Sie nickte und sagte nach einer Pause: »Tante Casilia würde das aber nicht tun. Einen anderen Jockey behalten, wenn Sie wieder fit wären.«
»Nein, sie hat es nie getan. Aber Ihre Tante ist etwas Besonderes.«
»Sie meinte«, sagte Danielle nachdenklich, »ich solle von Ihnen nicht als Jockey denken.«
»Ich bin doch einer.«
»Sie sagte das heute morgen, auf dem Weg nach Towcester.«
»Hat sie erklärt, was sie damit meint?«
»Nein. Ich fragte sie. Sie sagte irgend etwas Dunkles über Grundeigenschaften.« Danielle gähnte. »Jedenfalls, heute abend hat sie Onkel Roland ausführlich von diesen, wie sie es nannte, Scheusalen mit den Messern erzählt, und obwohl er schockiert war und meinte, sie solle sich aus so unerquicklichen Raufereien heraushalten, machte sie einen recht heiteren und gelassenen Eindruck. Sie mag aussehen wie Porzellan, aber sie ist ganz schön zäh. Um ehrlich zu sein, je näher ich sie kennenlerne, desto mehr bewundere ich sie.«
Die Straße von Chiswick zum Eaton Square, tagsüber trotz Ampeln verstopft, war um 2 Uhr 15 morgens bedauerlich leer. Rote Ampeln sprangen auf Grün, wenn wir näher kamen, und selbst das strikte Einhalten der vorgeschriebenen Geschwindigkeit schien die Reise nicht sonderlich zu verlängern. Viel zu früh hielten wir sacht vor dem Haus der Prinzessin an.
Weder sie noch ich traf Anstalten, gleich aus dem Wagen zu springen. Wir blieben noch einen Augenblick sitzen und ließen den Abend ruhig zu Ende gehen.
Ich sagte: »Wir sehen uns dann Samstag.«
»Ja«, seufzte sie aus keinem ersichtlichen Grund. »Wahrscheinlich.«
»Sie müssen ja nicht«, sagte ich.
»Aber nein.« Sie lachte halb. »Ich meinte eher ... Samstag ist ziemlich weit weg.«
Ich nahm ihre Hand. Sie ließ sie passiv, abwartend in meiner.
»Wir könnten noch viele Samstage haben«, sagte ich.
»Ja, könnten wir.«
Ich lehnte mich hinüber und küßte sie auf den Mund, schmeckte ihren rosa Lippenstift, fühlte ihren Atem auf meiner Wange, spürte das Zittern irgendwo in ihrem Körper. Sie wich nicht zurück, schmiegte sich nicht an, sondern küßte, wie ich geküßt hatte, als Sympathieerklärung, als Versprechen vielleicht, als Einladung.
Ich rückte von ihr weg und lächelte in ihre Augen, dann stieg ich aus und ging um den Wagen, um ihr die Tür zu öffnen.
Wir standen kurz zusammen auf dem Gehsteig. »Wo schläfst du?« sagte sie. »Es ist so spät.«
»In einem Hotel.« »Hier in der Nähe?«
»Kaum eine Meile.«
»Gut ... dann mußt du nicht weit fahren.«
»Keine Entfernung.«
»Gute Nacht also«, sagte sie.
»Gute Nacht.«
Wir küßten uns wieder, wie vorhin. Dann drehte sie sich lachend um, ging über den Gehsteig und schloß die von Säulen eingerahmte Haustür der Prinzessin auf. Ich dachte im Wegfahren, wenn die Prinzessin es mißbilligt hätte, daß ihr Jockey Annäherungsversuche bei ihrer Nichte machte, dann hätte sie es uns inzwischen beide wissen lassen.
Ich schlief fünf Stunden lang wie tot, wälzte mich danach steif aus dem Bett, blinzelte trüb auf den starken, kalten Regen, der den Tag verdarb, und lenkte den Mercedes nach Bletchley. Im Goldenen Löwen war es warm, die Luft erfüllt von Frühlingsdüften, und ich aß dort, während der Empfang meine Rechnung bearbeitete. Dann telefonierte ich mit der A.A., um nach meinem Wagen zu hören (Montag fertig), und mit Holly, um festzustellen, ob die markierten Exemplare der Flag wie versprochen abgeliefert worden waren (offensichtlich ja: der Futterhändler hatte angerufen), und danach lud ich mein ganzes Zeug ins Auto und fuhr schnurstracks zu dem Hotel zurück, wo ich geschlafen hatte.
Kein Problem, sagten sie hilfsbereit in der Rezeption; ich könne mein jetziges Zimmer behalten, solange ich wollte, und selbstverständlich würde man Sachen für mich im Tresor aufbewahren.
