»Ich habe keine Ahnung«, sagte Holly. »Daran haben wir noch gar nicht gedacht.«
»Wir werden es morgen feststellen.«
Bobby gähnte. »Kaum geschlafen gestern nacht.«
»Ja. Holly sagte es mir.«
Plötzlich ertönte ein lautes Klappern von draußen, ein schriller Alarm, eindringlich genug, um - wenn nicht die Toten - so doch alle Pferde aufzuwecken.
»Gott!« Bobby sprang auf die Füße und warf krachend seinen Stuhl um. »Da ist er wieder!«
Wir stürzten alle drei auf den Hof in der Absicht, Jermyn Graves dabei zu ertappen, wie er sein Eigentum wegzuschmuggeln versuchte, und wir entdeckten tatsächlich einen völlig entgeisterten Mann, der eine Stalltür offenhielt. Es war allerdings nicht Jermyn Graves, sondern Nigel, Bobbys steinalter Futtermeister. Er hatte das Licht in der leeren Box eingeschaltet und uns sein verwittertes Gesicht zugewandt, als er uns kommen hörte, so daß der Lichtschein tiefe Schluchten in seine ausgeprägten Senkrechtfalten grub.
»Sooty ist fort«, sagte er besorgt. »Sooty ist fort, Chef. Ich hab ihn um halb sechs selbst gefüttert, und alle Türen waren verschlossen und verriegelt, als ich heim bin.« Seiner Stimme war anzumerken, daß er meinte, sich verteidigen zu müssen. Auch Bobby hörte das heraus und beschwichtigte ihn.
»Ich habe ihn umquartiert«, sagte er freundlich. »Mit Sooty ist alles klar.«
Sooty war nicht der richtige Name von Graves’ Pferd, aber die richtigen Namen mancher Pferde stellten hoffnungslose Sprachbarrieren für die zuständigen Pfleger dar. Es war schwierig, liebevoll zu klingen, wenn man (beispielsweise) Nettleton Manor sagte. Komm, Nettleton Manor. Nettleton Manor, alter Gangster, hier hast du eine Möhre.
»Ich wollte mich nur noch mal umsehen«, sagte Nigel. »Auf dem Heimweg von der Kneipe halt.«
Bobby nickte. Für Nigel, wie für die meisten Futtermeister, war das Wohlergehen der Pferde nicht nur Pflicht, sondern Ehrensache. Ihre Pferde konnten ihnen so sehr am Herzen liegen wie die eigenen Kinder, und sich davon zu überzeugen, daß sie sicher schliefen, wurde dann zum elterlichen Bedürfnis.
»Hast du eine Glocke läuten hören?« sagte Holly.
»Ja.« Er runzelte die Stirn. »Oben am Haus.« Er zögerte. »Was war denn das?«
»Ein neues Alarmsystem, das wir ausprobieren«, sagte Bobby.
»Wenn es läutet, wissen wir, daß jemand auf dem Hof zugange ist.«
»So?« Nigel sah interessiert drein. »Dann klappt’s ja wunderbar, was?«
Kapitel 4
Wunderbar klappen mochte die Glocke zwar, doch niemand kam mehr in der Nacht, um erneut ihre Warnfunktion auszulösen. Ich schlief ungestört in Jeans und Sweater, einsatzbereit, aber nicht gerufen, und Bobby ging raus und löste die Schnur, ehe die Pfleger am Morgen zur Arbeit erschienen.
Er und Holly hatten die Liste der Flag-Empfänger zusammengestellt, und nach dem Kaffeetrinken, als es hell war, fuhr ich mit Hollys Wagen los, um ihnen einen Besuch abzustatten.
Da es Sonntag früh war, klapperte ich zunächst alle Zeitungshändler in der Stadt sowie der näheren Umgebung ab und erkundigte mich, ob sie vor zwei Tagen, am Freitag, einen Haufen Flags an eine bestimmte Person verkauft hätten oder ob irgend jemand für diesen Morgen viele zusätzliche Exemplare bestellt habe.
Die Antwort war durchwegs nein. Die Flag war am Freitag so viel oder so wenig verkauft worden wie am Donnerstag. Keiner der Läden, ob groß oder klein, hatte mehr Exemplare als sonst angefordert, sagten sie, und keinem war die Flag ausgegangen. Die Jungens hatten ihren normalen Zustelldienst versehen, nichts weiter.
Die erste und leichteste Spur war damit eine Sackgasse.
