DICK FRENCIS
AUSGESTOCHEN(Break in)
Kapitel 1
Blutsbande können Probleme bedeuten, Ketten und fatale Verpflichtungen. Das Band von Zwillingen ist unentrinnbar das stärkste. Mein Zwilling, meine Fessel.
Meine Schwester Holly, zehn Minuten nach mir am Weihnachtsmorgen auf die Welt gekommen, während Glocken über frostverharschte Felder läuteten und noch verhüllte Päckchen verheißungsvoll winkten - meine Schwester Holly war für mich dreißig Jahre hindurch Kinderbett- und Spielgefährtin, Box-Zielscheibe und beste Freundin gewesen. Ungefähr in dieser Reihenfolge.
Meine Schwester Holly kam zum Rennplatz in Cheltenham und paßte mich zwischen Waageraum und Führring ab, als ich hinaustrat, um in einem 3-Meilen-Jagdrennen zu starten.
»Kit!« sagte sie eindringlich, mich aus der Parade der Jockeys herausgreifend, und verstellte mir prompt und unheilvoll den Weg.
Ich blieb stehen. Die anderen Jockeys gingen weiter, teilten sich wie Wasser um einen Felsen. Ich sah die Züge starker Anspannung in Hollys normalerweise heiterem Gesicht und handelte, ehe sie mir mitteilen konnte, weshalb sie gekommen war.
»Hast du Geld bei dir?« sagte ich.
»Was? Wofür?« Sie konzentrierte sich nicht auf meine Frage, sondern auf irgendeinen inneren Katastrophenfilm.
»Hast du welches?« beharrte ich.
»Schon ... aber das ist nicht ...«
»Geh zum Toto«, sagte ich. »Setz alles, was du hast, auf Sieg für mein Pferd. Nummer acht. Tu es gleich.«
»Aber ich bin doch .«
»Tu es«, unterbrach ich. »Dann geh in die Bar und kauf dir vom Kleingeld einen dreifachen Gin. Danach komm und gratulier mir vor der Tribüne.«
»Nein, das ist doch .«
Ich sagte entschieden: »Stell dein Unglück nicht zwischen mich und den Zielpfosten.«
Sie blinzelte, als wäre sie gerade aufgewacht, betrachtete meine Sturzkappe und die Rennfarben, die ich unter meiner Daunensteppjacke trug, blickte nach den entschwindenden Rücken der anderen Jockeys und verstand, was ich meinte.
»Gut?« sagte ich.
»Gut.« Sie schluckte. »In Ordnung.«
»Danach«, sagte ich.
Sie nickte. Das Verhängnis, das Unglück zerrte an ihren Augen.
»Ich kümmere mich drum«, versprach ich. »Nachher.«
Sie nickte stumm, wandte sich ab und öffnete fast automatisch ihre Schultertasche, um nach Geld zu suchen. Tat, was ihr Bruder sagte, auch nach all den Jahren. Kam immer noch zu ihrem Bruder, um ihre schlimmsten Probleme zu lösen. Obwohl sie seit vier Jahren verheiratet war, schienen diese Verhaltensmuster, entstanden in einer elternlosen Kindheit, uns beiden nach wie vor selbstverständlich.
Ich hatte mich schon manchmal gefragt, was sich für sie geändert hätte, wäre sie um die entscheidenden zehn Minuten älter gewesen. Wäre sie dann mütterlich geworden? Herrisch vielleicht. Es gab ihr mehr Sicherheit, sagte sie, die jüngere zu sein.
Ich ging weiter zum Führring und verscheuchte bewußt die Erkenntnis, daß ihr jetziges Problem, was immer es war, schwerwiegend sein mußte. Sie war zunächst einmal 150 Meilen von Newmarket gekommen, um mich zu sehen, und sie fuhr ungern.
Ich schüttelte den Kopf, sperrte Holly aus. Das wartende Pferd, die bevorstehende Härteprobe hatte zwangsläufig Vorrang. Ich war in erster Linie niemandes Bruder. Ich war in erster Linie Kit Fielding, Hindernisjockey, in manchen Jahren Champion, in manchen nicht - oder zusammen mit einem anderen -, kam an die Spitze, wenn meine Knochen heil blieben, und beugte mich dem Schicksal, wenn ich sie mir brach.
Ich trug die Farben einer Prinzessin in den mittleren Jahren aus einem enteigneten europäischen Herrscherhaus, einer Frau von starker weiblicher Ausstrahlung, deren Haut dem Sonnenuntergang entgegenwitterte wie Craquele-glasur auf Porzellan. Zobelmantel, wie gewohnt, über den schmalen Schultern. Schimmernd dunkle Haare, hoch aufgesteckt. Schlichte goldene Ohrringe. Ich ging über das Gras des Führrings zu ihr, lächelte, verneigte mich und schüttelte kurz die dargebotene behandschuhte Hand.
