Seine Untersuchungshaft in der Peter Paulsfestung dauerte acht Monate. In den zwei ersten Monaten tat er nichts, dann aber erhielten die Angeklagten Bücher religiösen Inhalts und durften schreiben. Man ließ sie eine Viertelstunde lang auf dem kleinen Hof spazieren, jeden einzeln, und unter militärischer Bewachung. Mit seinem Zellennachbarn, dem Studenten Filippoff, konnte Dostojewski sich ein wenig durch Klopfen an die Wand verständigen. Nach der Aussage Jastrshemskis, der die Haft in demselben sogenannten Alexejewschen Außenwerke verbrachte, sind die Lebensbedingungen in hygienischer Hinsicht zufriedenstellend gewesen: »gute Luft, Sauberkeit, gesunde Kost«. Tatsächlich ist von den Petraschewzen niemand an der Cholera, die in jenem Sommer äußerst heftig in Petersburg auftrat, erkrankt; doch die gute Luft hinderte nicht, daß Jastrshemskis Filzhut in der Feuchtigkeit der Zelle verschimmelte. Am schwersten war wohl die Einsamkeit zu ertragen. Nach Desbut hat diese Einsamkeit das Mitleid ihres Korridorwächters (eines älteren Garnisonsoldaten) erweckt. Dann und wann öffnete er vom Korridor aus das kleine Fenster in der Kasemattentür und sagte zu dem einsamen Gefangenen: »... habt wohl Langeweile? Haltet aus! Auch Christus hat gelitten. Wofür man euch nur eingekerkert haben mag? Alle seid ihr so still, und sonst ist hier doch lauter so stürmisches Volk.«
Aus dieser Zeit haben sich ein Paar Briefe Fjodor Michailowitschs an seinen älteren Bruder, der inzwischen aus der Haft entlasten worden war, erhalten. Am 18. Juli schreibt er auf den Zuspruch hin, nicht zu verzagen: »... aber ich verzage ja gar nicht... Manchmal hat man sogar das Empfinden, als habe man sich an ein solches Leben schon gewöhnt und als sei einem alles eins... aber... manch anderes Mal kommt das frühere Leben wieder mit all seinen Eindrücken und flutet nur so in die Seele hinein... Ich habe drei Erzählungen und zwei Romane ausgedacht, an dem einen schreibe ich jetzt...« Es war das die Erzählung »... kleine Held«. Damals nannte er sie eine Kindergeschichte; in späteren Jahren sagt er einmal zur Erklärung: »... konnte dort nur das Unschuldigste schreiben«. Am 27. August teilt er dem Bruder mit: »... man hat mir wieder erlaubt, im Garten zu spazieren, in dem es fast siebzehn Bäume gibt. Das ist für mich ein großes Glück. Außerdem bekomme ich jetzt abends eine Kerze: Dies ist mein zweites Glück. Das dritte Glück werde ich erleben, wenn du mir möglichst bald antwortest und das nächste Heft der »Vaterländischen Annalen« schickst...« Am 14. September dankt er dem Bruder für die zugesandten zehn Rubel und die Bücher: »... geben mir doch wenigstens Zerstreuung. Jetzt sind es schon bald fünf Monate, daß ich nur von eigenen Mitteln lebe, d. h. nur von meinem Kopf... Das ewige Denken und immer nur Denken ist schwer! Ich befinde mich gleichsam unter einer hermetisch abschließenden Glocke, aus der die Luft herausgepumpt wird...«
Die mutige Ruhe, die Fjodor Michailowitsch in seiner Lage bewahrte, seine Geduld und Ausdauer sind um so bemerkenswerter, als er, nach seinen eigenen Worten, vor dieser Katastrophe »... zur Krankhaftigkeit hypochondrisch« war, alle möglichen Leiden in sich vermutete, vor lauter Argwohn tatsächlich kränkelte und sich mit Senfpflastern zu kurieren suchte. Aus Andrei Michailowitschs Aufzeichnungen wissen wir, daß Fjodor Michailowitsch oft vor dem Einschlafen einen Zettel hinlegte, auf dem etwa geschrieben stand: »Heute kann ich in lethargischen Schlaf verfallen, darum – mich nicht vor so und so viel Tagen beerdigen«. Und zu seiner Frau hat er später gesagt, daß er wohl wahnsinnig geworden wäre, wenn diese Katastrophe nicht in sein Leben eingegriffen hätte. Von den übrigen Verhafteten dagegen erging es dreien umgekehrt: Der Gardegrenadieroffizier Grigorjeff wurde bereits in der Festung halb irrsinnig; der neunzehnjährige Kateneff kam von dort aus in die Irrenanstalt und somit überhaupt nicht vor das Militärgericht: und bei dem älteren Desbut stellte sich vorübergehend eine gewisse geistige Umnachtung ein.
