Die Chance, im Palace Museum die Spur der Steinteller aufnehmen zu können, schien mir groß. Der kostbare Besitz mit seinen über 250000 Katalognummern wurde in den letzten 60 Jahren mehrere Male aus Peking, seinem Stammort, verlagert: 1913, während des Aufstandes der KUOMiNTANG-Partei - 1918, während der Bürgerkriege — 1937, während des Krieges mit Japan, das Peking besetzte - 1947, als mao tse-tung mit der »Volksbefreiungsarmee« die Volksrepublik China begründete und Peking wieder zur Hauptstadt machte. Seit 1947 lagern die Kunstschätze in taipeh. Eine zierliche Visitenkarte, auf die Herr chi mit feinem Pinsel Grüße und Empfehlungen an seinen Freund chiang fu-tsung geschrieben hatte, ließ lächelnde Livrierte wortlos alle Türen bis zum Zimmer des Chefs öffnen. Der Direktor begrüßte mich in deutscher Sprache — nur, als ich mich für meine Verspätung entschuldigte, wehrte er lächelnd mit einem langen chinesischen Satz ab (Abb. 24).
24 Mit dem Direktor des palast museums, Herrn chiang fu-tsung, taipeh, führte ich mehrere aufschlußreiche und interessante Gespräche.
»Sie sind ein Freund meines Freundes, Sie sind mein Freund. Seien Sie willkommen in China. Was darf ich für Sie tun?« sagte er; während wir auf einen niedrigen Tisch zugingen, sprach er laut — zu wem? — einen Befehl. Noch ehe wir richtig Platz genommen hatten, brachten Livrierte Tassen aus hauchdünnem Porzellan und eine zierliche Kanne mit Kräutertee. Der Direktor füllte die Tassen.
Ich fiel mit der Tür ins Haus, sagte, daß mich die Funde von baian kara ula interessieren und daß ich hier in Taipeh den untersuchungsbericht der Naturwissenschaftler über die Steinteller einsehen möchte. Eine kalte Dusche prasselte auf mich nieder, als Herr chiang erklärte, daß dieser umfängliche Bericht die Odyssee des Museums nicht mitgemacht habe, daß er in der Pekinger Akademie, zu der er keinen Kontakt habe, aufbewahrt werde. Er sah mir meine grenzenlose Enttäuschung an, konnte mir aber zunächst auch mit seinen weiteren Mitteilungen nur geringen Trost geben. »Ich bin über Ihre Bemühungen informiert. Sie graben sich in die Prähistorie der Völker ein. Ich kann Ihnen da nur mit unserem Urahn dienen, dem sinanthropus, der im Tal von chou-k'-ou-tien, 40 km südwestlich von Peking, erst im Jahre 1927 gefunden wurde. Dieser sinanthropus pekinensis, der Peking-Mensch, soll nach Meinung der Anthropologen dem homo heidelbergien-sis ähnlich sein, auf jeden Fall aber der chinesischen Rasse, wie sie heute in 800 Millionen Exemplaren existiert. Der Peking-Mensch soll aus dem mittleren Plei-stozän stammen, also etwa 400 000 Jahre alt sein. Danach gibt es keine eigentliche Prähistorie mehr.« Erst aus dem dritten Jahrtausend v. d. Z., erklärte der Direktor, gebe es dann wieder Zeugnisse jungsteinzeitlicher Kulturen in Nordchina, die YANG-SCHAO-Kultur am huangho: bemalte Bandkeramik. Um das zweite Jahrtausend v. d. Z. folge die MA-TSCHANG-Kultur, die Schwarzkeramik-Kultur, die Stein- und Kupferkultur von tsch'eng-tse-ai von schantung bis zum Beginn der Bronzezeit mit üppiger Ornamentik: t'ao-tie, dem Viefraßkopf - lei-wen, mit seinen rechtwinklig gebrochenen Donnerdarstellungen. Vom 15-11. Jahrhundert gäbe es dann eine hochentwickelte Schrift mit über 2000 Wortzeichen in Bildern und Symbolen, die als Orakelinschriften entziffert wurden. Chinesische Herrscher aller Zeiten, »Söhne des Himmels«, hätten den Auftrag gehabt, für den geordneten Ablauf des Naturgeschehens zu sorgen.
