Aus diesem ganzen überaus umfangreichen Material, das von Dostojewski in publizistischer Form vorliegt (also aus seinen Beiträgen in der Monatsschrift »... Zeit«, wie aus den Beiträgen im »Bürger« und den Monatsheften »Tagebuch eines Schriftstellers«) wurden für die deutsche Ausgabe zunächst die erwähnten ausgesprochen dichterischen Arbeiten ausgeschieden und die Erzählungen den entsprechenden Novellenbänden, Band 20 und 22, zugewiesen. Ferner wurden die »Kleinen Bilder«, Skizzen und Beobachtungen aus dem russischen Volksleben und europäischen Völkerleben zu einem 24. Bande vereint. Schließlich wurde für die kriminalpsychologischen Studien, die Dostojewski in den Jahren seiner publizistischen Tätigkeit verfaßt hat, Band 23 der deutschen Ausgabe vorgesehen: »Russische Prozesse«. Der ganze große verbleibende Rest des nunmehr nur publizistischen Materials wurde sodann nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet. Auf diese Weise wurden die »Autobiographische Schriften«, Band 11, »Literarische Schriften«, Band 12 und »Politische Schriften«, Band 13 der deutschen Ausgabe gewonnen, während ein letzter, der 25. Band der deutschen Ausgabe denjenigen Aufsätzen vorbehalten blieb, die im wesentlichen als Studien oder Vorläufer späterer Artikel zu betrachten sind.
E. K. R.
Vorbemerkungen
Für die »Autobiographischen Schriften« wurden diejenigen Aufsätze Dostojewskis aus den Jahren 1863, 1873,1876 und 1877 herausgezogen, die lebensgeschichtliche Erinnerungen des Dichters enthalten. Die Anordnung dieses Materials geschah jedoch nicht in der Reihenfolge, in der sich diese Erinnerungen zeitlich aneinanderknüpfen, sondern in derjenigen, in der die Aufsätze entstanden sind. Auf diese Weise ließ sich die entwicklungsmäßige, nicht unwesentliche Veränderung der Stellungnahme Dostojewskis zu Menschen und Ideen am besten veranschaulichen.
Dem Bande vorangestellt wurden die »Materialien zur Lebensbeschreibung Dostojewskis«, die der Literaturhistoriker Orest Miller 1882, nach dem Tode des Dichters, zusammengestellt hat. Miller, dem von der Geheimpolizei zum erstenmal ein allerdings bedingter Einblick in die Akten des Petraschewski-Prozesses gewährt wurde, hat alle ihm erreichbaren Briefe Dostojewskis, sowie Aussagen und Aufzeichnungen über Dostojewski zu einem umfangreichen Bericht zusammengetragen, der einen Überblick über das Leben des Dichters von seiner frühesten Jugend bis in den Anfang der sechziger Jahre gibt. Dieser Bericht findet seine Fortsetzung in dem Überblick über die zweite Hälfte von Dostojewskis Leben, von 1861-81, den damals, 1882, N. N. Strachoff gab, der dieses Leben zunächst als mehrjähriger publizistischer Mitarbeiter Dostojewskis geteilt, später als Freund miterlebt hatte. Dieser zweite Teil der Lebensgeschichte Dostojewskis wurde den »Literarischen Schriften«, Band 12 der deutschen Ausgabe, beigegeben.
Von Dostojewskis Briefen – die intimeren sind noch unveröffentlicht im Besitze seiner Witwe –, aus denen Miller manche Stellen anführt, ist eine Auswahl in dem Sonderbande »F. M. Dostojewski. Briefe. Mit Bildnissen und Berichten der Zeitgenossen« erschienen. Zu diesen Berichten der Zeitgenossen gehören unter anderen auch die von Miller erwähnten und benutzten Erinnerungen an Dostojewski, die D. W. Grigorowitsch, A. P. Miljukoff und Baron Alexander Wrangel aufgezeichnet haben.
E. K. R.
Zur Lebensgeschichte Dostojewskis Kindheit und Jugend
Fjodor Michailowitschs Geburtstag war der 30. Oktober, doch sein Geburtsjahr war nicht, wie er selbst irrtümlicherweise glaubte und angab, das Jahr 1822, sondern, wie wir aus dem Kirchenbuch ersehen, das Jahr 1821. Am 4. November wurde er getauft und erhielt den Namen seines Großvaters mütterlicherseits, des Moskauer Kaufmanns Fjodor Timofejewitsch Netschajeff.
