Den einen sollte Miljukoff erst nach zehn Jahren, den anderen überhaupt nicht wiedersehen.
Das Folgende erzählt Iwan Jastrshemski:
»... wird sich wohl kaum eine Vorstellung davon machen können, wie erfreut ich war, daß man mich mit Dostojewski und Duroff zusammen transportierte. Die Einzelhaft in diesen ganzen acht Monaten hatte mich so zermürbt und physisch vernichtet, daß Duroff, der auf dem Schafott neben mir stand, mich nicht erkannte. Nun war die Möglichkeit, in den kurzen Erholungspausen während der Reise mit ihnen wenigstens sprechen zu können, schon ein wahres Glück für mich.
»... kamen nach Tobolsk... und wurden im Ostrogg (Zuchthaus) in einen großen Raum geführt, von wo aus die weitere Verteilung der Gruppen erfolgte. In diesem Raum waren an die dreihundert Männer, Frauen und Kinder von jedem Alter und von allen Rassen; die einen wurden in Ketten geschmiedet, andere an einer eisernen Stange aufgereiht, den dritten wurde das Haar vom Schädel bis zur Haut abrasiert. Dieses ganze Schaustück machte auf mich einen erschütternden Eindruck. Wir wurden dem Aufseher des Gefängnisses übergeben... Wir waren die ganze Nacht und einen Teil des Tages bei 40° Kälte gefahren, da war es wohl erklärlich, daß ich mir unsere Ankunft in Tobolsk in Verbindung mit der Vorstellung von irgend einer warmen Unterkunft und heißem Tee gedacht hatte. Doch auf meine Frage, ob wir einen Ssamowar bekommen könnten, antwortete Iwan Gawrilowitsch (der Aufseher) mit der Gegenfrage: ›Wie denken Sie denn die Etappenreise durch Sibirien fortzusetzen? Wir haben keinen Ssamowar.‹ Diese Worte eröffneten mir die Perspektive der Weiterreise zu Fuß vielleicht über Tausende von Werst. Und mir fiel das soeben gesehene Bild der Vorbereitung zum Weitermarsch der Gruppen ein.
»... kamen in die Gefängniskanzlei... einen dunklen, schmutzigen Raum, wo mir als erstes die ›Beamten‹ auffielen, die hier das schriftliche erledigten. Diese Individuen staken in kamelhaarenen Sträflingsröcken; die einen waren als Schwerverbrecher auf Stirn und Wangen mit den eingebrannten Buchstaben K. A. T. gestempelt, andere, denen man zur Kennzeichnung auch noch die Nüstern herausgeschnitten hatte, mit den Buchstaben W. O. R.. Physiognomien à l'avenant...
»Iwan Gawrilowitsch kam auf uns zu. ›In Ketten?‹ fragte er barsch. »Jawohl,« antworteten wir. »Durchsuchen,« kommandierte er. Und wir wurden einer Durchsuchung unterzogen, daß uns vor Scham und Empörung das Blut zu Kopfe stieg... Hierauf wurden wir in eine Kammer geführt, in einen schmalen, dunklen, kalten, schmutzigen Raum... In diesem Raum war eine Pritsche, auf der drei schmutzige, mit Heu gefüllte Säcke lagen und drei ebensolche Kopfkissen, sonst nichts. Vollkommene Finsternis. Hinter der Tür, im Flur, die schweren Schritte des Postens, der hin und her schritt – in einer Kälte von vierzig Grad.
»... setzten uns und kauerten uns zusammen – Duroff auf der Pritsche, ich neben Dostojewski auf dem Fußboden. Hinter der dünnen Wand, oder fast war es nur ein Bretterverschlag, wo, wie wir später erfuhren, Untersuchungsgefangene untergebracht waren, hörte man das Aufschlagen der kleinen Krüge und Gefäße, aus denen sie Schnaps tranken, dazu die Ausrufe der Karten- und Würfelspieler und ein solches Geschimpfe, solche Flüche...
»Duroffs Finger und Zehen waren erfroren. Bei Dostojewski hatten sich schon in der Peter-Pauls-Festung skrophulöse Wunden im Gesicht und im Munde gebildet. Und mir war die Nasenspitze erfroren.