Von der Untersuchungskommission ging die Angelegenheit Petraschewski auf Allerhöchsten Befehl an eine Gerichtskommission unter dem Vorsitz des Generals Perowski über. Diese Gerichtskommission beschloß, infolge ungenügender Beweise alle Verhafteten wieder in Freiheit zu setzen. Doch nun wurde die Sache am 16. November dem General-Auditoriat übergeben und kriegsrechtlich behandelt. Zu dieser Übergabe lag juridisch gar keine Veranlassung vor, da jene auf Allerhöchsten Befehl eingesetzte Gerichtskommission nach der hierarchischen Stufenleiter höher stand, und so ist es wohl verständlich, daß, wie J. Desbut mitteilt, selbst der Festungskommandant mit größtem Befremden davon Kenntnis nahm und den Verhafteten in sichtlich höchster Erregung davon Mitteilung machte.
Natürlich konnte auch das General-Auditoriat die Tatsache nicht übersehen, daß von den Angeklagten keineswegs alle in gleichem Maße beteiligt oder schuldig waren – zumal einzelne in ihren Aussagen die weniger Bloßgestellten noch besonders zu entlasten versucht hatten; da aber die in dem vorliegenden Falle anzuwendenden Gesetze betreffs Staatsverbrechen zwischen den Hauptschuldigen oder Anstiftern und den Mitbeteiligten keinen Unterschied machen, so wurden sämtliche Angeklagten mit Ausnahme eines einzigen (Tschernosswitoffs, den man nur nach Wjätka verbannte) »... Tode durch Füsilieren verurteilt«. Indes wurden vom General-Auditoriat selbst die mildernden Umstände hervorgehoben (die aufrichtige Reue vieler, die freiwilligen Geständnisse weiterer Vergehen, die sonst unbekannt geblieben wären, ferner die große Jugend einzelner, sowie schließlich, daß ihre verbrecherischen Absichten, dank dem rechtzeitigen Eingreifen der Regierung, ohne schädliche Folgen geblieben waren), und auf Grund dieser mildernden Umstände nahm sich das General-Auditoriat »... Freiheit, die Anwendung der kaiserlichen Gnade hinsichtlich der Entscheidung über das Los der Angeklagten und die Umwandlung der Todesstrafe in Strafen nach Maßgabe ihrer Schuld alleruntertänigst zu befürworten.« Die im Anschluß hieran vom General-Auditoriat unterbreiteten Urteilssprüche wurden vom Kaiser durch handschriftliche Bemerkungen an den Rand der Aktenblätter teils bestätigt, wie z. B. das Urteil über Petraschewski (er wurde zum Verlust aller Rechte und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken verurteilt), teils verschärft, wie u. a. die Jastrshemski zudiktierten vier Jahre Zwangsarbeit in sechs Jahre verwandelt wurden, größtenteils aber gemildert, so u. a. auch die Strafen für Duroff und F. M. Dostojewski, die beide zu achtjähriger Zwangsarbeit verurteilt waren, letzterer wegen »Teilnahme an verbrecherischen Absichten, Verbreitung eines vom Schriftsteller Bjelinski geschriebenen Briefes, der voll ist von frechen Ausdrücken gegen die rechtgläubige Kirche und die oberste Gewalt, sowie wegen des Planes, in Übereinstimmung mit Anderen, Schriften gegen die Regierung mittels einer geheimen Druckerei zu verbreiten«. Dieses Urteil wurde – ebenso wie das gleichlautende für Duroff: »... Zwangsarbeit auf acht Jahre« – vom Kaiser durch eigenhändige Randbemerkung geändert in Zwangsarbeit »auf vier Jahre und dann als Gemeiner«.
Dostojewski hat später diese Art seiner Verurteilung als einen Präzedenzfall bezeichnet, da bislang jeder in Rußland zur Zwangsarbeit Verurteilte (gleichviel auf wieviel Jahre) damit seine bürgerlichen Rechte für immer verlor. »Dostojewski aber sollte« – so diktierte er von sich in der dritten Person, als er einmal um biographische Daten für ausländische Leser gebeten wurde – »nach Ablauf der Frist der Zwangsarbeit als Soldat eingereiht werden, d. h. es wurden ihm die Bürgerrechte wieder zuerkannt. Später sind ähnliche Vergünstigungen des öfteren vorgekommen, damals aber geschah es zum ersten Male nach dem Willen des verstorbenen Kaisers Nikolai I., ›dem es um Dostojewskis Jugend und Talent leid tat.‹« Wie wir wissen, geschah das aber nicht nur mit Dostojewski, sondern auch mit Duroff. An sich ist diese Tatsache umso beachtenswerter, als weder von Dostojewski noch von Duroff irgend welche »freiwilligen Geständnisse« erfolgt sind, wie wir aus den Akten ersehen.