert.«
Alexis Sergejewitsch hatte eine an Schwäche grenzende Vorliebe für die gute alte Zeit.
»Damals war man viel freier, viel selbstständiger und würdiger, das kann ich auf mein Ehrenwort versichern. Aber seit dem Jahre eintausendachthundert –« (weshalb gerade von diesem Jahre an, hat er niemals näher erklärt), »aber seit diesem Jahre hat das Militärhandwerk die Oberhand gewonnen. Die Herren Soldaten setzten sich damals Federbüsche aus Hahnenschwänzen auf den Kopf und glichen nun selbft Hähnen. Sie reckten den Hals, daß sie gar nicht mehr sprechen, sondern nur noch krächzen konnten und dabei rissen sie die Augen auf, daß sie ihnen förmlich aus dem Gesichte herausquollen. Einmal kommt solch ein Polizeikorporal zu mir und sagt: ›Euer Hochwohlgeboren‹ – damit wollte er mir wahrscheinlich imponiren; als ob ich nicht selbst wüßte, daß ich ein Edelmann bin – also er sagt: ›Euer Hochwohlgeboren, ich habe mit Ihnen ein Geschäft abzuwickeln.‹ Ich aber erwiderte ihm: ›Verehrter Herr, machen Sie sich vor allen Dingen erst die Knöpfe an Ihrem Rockkragen auf, denn Sie könnten unversehens niesen – und wissen Sie, was dann passirt? Dann müssen Sie zerspringen, wie eine Granate – Gott soll Sie davor bewahren. Und ich werde dann wohl gar für Ihren Tod verantwortlich gemacht.‹ Und trinken können diese Herren Militärs, das geht ins Unglaubliche. Ich lasse ihnen immer von meinem donischen Champagner reichen, denn ob Champagner oder Pontac – ihnen fließt Alles gleich leicht und schnell durch die Kehle. Wozu also erst noch lange einen Unterschied machen? Und dann haben sie noch eine neue Erfindung gemacht, den Lutschbeutel, an dem sie immer saugen – ich meine die Tabackspfeife. Solch ein Soldat steckt sich den Lutschbeutel in den großen Mund unter den borstigen Schnurrbart, stößt dann den Dampf durch Nase, Mund und selbst durch die Ohren aus und glaubt dann Wunder welch großer Held zu sein. Sogar meine Schwiegersöhne, von denen der Eine doch Senator ist und der Andere so etwas, was man, glaube ich, Kurator nennt, saugen an diesen neumodischen Lutschbeuteln und glauben dabei, Menschen mit ganz gesunden Sinnen zu sein.«
Genau wie gegen den Rauchtabak hatte Alexis Sergejewitsch auch eine tiefe Abneigung gegen Hunde, ganz besonders gegen die kleinen.
»Wenn Du ein Franzose bist,« sagte er, »so magst Du meinetwegen solch ein Vieh um Dich haben. Du läufst, Du springst – hierhin – dorthin – und es folgt Dir immer nach, es springt, den Schwanz in die Höhe gerichtet, immer um Dich herum. Aber was sollen wir Russen mit solcher Bestie anfangen?«
Von der Kaiserin Katharina sprach er immer mit wahrer Begeisterung und in sehr wohlgesetzter Redeform, sogar mit gesuchten Ausdrücken.