»Inmitten dieser... Umgebung fiel mir mein früheres Leben ein, mein Leben in Petersburg, im Kreise junger, sympathischer, kluger Universitätskameraden... Ich dachte, was wohl meine Schwester sagen würde, wenn sie mich hier sähe? Ich dachte, für mich gäbe es keine Rettung mehr, und beschloß, meinem Leben ein Ende zu machen, wozu ich schon in der Peter-Pauls-Festung Vorbereitungen getroffen hatte... Ich erwähne dieses Schwere hier nur deshalb, weil es mir die Möglichkeit gab, die Persönlichkeit Dostojewskis näher kennen zu lernen. Seine angenehme und liebevolle Unterhaltung heilte mich, erlöste mich von der Verzweiflung und erweckte wieder Hoffnung in mir.
»Dank einem Zufall erhielten wir ganz unverhofft ein Talglicht, Streichhölzer und heißen Tee, der uns schöner dünkte als Nektar.« (Auf Befehl eines Gendarmerieoffiziers, der, wie es sich herausstellte, mit Jastrshemski durch andere bekannt war.) »Dostojewski hatte noch vorzügliche Zigarren, die dem verehrten Iwan Gawrilowitsch bei der Durchsuchung zum Glück entgangen waren. In freundschaftlicher Unterhaltung verbrachten wir den größeren Teil der Nacht. Dostojewskis angenehme, liebe Stimme, die Zartheit und Weichheit seines Empfindens, ja sogar einzelne seiner – ganz weiblichen-kapriziösen Ausbrüche wirkten auf mich beruhigend. Ich sagte mich von jedem äußersten Entschluß los. Dort im Tobolskschen Ostrogg wurde ich von Dostojewski und Duroff getrennt. Wir umarmten uns unter Tränen und sahen uns nie wieder.
»Dostojewski gehörte zu jener Kategorie von Wesen,« schließt Jastrishemski, »... denen Michelet sagt: que tout en étant le plus fort mâles, ils ont beaucoup de la nature féminine.Auch Strachoff erwähnt in seinen Aufzeichnungen (s. Bd. XII, S. 6 der Ausgabe) die große Weichheit im jungen Dostojewski, im Gegensatz zu seiner Art in den letzten Lebensjahren. E.K.R. Durch diesen Umstand ist jener Zug in seinen Werken erklärt, in dem man die Grausamkeit des Talents und die Lust zu quälen sieht...
»... Ich glaube nicht, etwas Paradoxes zu äußern, wenn ich sage, daß gerade diese unverdienten Leiden, die ein anscheinend blindes und taubes Schicksal ihm zudachte, seiner Begabung zum Nutzen gereichten, indem sie seine psychologische Analyse bis zur Vollendung entwickelten.«
So faßte auch Dostojewski sein Schicksal auf. Indem es sich als Stiefmutter gebärdete, erzog es ihn in Wirklichkeit wie eine strenge, doch fürsorgende Mutter.
Verbannung und Befreiung
Während ihres Aufenthaltes in Tobolsk erwirkten es die Frauen der Dekabristen – von denen einzelne dort in der Verbannung lebten –, ihnen ein ausgesuchtes Mittagessen, sogar eines mit Weinen, bereiten zu dürfen. Es waren dies, nach Jastrshemski, Frau Murawjowa, Frau Annenkowa mit ihrer Tochter und Frau von Wisin. Zum Abschied schenkten sie jedem von ihnen ein Neues Testament. Die Petraschewzen waren, im Gegensatz zu den Dekabristen, fast alle noch unverheiratete, ganz junge Menschen. Es mag auf sie keinen geringen Eindruck gemacht haben, hier den, wie Dostojewski sagt, »in nichts schuldigen« Frauen zu begegnen, »... in langen 25 Jahren freiwillig alles mitertrugen, was ihre verurteilten Männer zu ertragen hatten.«
Am 17. Januar traten Dostojewski und Duroff die Weiterreise nach Omsk an. Das beste Material zu einer Lebensbeschreibung der nun folgenden vier Jahre, die Dostojewski im Ostrogg zu Omsk verbrachte, geben uns natürlich seine »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«. Aber zum Teil könnte man auch auf sie die Worte anwenden, die Goethe zur Kennzeichnung seiner Autobiographie gewählt hat: »... meinem Leben. Wahrheit und Dichtung«. Dostojewski schildert nämlich sein Leben im Zuchthause im Namen einer anderen Person. In einem den »Aufzeichnungen« vorangeschickten Kapitel erzählt er, wie er den angeblichen Verfasser derselben kennen gelernt habe und nach dessen Tode in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt sei. Der Verfasser, den er Alexander Petrowitsch Goräntschikoff nennt, sei ein Edelmann gewesen, der wegen Ermordung seiner Frau aus Eifersucht zehn Jahre als Sträfling in dem geschilderten Zuchthause habe zubringen müssen.
