Was auch immer ich zu hören erwartet hatte, das war es nicht. Ich ließ den Wagen auf einen Parkplatz rollen, der um diese Zeit, an einem Sonntagmorgen im November, verlassen war. Von fern waren Kieselstrand und kümmerliches Gras vor einem in der frühen Sonne glitzernden Meeresstreif zu sehen, und in der Nähe knapp viertausend Quadratmeter Asphalt, gesäumt von einer niedrigen Backsteinmauer, und eine verrammelte sommerliche Eisbude.
»Ich habe eine Videokamera«, sagte ich. »Wenn Sie Lust haben, da hineinzusprechen, zeige ich das Band Ihrem Vater, damit er mal Ihre Seite der Angelegenheit hört, und versuche, ob ich ihn dazu bringen kann, daß er Sie nach Hause läßt.«
»Das würden Sie tun?« sagte er hoffnungsvoll.
»Ja.«
Ich langte hinter meinen Sitz und nahm die Tasche mit der Kamera. »Setzen wir uns auf die Mauer«, sagte ich. »Es ist vielleicht ein bißchen kühl, aber da kriegen wir ein besseres Bild als im Auto.«
Er erhob keine Einwände, sondern kam mit und setzte sich auf die Mauer. Ich stützte die Kamera auf mein hochgestelltes Knie, fing sein Gesicht im Sucher ein und bat ihn, direkt ins Objektiv zu sprechen.
»Sagen Sie das noch mal«, soufflierte ich, »von dem Buchmacher.«
»Ich war eines Tages mit meinen Eltern beim Pferderennen und wollte wetten, und ein Buchmacher fing an zu zetern, ich sei nicht alt genug. Und Maynard Allardeck war da und meinte, das ginge schon klar, er werde mich mit seinem eigenen Buchmacher bekannt machen.«
»Was heißt, er war da?«
Hugh legte die Stirn in Falten. »Er stand da halt. Ich meine, ich wußte nicht, wer er war, aber er erklärte, er sei ein Freund von meinem Vater.«
»Und wie alt waren Sie, und wann ist das passiert?«
»Das ist ja der Hammer dabei. Ich war zwanzig. Ich meine, man kann ab seinem achtzehnten Geburtstag wetten. Seh ich aus wie siebzehn?«
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß, »Sie sehen aus wie zwanzig.«
»Im August bin ich sogar einundzwanzig geworden. Maynard Allardeck lernte ich im April kennen.«
»Seitdem haben Sie dann bei Maynard Allardecks Buchmacher gewettet ... als Stammkunde?«
»Na ja«, sagte Hugh unglücklich. »Er hat es mir so leicht gemacht, war immer so freundlich und anscheinend nie besorgt, wenn ich seine Rechnungen nicht zahlte.«
»Der Buchmacher muß erst noch geboren werden, der nicht hinter seinem Geld her ist.«
»Der hier war’s nicht«, sagte Hugh abwehrend. »Ich habe mich immer entschuldigt. Laß nur, meinte er, ich weiß doch, daß du mich eines Tages bezahlst, wenn du kannst, und gewitzelt hat er ... und mich wieder wetten lassen.«
»Er hat Sie wetten lassen, bis Sie stark verschuldet waren?«
»Ja. Mich ermutigt. Ich meine, wahrscheinlich hätte ich es wissen müssen, aber er war so freundlich, Sie verstehen. Den ganzen Sommer lang ... Flachrennen, jeden Tag ... per Telefon.«
»Und bevor das alles passierte«, sagte ich, »hatten Sie da oft gewettet?«
»Ich habe schon immer gern gewettet. Die Formen studiert. Die guten Sachen rausgepickt, so nach Gefühl. Viel gebracht hat es nie, aber wahrscheinlich ist alles Geld, das ich je hatte, auf Pferde gegangen. Hab andere am Totalisator für mich setzen lassen, als ich zehn war, und so weiter. Schon immer. Ich meine, natürlich hab ich auch oft gewonnen. Supergewinne, ziemlich oft.«
»Mm.«
»Auf dem Rennplatz wettet jeder«, sagte er. »Wofür geht man sonst hin? Ich meine, gegen ein Spielchen ist doch nichts einzuwenden, das tun sie alle. Es macht Spaß.«
»Mm«, sagte ich wieder. »Aber Sie haben jeden Tag gewettet, mehrere Wetten pro Tag, obwohl Sie nicht hingegangen sind.« »Irgendwie, ja.«
»Und dann, eines Tages«, sagte ich, »hörte der Spaß auf?«
»Beim Hove Stakes in Brighton«, sagte er. »Im September.«
»Was war damit?«
»Drei Renner. Slateroof absolut unschlagbar. Maynard Allardeck sagte mir das. Bedien dich, sagte er. Mach deine Verluste wett.«
