Aus manchem geht hervor, daß Dostojewski eine Gefahr für das russische Volk nicht nur in den offiziellen Regierungskreisen sah. Wie von anderer Seite verlautet, soll er sogar zu einer unmittelbaren Annäherung an die Unzufriedenen im Volk bereit gewesen sein. »Sslobodin« knüpft in dem erwähnten Roman von Palm Beziehungen zu der Sekte der Raskolniki an. Auch nach der Aussage eines »Petraschewzen« (d. h. eines der in dem Fall Petraschewski Mitverhafteten) hat Dostojewski tatsächlich an eine Annäherung an die Raskolniki gedacht. Aus den Untersuchungsakten geht nur hervor, daß Dostojewski »eingesteht, sich an Gesprächen über die Möglichkeit einzelner Veränderungen und Verbesserungen beteiligt zu haben, jedoch aussagt, daß sein Vorsatz gewesen sei, die Einführung dieser Veränderungen und Verbesserungen von der gesetzmäßigen Regierung abzuwarten«. Welche Veränderungen und Verbesserungen er eigentlich anstrebte, ist nicht gesagt, aber daß sie für die meisten hauptsächlich auf die Befreiung der Bauern hinausliefen, ist aus dem Verhör GolowinskisWassily Golowinski, Petraschewze. E. K. R. zu ersehen, der »zwar einmal in der Hitze gesagt hat, daß zu diesem Zweck jedes Mittel recht sei, im allgemeinen sich aber über die Bauernbefreiung in dem Sinne geäußert haben will, daß die Regierung diese ja kraft ihres autokratischen Rechts einfach verfügen könne«.
Nun war aber in den Augen mancher Mitglieder der Untersuchungskommission schon der Wunsch, die Bauern befreit zu sehen, ein Verbrechen, selbst wenn man die Tat von der gesetzmäßigen Regierung erwartete; und überdies mögen manche Aristokraten unter ihnen wie auch unter den Richtern sich von gewissen Gefühlen des Adels zu besonderer Strenge haben verleiten lassen, von Gefühlen, denen gerade die hierbei der Autokratie als solcher zugewiesene Machtvollkommenheit in der Frage der Bauernbefreiung unerwünscht war.Diesen feudalen Standpunkt eines Teiles bei Großgrundbesitzer läßt Dostojewski später in den »Dämonen« in der Stellungnahme des Adels zu dem Manifest vom 19. Februar 1861, mit dem Alexander II. die Leibeigenschaft endlich aufhob, durchblicken. E. K. R.
Dagegen hätte man an Petraschewski selbst einzelne Züge entdecken können, die geeignet waren, den Landadel zu bestechen (und vielleicht hatte es Petraschewski gerade darauf abgesehen). Eine 1848 von ihm verfaßte und bei Gelegenheit der Adelswahlen unter vielen Adligen verteilte Denkschrift war offiziell als schädlich anzusehen, da sie immerhin die Absicht verfolgte, den Adel aufzuwiegeln. Aber dieselbe Denkschrift fand bei vielen der Petraschewzen selbst nicht den geringsten Anklang – besonders bei den Offenen und Unverfälschten nicht, die unfähig zu einer Handlung waren, die man heute Opportunismus nennt.
Einer von ihnen, Kaidanoff, äußerte sich denn auch sogleich über diese Denkschrift in einem Briefe: »... ich kann mit Petraschewskis Plan nicht sympathisieren, ebensowenig mit allem, was zu Merkantilfeudalismus und zur Finanzaristokratie führt... mich interessiert die Preissteigerung der Adelsgüter nicht im geringsten« (davon handelte nämlich die Denkschrift), »vielmehr sollten die Preise mehr und mehr zurückgehen, damit der Staat auf diese Weise die Möglichkeit erhält, die Güter von den Gutsbesitzern zu erwerben«. Und Chanykoff rief ohne weiteres aus: »... ist ja Verrat!« Petraschewskis Erklärungen, er habe durch die Verquickung des agrarischen Problems mit den finanziellen Interessen des Adels zunächst nur erreichen wollen, daß auch Personen der anderen Stände das Recht zum Erwerb von Gütern mit Leibeigenen erhielten, was dann, nach seiner Meinung, die Lösung des Bauernproblems nur erleichtern konnte, – diese Erklärungen befriedigten die »Fourieristen« ganz und gar nicht. Jedenfalls weist Petraschewski darauf hin, daß »dieses Problem (die Bauernemanzipation) nicht gelöst werden kann ohne vorhergehende Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Gerichtsverfahrens«. AchscharumoffSchriftsteller, gleichfalls Petraschewze. E. K. R. dagegen war der Ansicht – und soll, wie verlautet, auch Petraschewski zu ihr bekehrt haben –, daß alle diese Probleme an ein und demselben Tage gelöst werden müßten.
