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Das letzte Rennen war vorbei, die Massen strömten den Parkplätzen zu. Jockeys und Trainer, Offizielle, Begleiter und Presseleute wünschten sich rings um uns her gute Nacht, obwohl es kaum halb vier am Nachmittag war und noch nicht dämmerte. Zeit, das Büro zu verlassen. Arbeit war Arbeit, auch wenn das Endprodukt Unterhaltung hieß. Die Freizeit gilt als wachsender Industriezweig.

»Fährst du mit zu uns?« fragte Holly.

Ich hatte seit einer Stunde gewußt, daß sie das wünschen würde.

»Ja«, sagte ich.

Ihr fiel ein Stein vom Herzen, doch sie versuchte es mit einem Hüsteln, einem Scherz und einem verkrampften Lachen zu überspielen. »In deinem Auto oder meinem?«

Ich hatte das schon ausgeknobelt. »Wir fahren beide erst zum Cottage. Von dort fahre ich uns mit deinem Wagen.«

»Okay.« Sie schluckte. »Und Kit ...«

»Geschenkt.«

Sie nickte. Wir hatten einen alten Pakt: Niemals laut danke sagen. Gedankt wurde in Form von sofortiger und großzügiger Hilfe, wenn sie nötig war. Der Pakt war mit ihrer Heirat zeitweilig außer Kraft getreten, bestand meinem Gefühl nach aber immer noch - und auch für sie, sonst wäre sie nicht gekommen.

Holly und ich sahen uns ähnlicher als die meisten zweieiigen Zwillinge, aber doch nicht zum Verwechseln ähnlich wie Viola und Sebastian bei Shakespeare. Der lag hier ausnahmsweise falsch. Wir hatten beide dunkles, gelocktes Haar. Beide ziemlich hellbraune Augen. Anliegende Ohren, hohe Stirn, langen Hals, leicht bräunende Haut. Wir hatten unterschiedliche Nasen und einen unterschiedlichen Mund, wenn auch die gleiche Schräge in der Brauenpartie. Wir hatten beim Anblick des anderen nie den Eindruck gehabt, in einen Spiegel zu schauen, obwohl uns das Gesicht des anderen vertrauter war als das eigene.

Als wir zwei Jahre alt waren, ließen unsere jungen, übersprudelnden Eltern uns bei unseren Großeltern, fuhren zu einem Winterurlaub in die Alpen und gerieten beim Skifahren in eine Lawine. Die erschütterten Eltern unseres Vaters behielten uns, zogen uns groß und hätten in vieler Hinsicht gar nicht besser sein können, aber Holly und ich wandten uns innerlich doch mehr einander zu, als es vielleicht in einer normalen Familie geschehen wäre. Wir erfanden und gebrauchten unsere eigene Privatsprache, wie es viele solcher Kinder tun, und gelangten von dort weiter zu einem sprachlosen gedanklichen Verständnis. Unsere Telepathie hatte eher darin bestanden, daß wir wußten, was der andere dachte, als daß wir einander vorsätzlich Gedanken eingegeben hätten. Mehr Empfang als Übertragung, könnte man sagen; und es lief ab, ohne daß wir uns darüber klar waren. So kam es, wenn wir für kurze Zeit getrennt waren, immer wieder vor, daß wir zur selben Stunde an unsere Tante in Australien schrieben, das gleiche Buch aus der Bibliothek liehen oder auf eine spontane Regung hin die gleichen Sachen kauften. Einmal waren wir zum Beispiel beide mit Rollschuhen als Geburtstagsüberraschung für den anderen nach Hause gekommen und hatten sie unabhängig voneinander im Kleiderschrank unserer Großmutter versteckt. Großmutter wunderte sich damals gar nicht mehr darüber, da wir ähnliches schon zu oft gemacht hatten. Sie sagte, seit wir sprechen konnten, hätten wir, wenn sie fragte: »Kit, wo ist Holly?« oder: »Holly, wo ist Kit?«, immer die Antwort gewußt, auch wenn wir sie logischerweise nicht wissen konnten.

Die Telepathie zwischen uns hatte die Spannungen und Umwälzungen der Pubertät und des Jugendalters nicht nur überlebt, sondern war sogar noch stärker geworden. Gleichzeitig wurde sie uns auch bewußter; wir wandten sie absichtlich an, wenn wir es wollten, und erweiterten im jungen Erwachsenenalter unsere Freundschaft um eine neue Dimension. Natürlich zogen wir nach außen eine Schau aus neckischem Geschäker, bissigem Spott und Geschwisterrivalität ab, doch darunter waren wir uns einig und ließen auf unsere innere Gewißheit nichts kommen.

