Die Nichte war auch da und ebenso erleichtert und sah ebenfalls auf die Uhr. Ich sagte, ich würde mir Straßenkleidung anziehen und bald fertig sein, und die Prinzessin gab der Nichte einen Kuß, tätschelte meinen Arm und sagte, als sie fortging, sie würde mich am nächsten Tag dann in Newbury sehen.
Ich zog mich um, fand die Nichte wartend vor dem Waageraum und brachte sie zu meinem Auto. Sie war ziemlich nervös in ihrer Ungeduld, die etwas nachließ, als sie feststellte, daß das Auto ein Mercedes war, aber in offene Besorgnis umschlug, als sie sah, wie ich beim Einsteigen zusammenzuckte.
»Sind Sie in Ordnung? Sie werden doch nicht umkippen oder so was?« sagte sie.
»Glaube ich nicht.«
Ich ließ den Wagen an und bugsierte uns aus den dichtstehenden Reihen heraus. Einige andere Wagen fuhren auch gerade los, aber nicht genug, um die Ausfahrt oder die Straße draußen zu verstopfen. Wir würden freie Fahrt haben, falls es keine Unfälle gab.
»Ich dachte schon, Sie wären tot«, sagte die Nichte ohne Gemütsbewegung. »Wie überlebt man es denn, wenn eine Stampede so über einen wegtrampelt?«
»Glücksache«, sagte ich knapp.
»Meine Tante war wirklich erleichtert, als Sie aufgestanden sind.«
Ich brummte zustimmend. »War ich auch.«
»Warum tun Sie das?« sagte sie.
»Rennen reiten?«
»M-hm.«
»Es gefällt mir.«
»Wenn Sie niedergetrampelt werden?«
»Nein«, sagte ich. »Das passiert ja nicht so oft.«
Wir stießen vom Moor bergab und eilten ungehindert über Straßen, auf denen es im Sommer von Urlaubsverkehrskrisen wimmelte. Keine schwankenden, überladenen Wohnwagen an diesem Tag, keine Kinder, die sich am Straßenrand übergaben, keine kochenden oder geplatzten Kühlerschläuche mit trübselig auf Hilfe wartenden Leuten ringsum. Die Straßen von Devon waren im November leer und schnell und führten geradewegs zu den Autobahnen, die uns problemlos nach Chiswick bringen würden.
»Mal ehrlich«, sagte sie, »warum tun Sie das?«
Ich sah ihr ins Gesicht und entdeckte darin ein Interesse, wie es zu einem Nachrichtensammler paßte. Sie hatte außerdem große graue Augen, eine schmale Nase und einen entschlossenen Mund. Gutaussehend auf sehr gepflegte Art, dachte ich.
Ich hatte die gleiche Frage schon viele Male von anderen
Journalisten gestellt bekommen, und ich gab die Standardantwort.
»Ich mache das, weil ich dazu geboren bin. Ich bin in einem Rennstall aufgewachsen und reite schon, solange ich mich erinnere. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mal nicht Rennen hätte reiten wollen.«
Sie hörte mit zur Seite geneigtem Kopf zu, ihren Blick auf meinem Gesicht.
»Ich glaube, ich habe bis jetzt noch nie einen Jockey kennengelernt«, sagte sie nachdenklich. »Und wir haben nicht viele Hindernisrennen in Amerika.«
»Nein«, stimmte ich zu. »In England gibt es wahrscheinlich mehr Hindernisrennen als Flachrennen. Jedenfalls genausoviel.«
»Also, warum tun Sie’s?«
»Hab ich doch schon gesagt.«
»Ja, klar.«
Sie wandte den Kopf ab und sah auf die vorbeiziehenden Felder.
Ich ritt Rennen, dachte ich verträumt, wie man vielleicht Geige spielt, seine eigene Musik aus harmonischer Bewegung und geistiger Eingebung entwickelt. Ich ritt Rennen, weil die Partnerschaft mit Pferden mein Bewußtsein mit vollkommenen Kadenzen, rhythmischer Erregung und starken Gemeinschaftsgefühlen erfüllte; und solchen hochtrabenden Blödsinn konnte ich wohl nicht gut aussprechen.
