»Unsere Sozialisten sind aus den Petraschewzen hervorgegangen. Die Petraschewzen haben viele Samen ausgestreut« – hat Dostojewski selbst einmal in seinen letzten Lebensjahren gesagt. Wie aber der Boden zur Aufnahme dieses Samens vorbereitet wurde, darauf weist Dostojewskis Frage hin: »Kann denn der russische Jüngling dem Einfluß – des fortschrittlichen europäischen Gedankens – und besonders der russischen Seite ihrer Lehren gegenüber gleichgültig bleiben?... Eine solche russische Seite dieser Lehren gibt es tatsächlich. Sie besteht aus Schlußfolgerungen in Gestalt unerschütterlicher Axiome, wie sie nur in Rußland gezogen werden.« Diese russischen Schlußfolgerungen aus den europäischen Lehren waren immer deren äußerste Konsequenz, waren Folgerungen, die schließlich, wie Dostojewski 1876 schreibt, »... Verneinung Europas und seiner Kultur führten, dieser Kultur, die in vielem, in gar zu vielem der russischen Seele fremd ist.«
In der neuesten europäischen Lehre – dem Sozialismus – erfordert nach L. von Stein unsere größte Aufmerksamkeit »... Kritik der gegenwärtigen Zivilisation«... – »Aber diese gegenwärtige Zivilisation ist ja... eine europäische Zivilisation«, folgerten alsbald einzelne bei uns, »... wurzelt ja in der europäischen Vergangenheit, in den Grundlagen der europäischen Geschichte. Bei uns aber« – so entschlossen sich einige, weiterzudenken – »... uns sind die Grundlagen der geschichtlichen Vergangenheit ganz andere; um so weniger Wert hat für uns diese Zivilisation, und um so mehr Wert hat für uns das, was sich gegen sie erhebt.«
So sah Dostojewski in der Geschichte unserer sozialistischen Bewegung – als einer, der zu Anfang an derselben unmittelbar beteiligt gewesen war und als tiefer Psychologe – einerseits eine rückhaltlose Hingabe an Europa, und andererseits die geheime Gegenwehr unserer russischen Natur gegen dieses Europa, das uns überwältigen wollte. In dieser Doppelseitigkeit der Beziehung liegt vielleicht die Erklärung dafür, daß die Bewegung, wie Dostojewski sagt, »sich bis heute fortsetzt und keineswegs die Absicht zu haben scheint, stehen zu bleiben...«
Und nun – nach so viel verehrten europäischen Namen und von uns aufgenommenen Ideen – vernimmt man plötzlich von einem Manne wie Louis Blanc diesen Ausbruch des Unwillens gegen eine solche europäische Koryphäe wie Voltaire: »Non, Voltaire n'aimait pas assez le peuple«, usw. Als Bjelinski das las, entfuhr ihm unwillkürlich der Ausruf: »Alle Heiligen! Das ist ja Schewyreff!«Moskauer Gelehrter aus dem Kreise der eng-nationalen slawophilen Romantiker und Orthodoxen. E. K. R. Denn Bjelinski war und blieb bei all seinem Sozialismus bis an sein Lebensende ein glühender Verehrer der europäischen Kultur, weshalb ihn ein solches Urteil abstoßen mußte. Andere dagegen konnte dieser Umstand, daß Louis Blanc an »Schewyreff« gemahnte, nur um so mehr anziehen – den einen bewußt und offen, den anderen unbewußt und in Unklarheit über sich selbst.Hier sei erwähnt, daß auch heute (1882) L. Beaulieu... eine Übereinstimmung unserer »Sozialisten« und »Slawophilen« in ihrem »gemeinsamen Abscheu vor der europäischen Gesellschaft« erblickt. O. M.