»Kalt heute«, sagte sie mit etwas harten Konsonanten, aber rein englischen Vokalen; ihr Tonfall war, wie immer, angenehm.
Ich stimmte zu.
»Und werden Sie gewinnen?« fragte sie.
»Wenn ich Glück habe.«
Ihr Lächeln war vorwiegend in den Augen. »Ich erwarte es.«
Wir beobachteten, wie ihr Dunkelfuchs im Ring herumstolzierte, wobei er den Kopf gesenkt hielt und alles andere, vom Widerrist bis zum Schweif, von der marineblauen Decke mit dem goldgestickten Wappen umhüllt war. North Face, Nordwand, hatte sie ihn genannt, weil sie die Berge liebte, und als entsprechend kalter, zäher und schwieriger Genosse hatte er sich auch entpuppt. Verschlagen, häßlich, reizbar, launisch. Ich hatte ihn in seinen Hürdenrennen für Dreijährige geritten, seinen ersten überhaupt, und weiter über die Hürden mit vier, fünf und sechs. Ich hatte ihn bei seinen Neulings-Jagdrennen als Siebenjährigen geritten und während seiner Blütezeit mit acht und neun. Er tolerierte mich, wenn ihm danach war, und ich kannte jede seiner hinterhältigen Bewegungen. Mit zehn war er immer noch ein unberechenbarer Sauerkocher, ein Strolch, wie er im Buche stand, und als Springer so gewieft wie eine Katze. Er hatte im Lauf der Jahre achtunddreißig Rennen gewonnen, und in allen außer einem hatte ich ihn geritten. Zweimal hatte er zu meiner Empörung absichtlich die Schulter fallen lassen und mich im Führring abgesetzt. Dreimal waren wir nach Sprüngen gemeinsam gestürzt, wobei er jeweils unverletzt aufstand und mir in aller Schnelle mit unzerstörbaren Beinen, unzerstörbarem Mut, unzerstörbarem Siegeswillen davonzog. Ich liebte ihn und haßte ihn, und er trat wie üblich als Favorit an.
Die Prinzessin und ich hatten schon unzählige Male so im Führring gestanden, da sie selten weniger als zwanzig Pferde im Training hatte und ich seit zehn Jahren konstant für sie ritt. Sie und ich waren zu einer fast einsilbigen, aber vollkommen klaren Form der Verständigung gelangt und, soweit ich es sagen konnte, zu gegenseitiger Achtung und Vertrauen. Sie nannte mich »Kit« und ich sie - auf ihren Wunsch - »Prinzessin«, und wir hegten eine ungetrüb-te und recht enge Freundschaft, die nichtsdestoweniger an den Rennbahntoren begann und endete. Trafen wir uns außerhalb, was hin und wieder vorkam, war sie wesentlich förmlicher.
Wir standen wie so oft allein miteinander im Führring, da Wykeham Harlow, der Trainer von North Face, an Migräne litt. Die Kopfschmerzen, hatte ich festgestellt, traten am regelmäßigsten an den kältesten Tagen auf. Das konnte wirklich ein gesundheitliches Phänomen sein, aber sie gediehen offenbar auch in direktem Verhältnis zu der Entfernung zwischen seinem Lehnstuhl und dem jeweiligen Rennereignis. Wykeham Harlow trainierte südlich von London und nahm jetzt nur noch ganz selten die Nordwestreise nach Cheltenham auf sich; er wurde alt und mochte nicht zugeben, daß er die Heimfahrt im winterlichen Dunkel scheute.
Das Zeichen zum Aufsitzen der Jockeys kam, und Dusty, der Reisefuttermeister, der neuerdings Wykeham in den meisten Fällen vertrat, zog mit einem Ruck die Decke von North Face herunter und warf mich geschickt in den Sattel.
Die Prinzessin sagte: »Viel Glück«, und ich sagte fröhlich: »Danke.«
Bei Hindernisrennen wünscht niemand »Hals- und Beinbruch« statt »viel Glück«, wie es im Theater Brauch ist. Knochenbrüche sind deprimierenderweise allzu wahrscheinlich.
North Face war blutdürstig: Ich spürte es in dem Moment, als ich auf seinem Rücken aufsaß und meine Füße durch die Bügel steckte. Die Gedankenübertragung zwischen diesem Pferd und mir war immer besonders stark, und ich verfluchte ihn einfach im Geiste und befahl ihm schweigend, den Rand zu halten und sich aufs Siegen zu konzentrieren. Und als wir auf die windige Bahn hinausgingen, lief der Gedankenaustausch unvermindert weiter.
Man mußte darauf vertrauen, daß die Rennlust seine schlechte Laune überwand, sobald der eigentliche Wettkampf begann. So war es fast immer, aber es hatte auch schon Tage gegeben, wo er sich weigerte, auf Enthusiasmus zu schalten, bis es zu spät war. Tage wie diesen, wo sein auf nichts Spezielles gerichteter Haß am stärksten strömte.