Telegin war ein sehr frommer Mann, und obwohl es für ihn mit großen körperlichen Beschwerden verbunden war, besuchte er doch regelmäßig die Kirche. Von Aberglauben war nichts an ihm zu finden; er machte sich über Vorzeichen, bösen Blick und ähnliche Albernheiten, wie er es nannte, lustig; dennoch aber hatte er es nicht gern, wenn ihm ein Hase über den Weg lief und eine Begegnung mit dem Geistlichen war ihm niemals angenehm. Das hinderte ihn aber durchaus nicht, den Popen in jeder Hinsicht respektvoll entgegenzukommen; er ließ sich von ihnen den Segen ertheilen und küßte ihnen dafür auch die Hand – aber in ein Gespräch ließ er sich nicht gern mit ihnen ein.
»Es geht ein gar zu starker Duft von ihnen aus,« erklärte er mir einmal, »und ich Sünder bin nicht im Stande, das auf die Dauer zu ertragen. Sie haben so lange Haare, die sie mit Oel voll schmieren. Diese ziehen sie dann nach allen Seiten auseinander und glauben wohl gar noch, mir dadurch ihren Respekt zu bezeugen; während des Gespräches stöhnen und seufzen sie auch fortwährend – ich weiß nicht, thun sie es aus Verlegenheit oder meinen sie, daß sie mir damit einen besondern Gefallen erweisen. Dann haben sie auch die Gewohnheit, uns an unsere Todesstunde zu erinnern. Ich aber, komme es nun, wie es mag, ich habe noch Lust zu leben. Uebrigens mußt Du, mein Junge, das, was ich Dir hier sage, nicht weiter plaudern. Achte und ehre den geistlichen Stand; nur Dummköpfe haben keine Hochachtung vor ihm. Ich bin eben ein alter Mann, und deshalb lade ich auch die Schuld auf mich, häufig Unsinn zu schwatzen.«
Wie alle Edelleute jener Zeit besaß auch Alexis Sergejewitsch Telegin nur eine sehr mittelmäßige Bildung, aber bis zu einem gewissen Grade war er selbst schuld an diesem Mangel und zwar durch seine Lektüre. Die einzigen Bücher, die er überhaupt las, waren russische Werke aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. Neuere Schriftsteller fand er kraftlos und ohne Form. Wenn er las, stand neben ihm auf einem Tischchen eine silberne Kanne, die mit einem eigenthümlichen, mit Pfeffermünze gewürzten Kwaß gefüllt war, und der scharfe Geruch drang bis in die entferntesten Räume des Hauses. Beim Lesen setzte er eine große Brille mit runden Gläsern auf die Nasenspitze. In der letzten Zeit las er übrigens noch weniger, als sonst; er begnügte sich damit, gedankenvoll über die Einfassung der Brille hinweg auf das Buch zu starren, dabei zog er die Augenbrauen in die Höhe, bewegte die Lippen und seufzte von Zeit zu Zeit. Eines Tages traf ich ihn, als er ein Buch auf den Knieen hielt und weinte; das überraschte mich, wie ich offen gestehen muß, ganz ungemein. Er erzählte mir nun, daß er sich an folgende Verse erinnert hätte:
»O Menschenkind, wie unselig bist Du!
Niemals findest auf Erden Du Ruh'.
Du hast nur Ruhe auf dieser Welt,
Wenn Dein Körper zu Staub im Grabe zerfällt.
Auch diese Ruh' mag uns trübselig erscheinen;
Der Todte schlafe – der Lebende soll weinen.«
Die Verse hatten einen gewissen Kornitsch-Kornitzky, einen fahrenden Poeten, zum Verfasser, den Alexis Sergejewitsch in seinem Hause aufgenommen hatte, weil er ihm als ein feinfühliger und zart besaiteter Mensch erschienen war. Der Dichter trug Schuhe mit Schnallen und Schleifen, sprach im kleinrussischen Dialekt und seufzte häufig, wobei er die Augen zum Himmel aufschlug. Zu diesen Vorzügen kam noch der weitere, daß Kornitsch-Kornitzky, der in einem Jesuiten-Kollegium erzogen war, sehr gut französisch sprach, während der Hausherr es nur »verstand«. Aber nachdem er sich eines schönen Tages in der Schenke einen selbst für russische Verhältnisse ungewöhnlichen Rausch geholt hatte, legte der so zartbesaitete Mensch eine unglaubliche Rohheit an den Tag. Dem Kammerdiener Telegins schlug er Arme und Beine entzwei, prügelte den Koch, zwei zufällig des Weges kommende Wäscherinnen und einen im Hause arbeitenden Tischler weidlich durch, zerschlug eine große Anzahl Fensterscheiben und brüllte dabei fortwährend: »Diesen russischen Taugenichtsen, diesen niederträchtigen Ungläubigen werde ich schon zeigen, was sie werth find!«
Welch eine Kraft kam bei dieser Gelegenheit in dem so schwächlich und kränklich aussehenden Sängersmann zum Vorschein! Acht Männer konnten ihn nur mit Mühe und Noth bewältigen. Nach diesem Auftritt hatte die Geschichte aber auch ein Ende; Telegin ließ den Dichter zum Hause hinauswerfen, jedoch nicht ohne ihn vorher – die Sache trug sich im Winter zu – zur Abkühlung so, wie ihn Gott geschaffen hatte, in den Schnee stecken zu lassen.
