Inzwischen aber wurden bereits die ersten drei an die Pfähle gebunden. Es waren das Petraschewski, Mombelli und Grigorjeff. Vor jedem Pfahl stand ein Offizier mit einer Anzahl Soldaten und das Kommando zur Bereitschaft war schon gegeben. Dostojewski erinnerte sich später, daß ihn die Trennung von den ihm lieben Menschen, die er nun im Leben zurücklassen mußte, damals gar nicht schmerzte; es war ja auch viel zu wenig Zeit, darüber nachzudenken. Er empfand nur eine mystische Angst und stand ganz unter dem Einfluß des Gedankens, daß er in irgend welchen fünf Minuten in ein anderes, unbekanntes Leben übergehen werde (also war in ihm der Glaube an die Unsterblichkeit doch nicht im geringsten erschüttert). Aber wie erschüttert er sonst auch war, er verlor nicht die Fassung. Wie ein Augenzeuge berichtet, war Dostojewski nicht bleich; er ging ziemlich schnell aufs Schaffot und erschien eher eilfertig als bedrückt. Ganz anders dagegen wirkte all das auf einige seiner Gefährten. Der Gardeoffizier Grigorjeff war, wie wir wissen, schon in der Festung geistig unzurechnungsfähig geworden. Nun gaben ihm das Angebundenwerden an den Pfahl und das Kommando an die Soldaten, die Gewehre bereit zu machen, den Rest. Es fehlte nur noch der Befehl »Feuer!« und alles wäre zu Ende gewesen. Doch da wurde mit einem Tuch gewinkt – und die Hinrichtung ward aufgehalten. Als man aber Grigorjeff vom Pfahl losband, war er bleich wie der Tod. Sein Geist war endgiltig zerstört.
Nach der Aussage von J. Desbut erschien vielen von ihnen die Mitteilung der Begnadigung durchaus nicht als etwas Freudiges, sondern nahezu als etwas Beleidigendes: mit solcher Feindseligkeit hatte dieses ganze gegen sie angewandte Verfahren sie erfüllt.
In seinem »Tagebuch eines Schriftstellers« vom Jahre 1873 kommt Dostojewski ausführlich auf seine und seiner Gefährten allgemeine Stimmung zu sprechen.Vergl. den Aufsatz »Eine der zeitgemäßen Fälschungen« in dem vorliegenden Bande. E. K. R. Doch was er selbst damals im Innersten empfunden hat, das finden wir – abgesehen von gelegentlichen kurzen Vergleichen oder Bemerkungen, so im »Raskolnikoff« – hauptsächlich in den zum Teil buchstäblich autobiographischen Schilderungen des Fürsten Myschkin im Roman »... Idiot«. Diese enthalten – in Personen vorgeführt – eine ganze empirische Psychologie in Verbindung mit der religiös-philosophischen Frage nach der Berechtigung der Todesstrafe überhaupt...
Noch an demselben Tage schrieb Dostojewski einen Brief an den Bruder, in dem er diesem nur kurz die Tatsachen mitteilte.Vergl. die deutsche Ausgabe der Briefe Dostojewskis, S. 46. E. K. R. »... Ich hatte noch Zeit,« schreibt er, »Pleschtschejeff und Duroff, die neben mir standen, zu umarmen und Abschied von ihnen zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt. Die, welche bereits an die Pfähle gebunden waren, wurden zurückgeführt und man las uns vor, daß Seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenkte. Darauf wurden die endgiltigen Urteile verlesen. Palm allein ist begnadigt worden«...
Der Gedanke an die bevorstehende Zuchthausstrafe erschien ihm zunächst furchtbar. »Lieber fünfzehn Jahre in der Kasematte mit der Feder in der Hand,« schreibt er in einem Brief, aus dem bald nach seinem Tode einzelne Stellen veröffentlicht wurden (das Original ist nachher leider verloren gegangen), und fügt hinzu: »Der Kopf, der schuf, der das höhere Leben der Kunst lebte, der sich mit den erhabenen Bedürfnissen des Geistes eingelebt hatte, der Kopf ist bereits von meinen Schultern geschlagen!«
In dem Bewußtsein Dostojewskis, des Psychologen, hat sich wohl hauptsächlich die innerliche Seite des Erlebnisses vom 22. Dezember erhalten, dagegen scheint er die Kälte von 21 Grad Réaumur, bei der sich das alles zutrug, spurlos vergessen zu haben. Nach Speschnjoffs Aussage hatten die Verurteilten ungeachtet dieser Temperatur ihre Oberkleider ablegen und während der ganzen Zeit der Verlesung des Urteils, des Anbindens an die Pfähle und dann des zweiten Verlesens der Urteilssprüche im Hemde stehen müssen. Das dauerte nach seiner Behauptung über eine halbe Stunde. (Dostojewski gibt im »Idiot« als Zeitspanne 20 Minuten an.) »Reiben Sie die Wangen«; »reiben Sie das Kinn«, sagten sie zu einander. Nach ihrer Rückkehr in die Festung gingen der Kommandant Nabokoff und Doktor Okel die Zellen der Reihe nach durch, um festzustellen, ob sich nicht jemand erkältet hatte. Doch erst in Tobolsk, (West-Sibirien) erkannte der Arzt der Dekabristen, Dr. Wolf, bei Speschnjoff das Anfangsstadium der Schwindsucht, von der er sich aber in der Luft der Nadel- und Laubwälder allmählich erholte.