Auch die früheren Verschwörer hatten ein »Vorstadium« im Auge gehabt – zunächst eine vollkommene Änderung der Regierungsform. Nicht grundlos hat Dostojewski gesagt: »... Idee der Dekabristen war, die Autokratie zu beschränken: Lords zu werden. Sie wollten« – das erkennt er an – »... Bauern befreien, aber ohne Zuteilung von Land«. Und natürlich wäre es auch so gekommen, wenn sie ihr »Vorstadium« erreicht hätten.Allerdings gab es unter den Dekabristen auch einzelne, die weiter sahen – z. B. Rylejeff (es geht das Gerücht, auch Pestel habe an Zuteilung von Land gedacht). Aber sie alle wollten als erstes die Konstitution, bei einer solchen aber wäre natürlich die Minderheit, die in die Zuteilung von Land eingewilligt hatte, der Mehrheit gegenüber machtlos gewesen. O. M.
Zur Kennzeichnung des Unterschiedes der Stellungnahme Petraschewskis sei hier angeführt, wie in dem von ihm (unter dem Pseudonym Kirilloff) herausgegebenen Fremdwörterbuch das Wort »Konstitution« erklärt ist, – wobei dahingestellt bleiben muß, ob die Erklärung von ihm selbst oder von seinem Mitarbeiter, dem verstorbenen Walerian Maikoff, verfaßt wurde:
»Konstitution: diese Regierungsform war in den westlichen Staaten die Folge einer starken Ständeentwicklung... Ihre Anhänger behaupten, sie gründe sich auf das Recht jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft, an der Verwaltung jenes Ganzen, wovon er ein Teil ist, mitbeteiligt zu sein; doch in der Praxis ist dieser Grundsatz in großen Staaten nicht zu verwirklichen. Überall zwingt die Notwendigkeit, die Zahl der Personen zu begrenzen, die das Recht haben, einen Abgeordneten einer Provinz oder eines Standes zu wählen. Da aber das einzige Maß, an das man sich überall hält, die Größe des Besitzes des Staatsbürgers ist, so ist diese gepriesene Regierungsform in der Praxis nichts anderes als eine Aristokratie des Reichtums... Die Anhänger der Konstitution vergessen, daß der Charakter des Menschen nicht im Besitz, sondern in der Persönlichkeit enthalten ist, und daß sie, indem sie die politische Macht der Reichen über die Armen anerkennen, damit die größte Despotie verteidigen. 200 000 Reiche, die 33 Millionen Unbemittelte und Arme regieren, ist dasselbe wie die Kaste der atheniensischen oder römischen Bürger, die in Luxus und Wohlleben schwelgten, indem sie die Persönlichkeit von Millionen von Menschen niedertraten.«
Merkwürdigerweise findet sich eine Art »Vorstadium« auch bei dem Gegner der Dekabristen, Karamsin: für ihn lag es in der Volksbildung und ging zurück auf Rousseaus »Zuerst muß man die Seelen befreien, dann die Leiber«. So haben denn bei uns die Anhänger verschiedener Richtungen die Notwendigkeit eines sogenannten »Vorstadiums« anerkannt.
Doch daran dachten die »Durowzy«, zu denen auch Dostojewski gehörte, ganz und gar nicht, wie es auch die Folgerichtigen der »Fourieristen« nicht taten, und wie daran im XVIII. Jahrhundert auch RadischtscheffRadischtscheff, Verfasser der »Reise von Petersburg nach Moskau«, die zum ersten Male auf die furchtbaren Leiden der leibeigenen Bauern hinwies, ein ganz unpolitisches, ein rein sentimentales Buch, für das der Verfasser zum Tode verurteilt und dann zur Verbannung nach Sibirien begnadigt wurde, E. K. R. nicht gedacht hat (deshalb hat sich wohl auch unsere junkerlich-bürokratische Opposition an ihm, dem schon längst Verstorbenen, gerächt, indem sie in einer Zeit, als die Bauern bereits befreit waren, seine Werke offiziell verbrannte).