»Ein Halbgott war sie, kein gewöhnliches Menschenkind! Betrachte nur einmal, mein Junge, dieses Lächeln,« fuhr er fort, indem er respektvollst auf das Lampi'sche Porträt deutete, »dann wirst Du mit mir darin übereinstimmen, daß sie ein Halbgott gewesen. Einmal in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen, gewürdigt zu werden, dieses Lächeln in Wirklichkeit zu schauen und in meinem Herzen wird, so lange ich lebe, der Eindruck nicht verwischt werden, den ich davon empfangen.«
Dann theilte er mir Anekdoten aus dem Leben Katharina's mit und zwar waren dies meistens solche, die ich nirgends sonst weder gehört noch gelesen habe. Hier eine derselben:
Alexis Sergejewitsch gestattete Niemandem, auch nur die leiseste Anspielung auf die bekannten Schwächen der großen Kaiserin zu machen. »Man hat ja schließlich auch nicht das Recht,« pflegte er dabei zu sagen, »über diese erhabene Frau so zu urtheilen, wie über gewöhnliche Menschen.« Eines Morgens saß sie bei der Toilette in ihren Pudermantel gehüllt und ließ sich die Haare kämmen. Was glaubt man wohl, das dabei geschah? Die Kammerfrau fährt mit dem Kamme durch das Haar und dabei springen die elektrischen Funken aus demselben und sprühen nach allen Seiten. Sofort ließ die Kaiserin den Leibarzt Rodgerson, der an diesem Tage gerade Dienst hatte, zu sich rufen und sagte zu ihm: »Ich weiß sehr wohl, daß man wegen gewisser Vorkommnisse mich verurtheilt. Aber siehst Du hier die Funken? Sie rühren von der mir innewohnenden Elektrizität her. Nun, bei meiner Natur und Komplexion wirst Du, da Du doch Arzt bist, begreifen, wie Unrecht man mir thut, wenn man mich verurtheilt. Man sollte doch vorher mich und mein Wesen genau kennen lernen.«
Das folgende Ereigniß hatte sich unauslöschlich in Telegins Gedächtniß eingeprägt.
Eines Tages, er war damals kaum sechzehn Jahre alt, hatte er die Wache im inneren Schloßhofe. Plötzlich geht die Kaiserin an ihm vorüber; er macht Honneur und »sie« – Alexis Sergejewitsch rief das jedesmal in freudigstem Ton und mit strahlendem Gesicht – »sie lächelte über meine Jugend, meinen Eifer und hatte die Gnade, mir ihre Hand zum Kusse zu reichen, dann mich auf die Backe zu klopfen und mich zu fragen, wer ich sei, woher ich stamme, welcher Familie ich angehöre und dann –« hier stockte die Stimme des Alten vollkommen – »dann – dann befahl sie mir, ich solle meine Mutter in ihrem Namen grüßen und ihr danken, daß sie ihre Kinder so gut erzogen habe. Ob ich in diesem Augenblicke schon im Himmel oder noch auf Erden weilte, und wohin die hohe Frau sich zu entfernen geruhte, ob sie in die Wolken sich erhob oder sich in einen anderen Flügel des Gebäudes begab, das kann ich noch zu dieser Stunde nicht mit Gewißheit angeben.«
Wiederholt hatte ich schon versucht, den Alten über jene nun schon so weit hinter uns liegenden Zeiten auszufragen und dies ganz besonders über die Personen, welche sich in der Umgebung der Kaiserin befanden. Aber meistens wich er der Beantwortung solcher Fragen aus.
»Wozu soll man so viel vom Vergangenen erzählen?« sagte er. »Es regt nur unnütz Denjenigen auf, der die Zeiten mit durchlebt hat. Man erzählt von den Tagen, da man selbst noch jung war, während man heute kaum noch einen einzigen Zahn im Munde hat. Das muß man übrigens sagen: die alten Zeiten waren doch schön! Nun, wir wollen nicht weiter darüber reden. Was aber nun jene Menschen anbetrifft, auf welche Du junger Bösewicht die Rede gebracht hast – Du meinst doch sicherlich die Günstlinge, die Schranzen? Höre einmal! Du hast doch wohl gewiß schon einmal im Wasser eine Blase aufsteigen sehen? So lange sie ganz ist, kann man sie in den schönsten Farben schimmern sehen – roth, blau, gelb flimmert es, kurz, es gleicht dem Regenbogen und den Brillanten. Aber nach ganz kurzem Verweilen platzt die Blase und dann findest Du auch nicht die mindeste Spur mehr weder von ihr noch auch von ihrem schönen Farbenspiel. Da hast Du mit kurzen Worten die Geschichte jener Menschen.«
»Und Potemkin?« fragte ich einmal.
Alexis Sergejewitsch nahm eine ernste Miene an.
»Potemkin, Gregor Alexandrowitsch, war ein Staatsmann, ein Gottesgelehrter, ein Zögling Katharina's – man möchte fast sagen: ihr Kind. Aber genug davon, mein Junge!«