Nach Sibirien wurden sie nicht alle zugleich verschickt, sondern täglich je zwei oder auch nur einer. Petraschewski war gleich auf dem Richtplatz in den Sträflingspelz gesteckt und nach Minussinsk verschickt worden. Bis Tobolsk hatten sie alle den gleichen Weg zurückzulegen, von dort aus aber wurden sie dann verteilt. Dostojewski hat gerade am heiligen Weihnachtsabend die Reise antreten müssen. Das war für ihn, der an der Familie und allen Kindheitserinnerungen hing, der nie aufhörte, Christ zu sein, ein Tag ganz anderer Empfindungen. Doch die Obrigkeit sah natürlich in allen Verurteilten nur geschworene Atheisten.
»Wenn ich mich nicht irre,« schreibt A. P. Miljukoff in seinen Erinnerungen,Siehe in der deutschen Ausgabe der Briefe Dostojewskis die »Berichte der Zeitgenossen«. E. K. R. »... es am dritten Tage nach der Exekution auf dem Ssemjonoffschen Platz, daß Michail Michailowitsch Dostojewski zu mir gefahren kam und mir mitteilte, sein Bruder werde noch am selben Abend verschickt und er fahre nun zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen«. Miljukoff schloß sich ihm natürlich an. In einem großen, nur von einer Lampe erhellten Zimmer im Erdgeschoß des Kommandanturgebäudes mußten sie ziemlich lange warten... Zweimal verstrich eine Viertelstunde und erklang das holländische Glockenspiel mit seinen vielstimmig abgetönten Klängen vom Turme der Festungskirche. »Endlich ging die Tür auf, draußen klappten Handgriffe an Gewehren, und geleitet von einem Offizier traten Dostojewski und Duroff ins Zimmer... beide schon in den Reisekleidern der Sträflinge, in Halbpelzen und hohen Filzstiefeln. Der Festungsoffizier setzte sich taktvoll auf einen Stuhl nicht weit vom Eingang und behinderte uns nicht im geringsten.« Miljukoff unterhielt sich nun mit Duroff, der ihm noch sein letztes Gedicht einhändigte... »Beim Anblick des Abschieds der Brüder von einander,« erzählt Miljukoff, »hätte wohl ein jeder bemerkt, daß von ihnen derjenige mehr litt, der hier blieb. In den Augen des älteren Bruders standen Tränen, seine Lippen bebten, Fjodor Michailowitsch aber war ruhig und tröstete ihn noch:... ›Auch im Zuchthause sind nicht Tiere, sondern Menschen, vielleicht sogar bessere als ich, vielleicht würdigere als ich‹... Es ist möglich,« bemerkt Miljukoff zum Schluß, »... ihn gerade der ihm gleichsam angeborene und immer in ihm gegenwärtige Gedanke lockte, in den am tiefsten gesunkenen Verbrechern... jenen tief unter der Asche sich versteckenden, aber doch nicht erloschenen Funken des göttlichen Feuers zu finden, jenen Funken, der, wie er immer glaubte, selbst im verstocktesten Übeltäter und dem letzten Verstoßenen lebt.«
Sie waren über eine halbe Stunde zusammen, doch die Zeit erschien ihnen kurz. Man sagte ihnen, daß sie sich nun trennen müßten. Zum letztenmal umarmten sie sich und drückten sie einander die Hände. Miljukoff und Michail Michailowitsch hörten aber, daß die Abfahrt in einer Stunde, nicht später, erfolgen werde, und so blieben sie vor dem Tor der Festung und warteten... Die Nacht war nicht kalt und sternhell... Wieder erklang das Glockenspiel vom Turme, es war neun Uhr, als zwei Schlitten herausfuhren, und auf jedem saß ein Sträfling mit einem Gendarmen. »Lebt wohl!« riefen die Zurückbleibenden ihnen nach. »... Wiedersehen!« wurde ihnen geantwortet.