Nun ja, dachte ich dumpf, als ich mich aufrappelte; sechs Ritte, ein Sieg, ein zweiter Platz, ein vierter, zwei ferner liefen, ein Sturz. Du kannst nicht jeden Tag vier Siege haben, alter Junge. Und nichts war gebrochen. Sogar die Nähte hatten es überstanden, ohne aufzugehen. Ich wartete in dem treibenden Schneeregen, daß mich der Wagen abholte, und nahm meine Kappe ab, um das Wasser durch mein Haar rinnen zu lassen, umarmte sozusagen den stürmischen Tag, fühlte mich wohl. Winter und Pferde, die alte Melodie im Blut.
In der Jockeystube war kein Teekuchen mehr.
»Gierhälse«, sagte ich.
»Aber Sie essen doch nie Kuchen«, sagte mein Jockeydiener, während er mir die durchnäßten Stiefel auszog.
»Ab und zu mal«, sagte ich, »zum Beispiel an eiskalten, nassen Freitagen, nach einem Sturz im letzten Rennen.«
»Etwas Tee ist noch da. Er ist heiß.«
Ich trank den Tee, spürte, wie die Wärme hinunterglitt, mich von innen aufheizte. Es gab immer Tee und Teekuchen in den Umkleideräumen; Sofortenergie, sofortige Wohltat. Jeder aß dann und wann Kuchen.
Ein Offizieller steckte den Kopf durch die Tür: Sie werden verlangt, sagte er.
Ich zog Hemd und Schuhe über und ging an die Tür vom Waageraum zur Außenwelt. Den ganzen Tag war niemand mit einem Wechsel von Pollgate aufgetaucht, und so ging ich wohl mit einem ungläubigen Funken Hoffnung da hinaus. Die Hoffnung erlosch sehr bald. Es war nur Dusty, zusammengekauert im Eingang des Waageraums, blau im Gesicht, die Augen wäßrig vor Kälte.
»Ist das Pferd in Ordnung?« fragte ich. »Ich hörte, ihr habt ihn eingefangen.«
»Ja. Unnützes Viech. Was ist mit Ihnen?«
»Nichts passiert. Der Arzt hat mich freigegeben. Ich reite morgen.«
»Gut. Sag ich dem Chef. Wir sind dann weg. Tschüs.«
»Tschüs.«
Er hastete fort in die bleierne, frühe Dämmerung, ein kleiner, engagierter Mann, der sich, wenn ich gestürzt war, gern mit eigenen Augen überzeugte, daß meine Verfassung noch hinreichte, um seinen Schützlingen beim nächsten Mal gerecht zu werden. Es kam vor, daß er Wykeham riet, mich nicht aufzustellen. Es kam vor, daß Wykeham seinen Rat befolgte. An Dusty war manchmal schwerer vorbeizukommen als an den Medizinern.
Ich duschte, zog mich an, verließ die Rennbahn über den Sattelplatz und ging von dort in die dunkel werdende Stadt, wo ich am Morgen den gemieteten Mercedes auf einem Parkplatz abgestellt hatte. Vielleicht war es ja unwahrscheinlich, daß lange nach dem Schlußrennen ein neuer Hinterhalt auf dem fast verlassenen JockeyParkplatz inszeniert würde, aber ich hatte nichts riskieren wollen. Unbehelligt stieg ich in den Mercedes und fuhr ohne Zwischenfall nach London.
Dort, in meinem komfortablen Schlupfwinkel, erhöhte ich meine sowieso schon astronomische Telefonrechnung, indem ich als erstes mit meiner gefälligen Nachbarin vereinbarte, sie solle am Morgen in mein Cottage gehen und mir einen Anzug, ein paar Hemden und andere Dinge in einen Koffer packen.
»Klar tu ich das, mein lieber Kit, aber ich dachte, wo Sie in Ascot geritten sind, kämen Sie heute abend doch bestimmt mal wieder her.«
»Wohne bei Freunden«, sagte ich. »Ich will sehen, daß morgen früh jemand den Koffer bei Ihnen abholt und mit nach Ascot nimmt. Läßt sich das machen?«
»Natürlich, mein Lieber.«
Ich überredete einen anderen Jockey, der in Lambourn wohnte, den Koffer zu holen und mitzubringen, und er sagte, das ginge schon klar, wenn er dran dächte.
Ich rief Wykeham an, als er nach meiner Schätzung von der abendlichen Stallkontrolle zurück im Haus sein mußte, und sagte ihm, daß sein Sieger gewohnt stark gewesen sei, die zwei von der Prinzessin so gut, wie man hätte erwarten dürfen, und einer von den Ferner-Liefen enttäuschend.