Als ich das Haus unserer Großeltern verlassen hatte, um mir von meinem Einkommen eine eigene Bleibe zu kaufen, hatte Holly von Zeit zu Zeit bei mir gewohnt. Sie arbeitete meistens in London, konnte aber kommen, wann immer sie wollte, denn wir sahen es beide als selbstverständlich an, daß mein Cottage auch ihr Zuhause war.

An dieser Situation hatte sich wenig geändert, bis sie sich in Bobby Allardeck verliebte und ihn heiratete.

Schon vor der Hochzeit war die Telepathie schwächer geworden, und bald darauf hatte sie mehr oder minder aufgehört. Eine Zeitlang fragte ich mich, ob sie bewußt dichtgemacht hatte, und dann wurde mir klar, daß es auch meine Entscheidung gewesen war: Sie hatte ein neues Leben begonnen, und es wäre nicht gut gewesen, mich an sie zu klammern oder mich einzumischen.

Vier Jahre später war die alte Gewohnheit so weitgehend verschwunden, daß ich nicht einen Funken von ihrer momentanen Verzweiflung gespürt hatte; früher dagegen hätte ich es irgendwie im Kopf gehabt und sie angerufen, um zu erfahren, ob mit ihr alles in Ordnung sei.

Auf unserem Weg zum Parkplatz fragte ich sie, wieviel sie mit North Face gewonnen habe.

»Mein Gott«, sagte sie, »da hast du ziemlich lange zurückgehangen, nicht wahr?«

»Mm.«

»Egal, ich bin zum Totalisator, um mein Geld zu setzen, aber da waren solche Schlangen an den Kassen, daß ich’s aufgegeben hab und runter zum Rasen bin, um mir das Rennen anzusehen. Als du dann so weit zurückfielst, war ich froh, daß ich nicht auf dich gesetzt hatte. Dann schrien die Buchmacher an den Rails auf einmal fünf zu eins für North Face. Fünf zu eins! Dabei warst du unter pari gestartet. Es gab ein paar Buhrufe, als du an der Tribüne vorbeikamst, und das hat mich geärgert. Du gibst immer dein Bestes, die brauchten nicht zu buhen. Da bin ich rüber und hab einem Buchmacher mein ganzes Geld in die Hand gedrückt. Jetzt ja grade - so ungefähr. Ich hab’ hundertfünfundzwanzig Pfund gewonnen, und damit wird unser Klempner bezahlt, also schönen Dank.«

»Hat der Klempner auch >Intime Details< bekommen?«

»Ja, hat er.«

»Irgend jemand kennt euer Leben ziemlich gut«, sagte ich.

»Ja. Aber wer? Daran haben wir die halbe Nacht herumgerätselt.« Ihre Stimme war kläglich. »Wer könnte uns derart hassen?«

»Ihr habt nicht gerade irgendwelche unzufriedenen Arbeiter entlassen?«

»Nein. Wir haben gute Pfleger dieses Jahr. Besser als sonst.«

Wir kamen zu ihrem Wagen, und sie fuhr mich dorthin, wo meiner stand.

»Ist dein neues Haus schon fertig?« fragte sie.

»Es wird.«

»Du bist exzentrisch.«

Ich lächelte. Holly war mehr für das Sichere, Geregelte und Vorausgeplante. Sie fand es verrückt, daß ich einem bankrotten Bauunternehmer spontan das dachlose Gerippe eines eingeschossigen Hauses abgekauft hatte. Es war eines Abends in der Pinte am Ort gewesen, hatte mürrisch an der Theke gelehnt und seine Sorgen in Bier ertränkt, als ich hereinschaute, um ein Steak zu essen. Er habe das Haus für sich selbst bauen wollen, sagte er, aber das Geld sei ihm ausgegangen. Die Arbeiten seien eingestellt worden.

Ich hatte in seinen besseren Tagen Pferde für ihn geritten und kannte ihn seit mehreren Jahren; so war ich am nächsten Morgen mit ihm zu dem Haus gefahren, um es mir anzusehen. Es schien gute Möglichkeiten zu bergen. Ich hatte es vom Fleck weg gekauft und ihn beauftragt, es für mich fertigzustellen, wofür ich ihn wöchentlich bezahlte. Es würde eine großartige Wohnung sein, und ob sie fertig wurde oder nicht, ich würde sie lange vor Weihnachten beziehen, da der Verkauf meines alten Cottage schon vertraglich festgelegt war und ich dort wohl oder übel raus mußte.

»Ich fahre zum Cottage hinter dir her«, sagte Holly. »Ras aber nicht, als ob du den Towncrier gewonnen hättest.«

Als friedliche Zweierkolonne begaben wir uns zum Trainingszentrum Lambourn in den Berkshire Downs, wo ich mein Auto in die Garage stellte, und fuhren dann gemeinsam die gut hundert Meilen bis zu dem Suffolkstädtchen Newmarket, der Hochburg des Rennsportgewerbes.