In einem durchgesackten alten Sessel saß, unbeeindruckt von dem Durcheinander, ein älterer, graubärtiger Mann mit den Füßen auf einem Schreibtisch, las Zeitung und trank aus einer Tasse.
»Mr. Tarker?« sagte ich.
»Der bin ich.« Er ließ die Zeitung sinken und betrachtete mich kritisch über seine Schuhspitzen hinweg.
»Was möchten Sie repariert haben?« Er blickte zu der Tasche in meiner Hand, die die Kamera enthielt. »Ein Bootsteil?«
»Ich fürchte, ich bin hier falsch«, sagte ich. »Ich suche Mr. George Tarker, den früheren Inhaber von Purfleet Electronics.«
Behutsam setzte er seine Tasse auf den Schreibtisch und seine Füße auf den Boden. Ich erkannte, daß er ebensosehr durch eine innere Müdigkeit alt war wie durch die Jahre; es deutete sich in der schlaffen Schulterhaltung und in den tiefliegenden Augen an, und es schrie aus der ganzen Unordnung um ihn herum.
»Dieser George Tarker war mein Sohn«, sagte er.
War.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Möchten Sie etwas repariert haben oder nicht?«
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte mich über Maynard Allardeck unterhalten.«
Die Wangen sanken in tiefe Schatten ein, und die Augen schienen dunkel in ihre Höhlen zurückzutreten. Er hatte schütteres graues Haar, ungekämmt, und unter dem kurzen Bart, an dem dünnen Hals im aufgeknöpften, schlipslosen Hemd, strafften sich die Sehnen und fingen an zu zittern.
»Ich möchte Sie nicht beunruhigen«, sagte ich; aber ich hatte es getan. »Ich drehe einen Film über die Schäden, die Maynard Allardeck im Leben vieler Leute angerichtet hat. Ich hoffte, daß ... Ich hoffte, Ihr Sohn ... könnte mir dabei behilflich sein.«
Ich machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. »Mir ist klar, daß es Sie so oder so nicht beeinflussen würde, aber ich biete ein Honorar an.«
Schweigend starrte er mir ins Gesicht, sah jedoch, wie mir schien, etwas völlig anderes - blickte zurück in die Erinnerung und fand sie nahezu unerträglich. Die Anspannung in seinem Gesicht verstärkte sich in einem Maße, daß ich wirklich bedauerte, gekommen zu sein.
»Wird Ihr Film ihn vernichten?« sagte er heiser.
»In mancher Hinsicht, ja.«
»Er verdient Hölle und Verdammnis.«
Ich holte die Videokamera aus der Tragtasche und führte sie ihm vor, erklärte ihm, daß er direkt in das Objektiv sprechen solle.
»Erzählen Sie mir, was Ihrem Sohn passiert ist?« fragte ich.
»Ja.«
Ich balancierte die Kamera auf einem Haufen Schrott und setzte sie in Gang; und mit nur wenigen direkten Zwischenfragen von mir wiederholte er im wesentlichen die bekannte Geschichte. Maynard war in einer vorübergehenden Finanzkrise, verursacht durch die rasche Expansion des Unternehmens, lächelnd zu Hilfe gekommen. Er hatte zu niedrigen Zinsen Geld geliehen, im letzten und ungünstigsten Augenblick aber die Rückzahlung verlangt; hatte die Firma übernommen und George Tarker hinausgeworfen, nach einiger Zeit dann alles, was von Wert war, abgestoßen, die Eigentumsrechte verkauft und die Belegschaft auf die Straße gesetzt.
»Charmant«, sagte George Tarker. »Charmant war er. Wie ein Betrüger, bis zum Schluß. Vernünftig. Freundlich. Dann verschwand er, und alles andere mit ihm. Die Firma meines Sohnes, weg. Er hat sie gegründet, als er gerade achtzehn war, und geschuftet noch und noch . und nach dreiundzwanzig Jahren wuchs sie zu schnell.«
Das hagere Gesicht starrte voll ins Objektiv, und Wasser stand in den Winkeln beider Augen.
»Mein Sohn George ... mein einziges Kind ... er gab sich selbst die Schuld an allem ... die Schuld daran, daß seine Arbeiter ihre Stellung verloren. Er fing an zu trinken. Er verstand soviel von Elektrizität.« Die Tränen traten über die unteren Augenlider und rollten an den faltigen Wangen hinab, um sich im Bart zu verlieren. »Mein Sohn hat sich an Drähte angeschlossen ... und sich unter Strom gesetzt .«
Seine Stimme brach ab wie mit dem Schlag, der das Herz seines Sohnes zum Stehen gebracht hatte. Ich fand es unerträglich. In tiefem Mitleid wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Ich schaltete die Kamera ab und stand schweigend da, wußte nicht, wie mich für eine solche Einmischung entschuldigen.