»Und Dusty sagt, im letzten Durchlauf haben Sie die Hürde unten am Swinley Bottom total vermurkst.«
»Jaja«, sagte ich. »Wenn Dusty es fertigbringt, eine halbe Meile weit bei schlechtem Licht durch treibenden Schneeregen deutlich zu sehen, dann hat er bessere Augen, als ich dachte.«
»Ehm ...«:, sagte Wykeham. »Was ist passiert?«
»Der vor mir ist gestürzt. Meiner fiel über ihn. Gesiegt hätte er nicht, wenn Sie das tröstet. Er wurde schon langsam müde, und ihm stank das Wetter.«
Wykeham grunzte zustimmend. »Er ist ein Sonnenfreund, durch und durch. Kit, morgen steht Inchcape für die Prinzessin im großen Rennen, und er ist in Hochform, fährt aus der Haut, hat sich um Klassen gesteigert, seit Sie ihn letzte Woche sahen.«
»Inchcape«, sagte ich resigniert, »ist tot.«
»Was? Hab ich Inchcape gesagt? Nein, nicht Inchcape. Wie heißt das Pferd der Prinzessin?«
»Icefall.«
»Icicles leiblicher Bruder«, sagte er, nicht ausdrücklich als Frage.
»Ja.«
»Klar doch.« Er räusperte sich. »Icefall. Natürlich. Im Ernst, Kit, er müßte gewinnen.«
»Kommen Sie hin?« fragte ich. »Ich hatte Sie fast heute schon erwartet.«
»Bei dem Wetter?« Er klang überrascht. »Nein, nein, Dusty, Sie und die Prinzessin, ihr schafft das schon.«
»Aber Sie hatten einen ganzen Trupp von Siegern diese Woche, und Sie haben nicht einen davon gesehen.«
»Ich seh sie hier im Hof. Ich seh sie auf Video. Sagen Sie Inchcape, er ist der Größte, und er überspringt noch den Ben Nevis.«
»In Ordnung«, sagte ich. Icefall, Inchcape, was lag daran?
»Gut. Großartig. Gute Nacht, Kit.«
»Gute Nacht, Wykeham«, sagte ich.
Ich klingelte meinen Anrufbeantworter an und rief die Nachrichten ab, darunter eine von Eric Olderjohn, dem Staatsbeamten und Besitzer des Pferdes, auf dem ich für den Lambourner Trainer in Towcester gesiegt hatte.
Ich rief ihn unverzüglich unter der angegebenen Londoner Nummer an und erwischte ihn offenbar, als er eben im Begriff stand auszugehen.
»Oh, Kit, ja. Hören Sie, Sie sind wahrscheinlich in Lam-bourn?«
»Nein, momentan nicht. In London.«
»So? Das trifft sich ausgezeichnet. Ich hab etwas, das Sie vielleicht gern sehen würden, aber ich kann es nicht aus der Hand geben.« Er machte eine Denkpause. »Hätten Sie heute abend nach neun Uhr Zeit?«
»Ja«, sagte ich.
»Gut. Kommen Sie zu mir, bis dahin bin ich wieder hier.« Er erklärte mir den Weg zu einer Straße südlich des Sloane Square, höchstens eine Meile von dort, wo ich mich aufhielt. »Kaffee und Brandy, ja? Muß rennen. Tschüs.«
Er hängte abrupt ein, und ich legte meinen Hörer etwas langsamer auf und sagte im stillen »Mann!« zu mir. Ich hatte nicht viel Einsatz von Eric Olderjohn, dem Regierungsbeamten, erwartet, und keinesfalls in diesem Tempo.
Ich dachte eine Weile an das Videoband von Maynard und an die zum Schluß darin aufgezählten Firmen, die unter Maynards Menschenfreundlichkeit gelitten hatten. Bis ich eine Gelegenheit fand, das Band noch einmal abzuspielen, mußte ich mich auf mein Gedächtnis verlassen, und der einzige Name, an den ich mich genau erinnern konnte, war Purfleet Electronics; hauptsächlich deshalb, weil ich dort vor langer Zeit mit einem Schulfreund mal in den Sommerferien gesegelt war.
Purfleet Electronics, teilte mir die Auskunft mit, war nicht verzeichnet. Ich kaute ein wenig auf meiner Unterlippe und sagte mir, die einzige Möglichkeit, was zu finden, sei die, es am richtigen Ort zu suchen. Wie zuvor nach Hitchin, so würde ich morgen früh nach Purfleet fahren.
Ich füllte den Abend mit essen und weiteren Telefonaten aus, und bis neun war ich die Sloane Street hinuntergegangen und hatte das Haus von Eric Olderjohn gefunden. Es war schmal, zweistöckig, eins aus einer langen Reihe ähnlicher Gebäude, die für schlecht verdienende Frühvik-torianer erbaut worden waren, jetzt aber den Wohlhabenden als Stadtwohnung dienten. Das jedenfalls erklärte Eric Olderjohn mir leutselig, als er seine dunkelgrüne Haustür öffnete und mich hereinwinkte.
Von der Straße trat man direkt ins Wohnzimmer, das sich von einer Seite des Hauses bis zur anderen erstreckte; ganze vier Meter. Aber welch ein Glühen, welche Wärme in diesem ungewöhnlich kleinen Raum. Rosa- und helle Grüntöne, gitterartige Streifen in der Tapete, Satinvorhänge mit Girlandenmuster, runde Tische mit Decken, die glockig auf den Boden fielen, Porzellanvögel, silberne Fotorahmen, dicke, mit Knöpfen versehene Armsessel, cremefarbene Chinabrücken. Lampen spendeten ein sanftes Licht, und das Gittermuster der Tapete, die auch die Dek-ke überspannte, gab dem gedrängten Inneren das Flair einer sommerlichen Grotte.