»Ja,« pflegte Alexis Sergejewitsch Telegin zuweilen zu sagen, »meine Zeit ist vorüber. Einstmals war ich ein gutes Pferd, aber nun bin ich lahm. Siehst Du wohl, ich habe sogar Dichter auf meine Kosten unterhalten, ich habe Gemälde und Bücher zusammengekauft. Die Gänse auf meinem Gute waren mindestens ebenso gut als die Muchanowski'schen, und meine Tauben waren von seltenster Race, alle so hübsch lehmfarben. Ich hatte Alles und war von Allem Liebhaber, nur nicht von Hunden. Die Hunde haßte ich Zeit meines Lebens gerade so, wie die Trunkenbolde. Ich konnte manchmal sehr heftig und auch wüthend werden, denn ich wollte durchaus immer die Telegins als Erste in jeder Beziehung glänzen sehen. Und welch prächtiges Gestüt hatte ich seiner Zeit! Was meinst Du wohl, mein Junge, woher meine Pferde stammten? Aus den berühmten Gestüten des Czaren Iwan Alexejitsch, des Bruders Peters des Großen. Du kannst es mir aufs Wort glauben. Alle meine Hengste waren dunkelbraun. Mähnen hatten sie bis ans Knie und ihre Schwänze reichten bis zur Erde herab; sie sahen fast wie Löwen aus. Und das ist nun Alles gewesen! Alles ist verschwunden, Gras ist darüber gewachsen. O Eitelkeit der Eitelkeiten, Alles ist eitel! Wozu hilft aber alles Klagen und Bedauern? Jedem Menschen ist die Grenze seines Wirkens vom Schicksal genau vorgeschrieben. Man kann schließlich nicht höher fliegen, als der Himmel ist; man kann nicht im Wasser leben und kann auch seinem Geschick nicht entgehen, eines Tages in die Erde gesenkt zu werden. Wir wollen aber bis dahin noch leben, so gut es eben geht.«
Und dabei lächelte der brave Alte wieder und nahm eine Prise von seinem spanischen Taback.
Die Bauern liebten ihn. Sie sagten: »Er ist ein guter Herr und geräth nicht bei jeder Gelegenheit in Zorn.« Aber auch sie verglichen ihn, wie er selbst es that, mit einem spattlahmen Gaul. Früher beaufsichtigte Telegin Alles selbst; er ritt auf die Felder, ging in die Mühle und in die Butterkammer. Er unterließ auch nie, einen Blick in die Bauernhäuser zu werfen. Sein roth ausgeschlagenes Gefährt, eine sogenannte Reitdroschke, war allgemein bekannt und ebenso das davor gespannte Pferd, ein mächtiges Thier mit großem Stern auf der Stirne, vom Volksmund "die Laterne" genannt. Das Pferd stammte aus den oben erwähnten berühmten Gestüten und Telegin lenkte es selbst, indem er die Enden der Zügel um seine Fäuste schlang. Als der Alte nun aber das siebzigste Jahr erreicht hatte, bekümmerte er sich um die Wirthschaft nicht mehr, sondern übergab die Verwaltung seines gesammten Besitzthums dem Beamten Antig, den er insgeheim ein Wenig fürchtete, und den er, in Erinnerung an die Voltaire'sche Epoche, Mikromegas nannte, oder auch einfacher: Blutigel.
»Nun, Blutigel, was gibt's Neues? Hast Du Scheuer und Tennen hübsch angefüllt?« pflegte er zu fragen, wobei er Jenem lächelnd gerade in die Augen sah.
»Alles, was ich habe, danke ich Ihrer Gnade,« antwortete Antig harmlos.
»Ach was – Gnade! Nimm Dich vor mir in Acht, Mikromegas. Wage es nicht, meine Bauern, auch wenn es nicht vor meinen Augen geschieht, auch nur mit einem Finger zu berühren. Wenn sich meine Bauern beklagen, dann – sieh Dir einmal diesen Rohrstock hier an – dann kannst Du nähere Bekanntschaft mit ihm machen.«
»Ihr Rohrstock, Väterchen Alexis Sergejewitsch, kommt mir auch ohnedies nie aus dem Gedächtniß,« erwiderte Antig-Mikromegas, sich langsam den Bart streichend.