Auf meinem Zimmer steckte ich Jay Erskines Presseclubausweis und Owens Watts’ Kreditkarte in einen Umschlag und schrieb: »EILT! SOFORT BEI MR. LEGGATT ABZUGEBEN!« in großen Buchstaben darauf. Dann packte ich die Videoaufnahmen und alle anderen Habseligkeiten der Journalisten, außer ihren Jacken, in einen Wäschesack des Hotels und rollte ihn zu einem ordentlichen Bündel, das im Erdgeschoß mit einem Etikett versehen und mit Klebeband verschlossen wurde, bevor es im Tresorraum verschwand.
Anschließend fuhr ich zur Fleet Street, parkte unstatthaft, lief durch den Regen, um den Umschlag für Sam Leggatt in der Anmeldung der Flag abzugeben, schnappte den Wagen einem Polizisten vor der Nase weg und fuhr leichten Herzens nach Ascot.
Es war in vieler Hinsicht ein miserabler Nachmittag. Schneeregen fiel fast ununterbrochen, nadelspitz, eiskalt und schräg, durchnäßte jeden Jockey vor dem Start bis auf die Haut und entpuppte sich dann als gefährlich sichtraubend. Schutzbrillen waren nutzlos, schnell zugepappt von fliegendem Schlamm, Handschuhe rutschten naß auf den Zügeln, Rennstiefel klebten feucht an Füßen. Ein Tag, an dem man die Zähne zusammenbiß und auf Sicherheit ritt, an dem man jedes Hindernis exakt sprang oder aber beim Aufsetzen auf der Nase weiterschlitterte. Rauher November von seiner schlimmsten Seite.
Das Publikum war spärlich, abgehalten von dem niederprasselnden Guß und den vorhergesagten Schauern, und die wenigen Leute, die im Freien standen, waren in triefende Mäntel zusammengekauert und sahen wie Pilze aus mit ihren Schirmen.
Holly und Bobby mochten nicht bleiben. Sie waren gekommen, nachdem ich mit mehr Glück als Inspiration das erste Rennen gewonnen hatte, und fuhren schon wieder vor dem zweiten. Sie nahmen das Geld aus dem Geldgurt, den ich meinem Jockeydiener dankend zurückgab.
Holly umarmte mich. »Nachdem ich mit dir gesprochen hatte, riefen drei Leute an, weil sie sich über die Entschuldigung freuten«, sagte sie. »Sie wollen uns wieder Kredit geben. Das hat die Sache vollkommen geändert.«
»Gebt acht, wie weit ihr Rechnungen auflaufen laßt«, sagte ich.
»Natürlich. Der Banker sitzt uns doch im Nacken.«
Ich sagte zu Bobby: »Von dem Geld da habe ich mir einiges geborgt. Ich zahle es nächste Woche zurück.«
»Eigentlich gehört dir das doch alles.« Er sprach ruhig, freundschaftlich, aber die Lebenskraft war wieder auf dem Tiefpunkt. Kein Schwung. Zuviel Apathie. Nicht das Nötige.
Holly sah verfroren aus und zitterte. »Halt das Baby warm«, sagte ich. »Geht doch in die Trainerbar.«
»Wir fahren nach Hause.« Sie küßte mich mit kalten Lippen.
»Wir würden ja bleiben, um dich zu sehen, aber mir ist nicht gut. Mir ist fast immer schlecht. Es ist die Hölle.«
Bobby legte schützend den Arm um sie und ging unter einem großen Schirm mit ihr davon, beide mit gesenktem Kopf gegen den eisigen Wind gelehnt, und ich war ihretwegen bedrückt und dachte auch an die Gefahren, die noch zu bestehen waren, ehe sie in Sicherheit sein würden.
Die Prinzessin hatte diejenigen ihrer Bekannten in ihre Loge eingeladen, an denen mir am wenigsten lag, ein Viergespann von Adligen aus ihrer alten Heimat, und wie immer, wenn die sie begleiteten, sah ich sie kaum. Mit zwei von ihnen kam sie in roten Ölhäuten vor dem Start des ersten ihrer beiden Renner zum Führring hinunter, lächelte vergnügt durch den klirrenden Regen und fragte mich, wie ich ihre Chancen einschätzte, und mit den zwei anderen zusammen fragte sie eineinhalb Stunden später das gleiche noch mal.
In beiden Fällen sagte ich: »Einigermaßen.« Der erste Renner wurde Vierter, der zweite Zweiter. Sie kam hinterher weder zum Absattelplatz, was man ihr nicht verdenken konnte, noch ging ich hinauf in ihre Loge; zum Teil, weil das oberflächliche Klamotte war, wenn diese Bekannten dort waren, hauptsächlich aber, weil ich im letzten Rennen auf der Gegengerade zu Boden krachte. Bis ich rüberkam und mich umgezogen hatte, würde sie fort sein.