»Ich fühle mich lebendig«, sagte ich, »auf einem Pferd.«
Sie sah mich leise lächelnd wieder an. »Meine Tante sagt, Sie lesen die Gedanken der Tiere.«
»Das tut jeder, der Pferden nahesteht.«
»Aber manche mehr als andere?« »Ich weiß nicht recht.«
Sie nickte. »Leuchtet ein. Meine Tante sagt, Sie lesen auch die Gedanken von Menschen.«
Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ihre Tante scheint eine Menge erzählt zu haben.«
»Meine Tante«, sagte sie neutral, »wollte mir wohl zu verstehen geben, daß ich, wenn ich mit Ihnen fahre, nicht belästigt werde.«
»Guter Gott.«
»Sie hatte recht, wie ich sehe.«
»Mm.«
Danielle de Brescou zu belästigen, dachte ich, wäre für mich der schnellste Weg zur Arbeitslosigkeit. Nicht, daß ich es unter anderen Umständen und mit ihrer bereitwilligen Mitwirkung undenkbar gefunden hätte. Danielle de Brescou bewegte sich mit unterkühlter langbeiniger Grazie und betrachtete die Welt aus klaren Augen, und wenn ich den Schimmer und Duft ihres Haares und ihrer Haut frisch und angenehm fand, so verwandelte das lediglich die Anstrengung der Fahrt in ein Vergnügen.
Zwischen Exeter und Bristol, während die Abenddämmerung den Tag verdunkelte, erzählte sie mir, daß sie seit drei Wochen in England war und bei ihrem Onkel und ihrer Tante wohnte, bis sie eine Wohnung fand. Sie war gekommen, weil die Fernsehanstalt, für die sie arbeitete, sie nach London beordert hatte. Sie war die Koordinatorin des Studios, und da es dort erst ihre zweite Woche war, durfte sie sich möglichst nicht verspäten.
»Sie kommen nicht zu spät«, versicherte ich ihr.
»Nein ... Fahren Sie immer mit achtzig Meilen in der Stunde?«
»Nicht, wenn ich es wirklich eilig habe.«
»Sehr lustig.«
Sie erzählte mir, daß Roland de Brescou, der Mann der Prinzessin, der älteste Bruder ihres Vaters war. Ihr Vater war in jungen Jahren von Frankreich nach Kalifornien ausgewandert und hatte eine Amerikanerin geheiratet; Danielle war ihr einziges Kind.
»Ich glaube, es gab einen Familienkrach, als Papa von zu Hause wegging, aber die Einzelheiten hat er mir nie erzählt. In letzter Zeit schickt er allerdings Grußkarten, wahrscheinlich aus Sehnsucht nach seinen Wurzeln. Jedenfalls teilte er Onkel Roland mit, daß ich nach London kommen würde, und die Prinzessin schrieb mir, ich solle sie besuchen. Ich hatte sie beide noch nie gesehen. Es ist meine erste Reise nach Europa.«
»Wie gefällt es Ihnen?«
Sie lächelte. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn man Sie in einer Art Herrensitz am Eaton Square mit Koch, Zimmermädchen und Butler verwöhnte? Und mit einem Chauffeur. Die ganze vorige Woche hat der Chauffeur mich zur Arbeit gefahren und hinterher abgeholt. Gestern auch wieder. Tante Casilia sagt, mit der U-Bahn ist es hier nach Mitternacht nicht sicher, genau wie in New York. Sie macht mehr Theater als meine eigene Mutter. Aber allzu lange kann ich nicht bei ihnen wohnen. Sie sind beide lieb zu mir. Ich mag sie sehr, und wir verstehen uns glänzend. Aber ich brauche eine eigene Wohnung, nicht weit vom Büro. Und ich werde mir einen Wagen anschaffen. Das muß ich wohl.«
»Wie lange bleiben Sie denn in England?« frage ich.
»Weiß nicht. Drei Jahre vielleicht. Vielleicht weniger. Die Firma kann einen versetzen.«
Sie sagte, über mich brauchte ich ihr nicht viel zu erzählen, da sie von ihrer Tante informiert worden sei.
Sie sagte, sie wüßte, daß ich in Lambourn lebte und aus einer alten Rennsportfamilie stammte, und ich hätte eine Zwillingsschwester, die sei mit einem Pferdetrainer in Newmarket verheiratet. Sie sagte, sie wüßte, daß ich nicht verheiratet sei. Die letzte Bemerkung ließ sie in der Luft hängen wie ein Fragezeichen, deshalb ging ich auf die ungestellte Frage ein.
»Nicht verheiratet. Momentan keine Freundin. Früher die eine oder andere.«
Ich konnte ihr Lächeln spüren.
»Und Sie?« erkundigte ich mich.
»Das gleiche.«
Wir fuhren eine ganze Weile schweigend mit diesem Gedanken, und ich fragte mich ziemlich nachdenklich, was die Prinzessin sagen oder denken würde, wenn ich ihre Nichte zum Abendessen einlud. Die enge, aber doch auf angemessenen Abstand bedachte Beziehung, die ich seit so vielen Jahren zu ihr hatte, würde sich auf feine Weise ändern, wenn ich es tat, und vielleicht nicht zum Besseren.