A. P. Miljukoff, der im Winter 1848 gleichfalls zu dem kleinen Kreise gehörte, der bei dem Kollegienassessor a. D. und Schriftsteller DuroffSergej Duroff, Petraschewze, Mittelpunkt eines besonderen »Kreises.« E. K. R. zusammenkam, erzählt, daß man aus Dostojewskis Urteilen immer den Verfasser der »Armen Leute« erkennen konnte, und daß er sich stets gegen alle Maßnahmen, die geeignet waren, irgendwie das Volk zu bedrücken, ausgesprochen habe. Als man einmal die Frage erörterte, ob die Befreiung der Bauern »... unten oder von oben kommen werde, und jemand die Ansicht äußerte, die Aufhebung der Leibeigenschaft auf gesetzlichem Wege sei höchst zweifelhaft, äußerte Fjodor Michailowitsch schroff, daß er an keinen anderen Weg glaube«. An diese Erinnerung schließt sich die Aussage des Leutnants der Leibjäger A. PalmAlexander Palm, gleichfalls Petraschewze, wie die Träger der weiterhin genannten Namen. E. K. R. an, nach der Dostojewski, als die Debatte sich zu der Frage zugespitzt hatte: »Nun, wenn es sich aber zeigt, daß man die Bauern nicht anders als durch einen Aufstand befreien kann?« mit der ihm eigenen Empfänglichkeit für jeden Eindruck ausgerufen habe: »Dann, meinetwegen, auch durch einen Aufstand!«
Überhaupt scheint der Kreis um Duroff aus recht hitzköpfigen jungen Leuten bestanden zu haben. Diese Tollköpfigkeit verleitete sie u. a. zu der unvorsichtigen Absicht, eine geheime Druckerei zwecks Vervielfältigung und Verbreitung von Reden und Schriften anzulegen, – eine Unvorsichtigkeit, mit der Petraschewski sehr unzufrieden war, da sie bei den damaligen Zensur- und Polizeiverhältnissen durchaus nicht als ein unschuldiges Unterfangen angesehen werden konnte. Im übrigen schildert der erwähnte Leutnant A. Palm in seinem Roman »Alexei Sslobodin« nicht nur eben diesen Kreis, sondern er hat auch, wie er mir selbst sagte, der Gestalt des Sslobodin einzelne Züge des jungen F. M. Dostojewski verliehen. So finden wir in der Wiedergabe der Debatten die folgende Stelle:
»... einen traten mutig für die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen ein; die anderen sahen das ganze Heil in der Freiheit der Presse; die dritten proklamierten das Wahlrecht« usw. »... Da sagte Sslobodin leise und langsam: ›Die Befreiung der Bauern wird zweifellos der erste Schritt in unsere große Zukunft sein‹. Diese Worte, die in dem ruhigen Tone einer schon längst gewonnenen und abgeklärten Überzeugung gesagt wurden, wirkten stark auf die erhitzten Streiter und versöhnten alle Meinungen.«
Und an einer anderen Stelle des Romans, wo der Streit den politischen Umschwung in Frankreich berührt, äußert Sslobodin:
»... politische Fragen interessieren mich wenig... es ist mir, offen gestanden, ganz gleichgültig, wen sie dort bekommen – Louis Philippe oder irgend einen Bourbonen, oder meinethalben auch die Republik... Wem ist damit geholfen? Das Volk gewinnt ein Paar wohltönende Phrasen, wird auf der Liste seiner Märtyrer ein paar neue Namen hinzufügen können, und am Ende wieder dieselbe Arbeit aufnehmen, die nur dem Bourgeois einen Gewinn einbringt, – folglich wird das Leben nicht um ein Haar dadurch besser werden... Nein, ich glaube nicht, daß dieses Spiel mit alten politischen Formen irgendwelchen Nutzen bringen kann.«
Es entspricht dies übrigens der Lehre Fouriers und stimmt mit dem überein, was Miljukoff in seinen Erinnerungen an Dostojewski berichtet. Nur seiner Bemerkung, daß Dostojewski die sozialistischen Schriftsteller zwar gelesen, sich aber kritisch zu ihnen verhalten habe, muß die Aussage von I. DesbutIn den Anklageakten wird von dem »Petraschewzen« Ippolit Desbut gesagt, er habe die Absicht gehabt, Fourier zu übersetzen. Desbut bestreitet das: an eine regelrechte Übersetzung wäre gar nicht zu denken gewesen, da Fourier für das lesende Publikum viel zu schwer sei. O. M. gegenübergestellt werden, nach der Dostojewski jene Schriften gar nicht selbst studiert hat, vielmehr nur mit ihrem Inhalt durch ChanykoffAlexander Chanykoff, gleichfalls »Petraschewze«, gehörte dem Kreise an, der sich innerhalb der Studentenschaft gebildet hatte. Die Zugehörigen dieses Kreises wurden »... Fourieristen« genannt. E. K. R. bekannt geworden ist.