Als nächstes fuhr ich zu dem Futterhändler, einem anderen als dem, der meinen Großvater belieferte. Tatsächlich war mir sofort aufgefallen, daß ich die Namen von Bobbys
Zulieferern alle nicht kannte. Aber bei Licht besehen war das wahrscheinlich auch nicht anders zu erwarten. Bobby, der den Betrieb seines Großvaters weiterführte, hielt den Lieferanten seines Großvaters die Treue, und offenbar hatten die beiden lebenslangen Feinde niemals den gleichen Schmied, den gleichen Tierarzt oder sonst irgend etwas Gleiches in Anspruch genommen. Beide hatten stets geglaubt, daß ihn der andere bei der geringsten Gelegenheit bespitzeln würde. Beide hatten recht gehabt.
Kein Futterhändler in Newmarket, wo es mehrere tausend Pferde im Umkreis gab, war befremdet, wenn man an seinem vorgesehenen Ruhetag bei ihm klingelte. Der Futterhändler, der mich in den aus Ziegelsteinen gemauerten Büroanbau seines Hauses winkte, war jung und elegant. Er erklärte mir forsch, es sei schlecht fürs Geschäft, allzu lange Zahlungsaufschub zu gewähren; er müsse an seinen eigenen Geldfluß denken, und Allardeck habe keinen Kredit mehr.
Ich gab ihm den Scheck von Jermyn Graves, den Bobby ordnungsgemäß auf der Rückseite bestätigt hatte.
»Aha«, meinte der Futterhändler strahlend. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Bobby hoffte, Sie würden vielleicht warten wie sonst auch.«
»Tut mir leid. Ausgeschlossen. Künftig wird bei Empfang bezahlt.«
»Der Scheck deckt mehr als Ihre Rechnung«, betonte ich.
»Richtig. Auch gut. Bobby wird beliefert, solange er reicht.«
»Vielen Dank«, sagte ich und fragte ihn, ob er gesehen hätte, wie sein Exemplar der Flag gebracht wurde.
»Nein. Wieso?«
Ich erklärte ihm, wieso. »Das war eine großangelegte und vorsätzliche Schikane. Da möchte man wissen, von wem.«
»Aha.«
Ich wartete. Er dachte nach.
»Sie muß schon ziemlich früh am Freitag morgen dagewesen sein«, sagte er schließlich. »Und sie wurde hier zum Büro gebracht, nicht zum Haus wie sonst die Zeitungen. Ich las sie zusammen mit der Post auf, als ich herkam. So gegen halb neun.«
»Und sie war auf der Klatschseite aufgeschlagen, mit einem roten Rand um den Artikel?«
»Ganz recht.«
»Haben Sie sich nicht gewundert, wer sie gebracht hat?«
»Nicht direkt ...« Er krauste die Stirn. »Ich dachte, jemand wollte mir einen Gefallen tun.«
»Mm«, sagte ich. »Beziehen Sie die Flag sonst auch?«
»Nein. Die Times und die Sporting Life.«
Ich dankte ihm und ging. Dann brachte ich Hollys Wettgewinn bei dem Klempner vorbei, der mich mit offenen Armen empfing und mir zum Teil die gleichen Antworten gab wie der Futterhändler. Die Flag hatte gegen sieben bei ihm auf der Fußmatte gelegen, und er hatte den Überbringer nicht gesehen. Mr. Allardeck sei ihm noch Geld für irgendwelche Rohrarbeiten im Sommer schuldig gewesen, und er könne ruhig zugeben, daß er ihn angerufen und ihm gedroht habe, vors Kreisgericht zu gehen, wenn er nicht sofort bezahle.
Erhielt der Klempner die Flag sonst auch?
Täglich. Am Freitag hatte er zwei gekriegt.
»Zusammen?« fragte ich. »Ich meine, lagen sie beide um sieben auf der Matte?«
»Ja. Beide.«
»Welche lag obenauf?«
Er zuckte die Achseln, dachte nach und sagte: »Soweit ich mich erinnere, war die rot markierte unten drunter. Fand ich komisch, daß der Junge zwei gebracht hatte. Dann sah ich den Artikel und dachte, ein Nachbar wollte mir einen Tip geben.«
Ich sagte, für Bobby sei das alles sehr hart.
»Na ja, anzunehmen.« Er schniefte. »Das ist längst nicht der einzige, der sein Geld zurückhält.« Er warf mir ein ansatzweise zynisches Lächeln zu. »Wenn ihnen die Rohre platzen, zahlen sie ziemlich schnell. Geht nichts über einen hübschen, starken Frost.«
Ich versuchte es bei drei weiteren Gläubigern auf der Liste. Da sie noch kein Geld gesehen hatten, gaben sie sich schroffer und weniger hilfsbereit, aber ein Grundmuster galt auch in ihrem Fall. Die markierten Zeitungen waren gebracht worden, bevor die Zeitungsjungen ihre Tour machten, und keiner hatte gesehen, wer sie ablieferte.