Er wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. »Vor etwas mehr als zwei Jahren«, sagte er. »Er war ein guter Mensch, wissen Sie, mein Sohn George. Dieser Allardeck ... hat ihn einfach vernichtet.«
Ich bot ihm die gleiche Summe an, die ich den Perrysides gegeben hatte, legte sie vor ihn auf den Schreibtisch. Er starrte eine Weile auf das flache Bündel Banknoten und schob es dann zu mir hin.
»Ich habe es Ihnen nicht für Geld erzählt«, sagte er. »Behalten Sie’s. Ich habe es Ihnen für George erzählt.«
Ich zögerte.
»Nehmen Sie es«, sagte er. »Ich möchte es nicht. Kommt mir nicht richtig vor. Sie können mich bezahlen, wenn Sie mal ein Boot zu reparieren haben.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Er nickte und sah zu wie ich die Scheine an mich nahm.
»Machen Sie einen guten Film«, sagte er. »Tun Sie’s für George.«
»Ja«, sagte ich; und er saß immer noch da und starrte gequält in die Vergangenheit, als ich ging.
Ich fuhr mit den gleichen Sicherheitsvorkehrungen nach Ascot wie zuvor, ließ den Mercedes unten in der Stadt und betrat die Rennbahn aus der dem offiziellen Parkplatz der Jockeys entgegengesetzten Richtung. Soweit ich sehen konnte, nahm keiner von meiner Ankunft Notiz außer den Männern an der Kasse mit ihrem gewohnten »guten Morgen«.
Ich startete in den ersten fünf der sechs Rennen; zwei Ritte für die Prinzessin, noch zwei andere für Wykeham, einer für den Trainer aus Lambourn. Dusty teilte mir mit, daß Wykeham wegen einer scheußlichen Migräne ans
Haus und an den Bildschirm gebunden sei. Icefall, sagte Dusty, müsse ganz klar Erster werden, und sämtliche Pfleger hätten ihre Löhne auf ihn gesetzt. Dustys Verhalten mir gegenüber war wie üblich eine Mischung aus Respekt und Gehässigkeit, eine zwiespältige Haltung, die ich vor langem schon in ihre Bestandteile zerlegt hatte: Ich mochte zwar für den Stall siegen, aber die Kondition der Pferde war das Werk ihrer Pfleger, und das durfte ich nicht vergessen. Dusty und ich arbeiteten seit zehn Jahren in einer Art Waffenstillstand zusammen, weil wir aufeinander angewiesen waren; aktive Freundschaft wurde weder angestrebt, noch war sie notwendig. Er sagte, der Chef bitte mich, der Prinzessin und den anderen Besitzern sein Bedauern wegen seiner Kopfschmerzen auszurichten. Ich werde es bestellen, sagte ich.
Ich ritt eines von Wykehams Pferden im ersten Rennen ohne nennenswerten Erfolg und wurde im zweiten Lauf Dritter für den Trainer aus Lambourn. Das dritte Rennen war Icefall für die Prinzessin, und sie und Danielle warteten nach dem Lunch mit strahlenden Augen im Führring, als ich dorthin kam.
»Wykeham läßt sich entschuldigen«, sagte ich.
»Der arme Mann.« Die Prinzessin glaubte ebensowenig an die Migräneanfälle wie ich, aber sie war bereit, so zu tun als ob.
»Schenken wir ihm einen Sieg, um ihn zu trösten?«
»Ich fürchte, das erwartet er.«
Wir sahen Icefall herumgehen, grau und muskulös unter seiner Wappendecke, kompakter als sein leiblicher Bruder Icicle.
»Ich habe ihn vorige Woche trainiert«, sagte ich. »Wykeham meint, er hat sich seitdem mächtig gesteigert. Es besteht also Hoffnung.«
»Hoffnung?« sagte Danielle. »Er ist heißer Favorit.«
»Haushoch«, nickte die Prinzessin. »So richtig freuen kann man sich darüber nie.«
Sie und ich tauschten Blicke aus in dem Bewußtsein des zusätzlichen Drucks, der durch zu hochgespannte Erwartungen entstand, und als ich zum Aufsitzen ging, sagte sie nur: »Kommen Sie heil über die Runden, dann ist es gut.«
Icefall war mit sechs Jahren auf der Höhe seiner Hürdenkondition. Er konnte auf eine Serie von Erfolgen zurückblicken, und sein Rennen an diesem Tag war ein vielbeachteter, mit viel Geld geförderter 2-Meilen-Wettbewerb, der sich, wie das bei hochdotierten Rennen schon mal vorkam, auf ganze sechs Teilnehmer beschränkte. Icefall an der oberen Grenze des Handicaps, die anderen fünf an der unteren; der Mittelblock hatte beschlossen, auf weniger heikle Konkurrenzen auszuweichen.