»Wann hat er es Ihnen gesagt?«
»Wenige Tage vorher. Bei den Rennen in Ascot. Ich hatte meine Eltern begleitet, und er war zufällig auch da.«
»Und sind Sie nach Brighton gefahren?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Rief den Buchmacher an. Er sagte, einen günstigen Preis kann er mir nicht geben, Slateroof sei der Tip, das wüßte jeder. Fünf zu eins dafür. Wenn ich zwanzig setzte, könnte ich vier gewinnen.«
»Sie haben also zwanzig Pfund gewettet?«
»Nein.« Hugh sah überrascht drein. »Zwanzigtausend.«
»Zwanzig ... tausend.« Ich wahrte einen ruhigen Ton, nüchtern. »War das, ehm, zu der Zeit ein hoher Einsatz für Sie?«
»Ziemlich hoch. Ich meine, mit Fünfern kann man ja nicht viel gewinnen, oder?«
Man konnte aber auch nicht viel verlieren, dachte ich. »Was war normal?«
»Zwischen tausend und Zwanzigtausend. Ich meine, da kam ich so nach und nach hin. Ich gewöhnte mich dran. Maynard Allardeck sagte, man muß im großen denken. Ich hab mir nie überlegt, wieviel das eigentlich war. Es waren bloß Zahlen.« Er schwieg unglücklich. »Ich weiß, es hört sich blöd an, wenn ich das jetzt sage, aber mir kam das alles nicht real vor. Ich meine, ich mußte ja nie was berappen. Lief alles über Papier. Wenn ich gewann, fühlte ich mich riesig. Wenn ich verlor, hat es mich eigentlich nicht gekümmert. Sie werden das wohl nicht verstehen. Dad verstand es auch nicht. Es war ihm unbegreiflich, wie ich so dumm gewesen sein konnte. Aber mir kam es einfach wie ein Spiel vor ... und alle lächelten ...«
»Slateroof wurde also besiegt?«
»Er ist nicht mal gestartet. Er blieb plattfüßig in den Boxen stehen.«
»Ach ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Davon habe ich gelesen. Es gab eine Untersuchung, und der Jockey erhielt eine Geldstrafe.«
»Ja, aber die Wetten standen natürlich.«
»Wie ging es dann weiter?« sagte ich.
»Ich bekam die fürchterliche Rechnung von dem Buchmacher. Er habe alles zusammengezählt, sagte er, und es scheine ein bißchen auszuufern und er hätte gern sein Geld. Ich meine, das Ding war seitenlang.«
»Eine Aufstellung von sämtlichen Wetten, die Sie bei ihm abgeschlossen hatten?«
»Ja, richtig. Gewinner und Verlierer. Viel mehr Verlierer. Ich meine, da waren einige Verlierer, auf die gesetzt zu haben ich mich gar nicht erinnern konnte, obwohl er schwor, ich hätte. Er sagte, er würde es mir anhand seiner Unterlagen nachweisen, aber er fände das ein kleinliches Ansinnen von mir, wo er doch so entgegenkommend und geduldig gewesen sei.« Hugh schluckte. »Ich weiß nicht, ob er mich beschummelt hat, ich weiß es einfach nicht. Ich meine, ich hab wirklich häufiger im gleichen Rennen auf zwei Pferde gesetzt, das stimmt, aber mir war nicht klar, daß ich es so oft getan hatte.«
»Und Sie selbst hatten nicht darüber Buch geführt, wieviel Sie gesetzt hatten und auf was?«
»Hab ich nicht dran gedacht. Ich meine, das konnte ich mir doch merken. Also ich dachte, ich könnte es.«
»Mm. Tja, was dann?«
»Maynard Allardeck rief mich zu Hause an und sagte, er hätte von unserem gemeinsamen Buchmacher gehört, ich sei in Schwierigkeiten. Ob er nicht helfen könne. Er fühle sich irgendwie verantwortlich, weil er mich sozusagen da eingeführt habe. Er sagte, wir könnten uns irgendwo treffen, und vielleicht könne er die eine oder andere Lösung vorschlagen. Also traf ich ihn zum Lunch in einem Restaurant in London, und wir besprachen alles. Er meinte, ich solle meinem Vater beichten und meine Schulden von ihm bezahlen lassen, aber ich sagte, das könnte ich nicht, er würde sich viel zu sehr ärgern. Dad hatte ja keine Ahnung, daß ich soviel spielte, er hielt mir immer Vorträge über den sorgsamen Umgang mit Geld. Und ich wollte nicht, daß er sich aufregt. Also, es klingt vielleicht albern, aber der Grund war nicht eigentlich Angst, sondern, na ja, so was wie Liebe eigentlich, nur ist das schwer zu erklären.«