»Soweit ich informiert bin, ich bin kein Prähistoriker, findet sich im Reich der Mitte nichts, was Ihre spezielle Phantasie beflügeln könnte, keine Steinfäustlinge, keine anderen primitiven Werkzeuge, ja, nicht einmal Spuren von Höhlenmalereien. Die ältesten beschrifteten Knochen wurden nach 3000 v. d. Z. datiert. . .« »Was steht auf den Knochen?«
»Bisher konnten die Inschriften nicht entziffert werden.« »Sonst gibt es nichts?«
»Eine einzige Vase, sie wurde in anyang bei honan ausgegraben. Sie konnte auf 2800 v. d. Z. datiert werden.« »Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber dieses alte chinesische Volk muß doch Zeugnisse seiner Vorgeschichte haben! Es muß doch eine Entwicklung aus vorgeschichtlicher in geschichtliche Zeit zu belegen sein. Gibt es keine mysteriösen Ruinen, keine zyklopischen Mauerreste?« »unsere chinesische Geschichte läßt sich lückenlos bis zum Kaiser huang ti zurückverfolgen, und der lebte 2698 v. d. Z. Damals schon, und das ist bewiesen, war der Kompaß bekannt. Also kann die Zeit nicht mit huang TI begonnen haben! Was vorher war, lieber Freund, das steht in den Sternen!«
»Wieso: in den Sternen?«
Gab es doch noch ein Bonbon für mich in diesem Gespräch? Es gab eines. Herr chiang lächelte: »Nun ja, da gibt es Legenden von fliegenden Drachen. Seit eh und je ist der Drache das chinesische Symbol für Göttlichkeit, für unerreichbarkeit und unbesiegbarkeit. p'an ku (Abb. 25) heißt der Erbauer des chinesischen
25 Chinesische Federzeichnung vom Gott p'an ku, legendärer Sohn des Chaos und Erbauer des chinesischen Universums: er soll die Welt aus Granitbrocken erbaut haben, die aus dem Weltall heranflogen.
Universums in der Legende, er schuf die Erde aus Granitblöcken, die er fliegend aus dem All kommen ließ, er teilte die Wasser, und er stieß ein riesiges Loch in den Himmel, er halbierte den Himmel in die östliche und westliche Hemisphäre . . .«
»War das vielleicht ein himmlischer Regent, der in Raumschiffen am Firmament erschien?« »Nein, mein Freund, von Raumschiffen weiß die Legende nichts, sie spricht immer nur von Drachen, aber sie bezeichnet p'an ku als den Bezwinger des Chaos im All, er schuf das yin yang, die Vorstellung von den dualen Kräften in der Natur, yang steht für die männliche Kraft und den Himmel - yin für die weibliche Schönheit und die Erde. Alles, was im Kosmos oder auf der Erde geschieht, wird einem der beiden Symbole, die tief in die kosmologische chinesische Philosophie eingegangen sind, zugeordnet.«
Jeder Herrscher, »Sohn des Himmels«, soll der Legende zufolge 18000 Erdenjahre erlebt haben, und p'an ku sorgte, diese Daten skeptisch akzeptierend, vor 2 229 000 Jahren für himmlische Ordnung. Vielleicht hat man sich bei diesen astronomischen Rückrechnungen um einige Jahre geirrt — was macht das schon bei einem solchen Stammbaum?
p'an ku, dessen Legende über ganz China verbreitet sein soll, wird in verschiedenen Gegenden verschieden dargestellt, kaum verwunderlich bei der unendlichen Größe dieses Landes von 9561 000 qkm Fläche! Mal ist er ein Wesen mit zwei Hörnern auf dem Kopf und einem Hammer in der rechten Hand - mal erscheint er als Drache, der die vier Elemente bezwingt - mal hält er die Sonne in der einen, den Mond in der anderen Hand -mal bearbeitet er, von einer Schlange beobachtet, Felswände.
Tatsächlich soll die P'AN-KU-Legende in China nicht so alt sein wie der kräftige Mann selbst: erst im sechsten Jahrhundert v. d. Z. sollen Reisende die Legende aus dem hinterindischen Königreich siam (Thailand) mit nach China gebracht haben.
»Als >Vater der Dinge< bezeichnet die chinesische Mythologie yan shih tien-tsun«, sagte der Direktor. »Er ist das Sein, das sich nicht ergründen läßt, der Anfang und das Ende aller Dinge, das Höchste und unvorstellbare im Himmel. Er wird in späteren Zeiten auch yü ch'ing genannt. Wenn Sie drüber schreiben, müssen Sie darauf hinweisen, daß yü ch'ing nicht mit dem mystischen Kaiser yü verwechselt wird, der die große Flut, die Sintflut, bezwungen haben soll. - Kennen Sie die Legende von yan shih tien-wang?«
Ich kannte sie nicht. Der Direktor holte einen Band des DICTIONARY OF THE CHINESE MYTHOLOGY vom Bücherbord.
»Da, lesen Sie die Geschichte im Hotel! In dem Dictionary werden Sie einige für Ihre Betrachtungsweise faszinierende Geschichten finden wie beispielsweise die Legende der Göttin chih nü. Sie war die göttliche Patronin der Weber. Ihr Vater schickte die junge Tochter zum Nachbarn, der am >Silberstrom des Himmels<, gemeint ist wohl die Milchstraße, Wache hielt. - chih nü wuchs heran und wurde sehr hübsch, Tage und Nächte verbrachte sie mit Spielen und Lachen, nie habe es im Himmel eine verrücktere und wildere Liebhaberin gegeben als chih nü. Der Sonnenkönig wurde des Treibens überdrüssig, und als sie von ihrem Wächter-Freund auch noch ein Kind gebar, befahl er dem feurigen Liebhaber, sich am anderen Ende des Silberstromes zu postieren, um dann die schöne chih nü nur noch einmal im Jahr, in der siebenten Nacht des siebenten Monats, wiederzusehen ...«