Eine der ersten Kindheitserinnerungen Fjodor Michailowitschs war: wie eines Abends die Kinderfrau ihn als ungefähr Dreijährigen ins Besuchszimmer zu den Gästen geführt, vor den Heiligenbildern hatte hinknien und sein Abendgebet hatte hersagen lassen: »Alle Zuversicht, Herr, lege ich auf dich. Mutter Gottes, behalte mich unter deinem Schutz.« Den Gästen gefiel das sehr, und sie sagten, indem sie ihn streichelten: »... für ein kluger Junge!« Dieses Erlebnis hatte sich für immer seinem Gedächtnis eingeprägt und jenes Gebet hat er später seine eigenen Kinder als Abendgebet sprechen gelehrt. Auch behielt er immer in der Erinnerung, wie streng er und seine Geschwister von klein auf erzogen worden waren und wie früh schon das Lernen begonnen hatte. Bereits als Vierjährigen setzte man ihn vor ein Buch und dann hieß es: »Lerne!« – während es draußen so schön war, so warm, und der große schattige Garten des Hospitals so lockte! Doch wenn der Vater seine Kranken in der Stadt besuchte, dann pflegte es wohl zu geschehen, daß die Mutter die Kinder befreite und wieder spielen ließ.
Die anschaulichste Vorstellung von der Kindheit Fjodor Michailowitschs geben uns die Aufzeichnungen seines jüngeren Bruders Andrei Michailowitsch, die deshalb im Wortlaut hier eingeschaltet seien.
»Mein Bruder Fjodor Michailowitsch war drei Jahre und viereinhalb Monate älter als ich, da er aber – zusammen mit meinem ältesten Bruder – erst im Mai 1837 von meinem Vater nach Petersburg gebracht wurde, so habe ich seine Kindheit ungefähr von meinem 5. bis 12. oder von seinem 8. bis 15. Lebensjahr miterlebt und kann mich ihrer noch sehr gut erinnern.
»Unser Vater, der Stabsarzt Michail Andrejewitsch Dostojewski, war nach Absolvierung der damals in Moskau bestehenden Medizinischen Akademie im Jahre 1812 als Arzt in den Militärdienst getreten und hatte nach dem Kriege eine Anstellung am Moskauer Militär-Hospital erhalten.
»Im Jahre 1819 heiratete er die Tochter des Moskauer Kaufmanns Fjodor Timofejewitsch Netschajeff, Marja Fjodorowna. Im Jahre 1820 wurde unser ältester Bruder Michail geboren. Ende desselben Jahres trat unser Vater aus dem Militärdienst in den Zivildienst über und kam als Arzt, mit dem Titel eines Stabsarztes, an das Moskauer Marienhospital. Dort ist dann unser Bruder Fjodor und sind nach ihm alle übrigen Geschwister, mit Ausnahme der jüngsten Schwester, zur Welt gekommen.
»... Wohnung, die unser Vater daselbst erhielt, lag im Erdgeschosse. Wenn man die heutigen Dienstwohnungen beamteter Personen von gleichem Range mit den damals gewährten Räumlichkeiten vergleicht, so fällt es einem unwillkürlich auf, wieviel sparsamer man in der Beziehung früher war. Unsere Wohnung bestand eigentlich nur aus zwei Zimmern, außer dem Vorzimmer und der Küche. Das dem Eingange zunächst liegende, wie gewöhnlich einfenstrige Vorzimmer wurde durch eine vom Tischler hergestellte Scheidewand in zwei Räume geteilt; in dem auf diese Weise gewonnenen zweiten halbdunklen Zimmerchen schliefen die beiden ältesten Brüder, Michail und Fjodor. Aus dem Vorzimmer trat man in den sogenannten Saaclass="underline" ein ziemlich großes Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße und drei Fenstern auf den Vorhof. Das folgende zweite Zimmer hatte zwei Fenster zur Straße und war gleichfalls durch eine Scheidewand in zwei Hälften geteilt, von denen die halbdunkle den Eltern als Schlafraum diente. Späterhin, als unsere Familie größer wurde, erhielten wir noch ein Zimmer. Die Einrichtung der Wohnung war sehr bescheiden. Das Vorzimmer mit dem abgeteilten Schlafraum der Brüder war mit dunkelgrauer, der Saal mit hellgelber und das elterliche Schlafzimmer mit blauer Leimfarbe angestrichen. An Möbeln standen im Saal zwei Lhombre-Tische (obgleich in unserer Familie nie Karten gespielt wurde), an denen die älteren Brüder lernten, ein Eßtisch und ein Dutzend Stühle aus Birkenholz mit weichem Sitz (aber natürlich ohne Sprungfedern), der mit grünem Saffian bezogen war. Dieser Saal war unser Wohnzimmer, wo wir lernten und spielten, zu Mittag speisten und Tee tranken. Das andere Zimmer dagegen war unser Erholungsraum. Hatten wir unsere Aufgaben beendet, so saßen wir dort bei den Eltern.«
Nach den Aussagen anderer Verwandten versammelte die Familie sich dort um einen runden Tisch, die Mutter arbeitete und die Kinder lasen vor. Fjodor Michailowitsch hat mehrfach davon gesprochen, daß sie, die Kinder, jedesmal fortgeschickt wurden, wenn an diesem Tisch geschneidert oder Stoff zugeschnitten werden sollte, weshalb ihm Schneiderei im Hause sein Leben lang unangenehm war.