Zur Erklärung dieses vorausgeschickten Kapitels sei hier darauf hingewiesen, daß schon allein die Drucklegung solcher Aufzeichnungen aus einem Totenhause vor der Regierung Alexanders II. undenkbar gewesen wäre. Man kann wohl kühnlich behaupten, daß sie nichts unterschlagen, nichts beschönigen, vielmehr alles mit oft geradezu vernichtendem Realismus schildern...Ein Brief vom 22. Februar 1854, den Dostojewski unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause an seinen Bruder geschrieben hat und der Michail Michailowilsch nicht auf dem offiziell erlaubten Wege – durch das Korps-Kommando in Sibirien und den Chef der III. Abteilung –, sondern durch andere Personen heimlich zugestellt worden ist, schildert er die Wirklichkeit seines Zuchthauslebens ohne jeden Gedanken an die Zensur. Diese aber mußte in der Zeit, als Dostojewskis Aufzeichnungen erschienen, selbst von Schriftstellern, gegen die nichts vorlag, trotz aller liberalen Neuerungen immer noch sehr im Auge behalten werden. Dieser Brief vom 22.11.1854, wie auch andere Briefe, haben O. Miller bei der Zusammenstellung des biographischen Materials noch nicht vorgelegen. Ein paar nebensächliche Angaben in dem erwähnten Brief stimmen mit einzelnen Taten in den Aufzeichnungen Miljukoffs und Jastrshemskis nicht ganz überein. Vgl. »... Briefe und Berichte der Zeitgenossen« S. 40–60. E.K.R. Wenn Dostojewski es auch für nötig fand, unter der Maske eines gewöhnlichen Verbrechers zu schreiben, so kommt er in einem besonderen Kapitel doch auch auf die politischen Verbrecher zu sprechen. (Dieses Kapitel wurde, nachdem es in der »Zeit« einmal veröffentlicht worden war, in manchen Buchausgaben weggelassen, doch in die jetzt vorliegende Gesamtausgabe seiner Werke ist es wieder in der ursprünglichen Fassung aufgenommen.Mit der Niederschrift seiner Erlebnisse im Zuchthaus hat Dostojewski bereits 1855 in Sibirien, im ersten Jahr nach der Abbüßung seiner Strafzeit, begonnen, doch in der Hauptsache hat er die Aufzeichnungen erst nach seiner Rückkehr ins europäische Rußland (1859) fertiggestellt. Beendet und veröffentlicht wurden sie 1861–62, das erwähnte (in der Gesamtausgabe vorvorletzte) Kapitel im Dezember 1862. Es heißt dort u. a.: »Welch eine Beschuldigung wäre aber damals... in jener kaum vergangenen alten Zeit...«(d. h. in der Regierungszeit Nikolais I.) für die Vorgesetzten »furchtbarer gewesen, als daß man mit gewissen Sträflingen Nachsicht habe! So kam es denn, daß jeder Vorgesetzte uns gegenüber Nachsicht zu zeigen sich fürchtete und wir ebenso gehalten wurden, wie alle anderen...« Somit überläßt er es dem Leser, zu erraten, daß mit den »gewissen Sträflingen« die politischen Verbrecher gemeint sind. E. K. R.