Über die Frage, wie die Erlebnisse im Zuchthause gesundheitlich auf Dostojewski eingewirkt haben, ist es ja nach seinem Tode in unserer Presse zu einer richtigen Polemik gekommen. Es wurde die Ansicht ausgesprochen, daß der Ausbruch seiner Krankheit, die Epilepsie, auf eine erlittene körperliche Züchtigung (Rutenhiebe) zurückzuführen sei. Diese Auffassung ist aber vollkommen haltlos, vielmehr wird u. a. auch von Dr. Janowski ausdrücklich darauf hingewiesen, daß niemand von ihm auch nur eine Anspielung auf etwas ähnliches gehört hat, obgleich er sich ihm, dem Arzt, wie seinem Bruder Michail Michailowitsch, und in Genf dem Priester Petroff gegenüber mit aller Offenheit über seine Sträflingszeit ausgesprochen habe.Es gibt über die Krankheit Fjodor Michailowitschs allerdings noch eine besondere Aussage, die sich auf seine früheste Jugend bezieht und die Krankheit mit einem tragischen Fall in dem Familienleben der Eltern Dostojewskis in Verbindung bringt. Doch obgleich mir diese Aussage von einem Menschen, der F. M. sehr nahe stand, mündlich mitgeteilt worden ist, kann ich mich nicht entschließen, da ich von keiner Seite eine Bestätigung dieses Gerüchts erhalten habe, die erwähnte Angabe hier ausführlich und genau wiederzugeben. O. M. Im übrigen aber dürften sich die über das erste Auftreten und die Entwicklung der Krankheit vielfach widersprechenden Aussagen dahin zusammenfassen lassen, daß die Anfälle zwar schon vor der Verbannung auftraten, jedoch von ihm selbst nicht als Epilepsie erkannt wurden; in Sibirien aber hat sich die Krankheit endgültig entwickelt, – bis ihm schließlich ein Zweifel an ihrem wahren Charakter nicht mehr möglich war.
Aber wie einförmig das Leben im Zuchthause auch verlief – schließlich verging die Zeit. Im tiefsten Winter war er ins Zuchthaus gekommen, also mußte er es im Winter wieder verlassen, wenn auch nicht gerade im Dezember, wie es in den »Aufzeichnungen« heißt ...Die Dokumente in den Archiven der III. Abteilung geben als Tag der Enthaftung den 23. Jan. 1854 an. Nach der Entlassung aus dem Zuchthause haben Dostojewski und Duroff, dessen Gesundheit vom Zuchthausleben vollkommen zerrüttet worden war, wie aus einem späteren Brief des ersteren hervorgeht, »fast einen ganzen Monat« in Omsk im Hause von Frau O. I. Iwanowa, der Tochter des Dekabristen Annenkoff, verbracht und sich gesundheitlich ein wenig erholt. Am 2. März ist Dostojewski dann als Gemeiner in das 7. Bataillon des Sibirischen Linienregiments in Semipalatinsk eingereiht worden. E.K.R.
Nach dieser Autobiographie zu urteilen, muß Dostojewski bereits vom Zuchthause aus, noch vor der Befreiung, seinen Briefwechsel wieder aufgenommen haben. Doch von seinen sibirischen Briefen, die uns vorliegen,Vergl. Anm. S. 134. E.K.R. ist der erste, der allerdings ausdrücklich auf frühere Briefe Bezug nimmt, am 30. Juli 1854 aus Semipalatinsk an seinen Bruder geschrieben. In allen Briefen beschwört er den Bruder, ihm doch zu schreiben, ihn nicht zu vergessen, ihm Bücher zu schickenIn den Briefen vom 22. Februar und vom 27. März 1854 bittet er den Bruder um den Koran, Kants »Critique de raison pure«, »... wenn du die Möglichkeit haben wirst, mir etwas nicht offiziell zu schicken, dann noch unbedingt Hegel; besonders aber Hegels ›Geschichte der Philosophie‹. Davon hängt meine ganze Zukunft ab. Um Gottes willen verwende dich für mich, daß man mich nach dem Kaukasus versetzt; suche... zu erfahren, ob man mir gestatten wird, meine Werke zu drucken... Ich bitte dich, mich so lange auszuhalten. Ohne Geld werde ich vom Soldatenleben erdrückt werden... Vielleicht werden mich im Anfang auch die anderen Verwandten irgendwie unterstützen?... (Vergl, »... Briefe und Berichte der Zeitgen.«). Im März bittet er, ihm keine Zeitschriften zu schicken, sondern »europäische Historiker, Ökonomisten, Kirchenväter, womöglich alle alten (Herodot, Thukndides, Tacitus, Plinius, Flarius, Plutarch und Diodor usw),... und ein deutsches Lexikon. Nicht alles auf einmal... Begreife, wie nötig mir diese geistige Nahrung ist!...« E.K.R. und Geld, wenn er kann... Das Soldatenleben verschlingt seine Zeit, er hofft, der Bruder werde verstehen, daß Soldat zu sein »nicht gerade ein leichtes ist für einen Menschen mit meiner Gesundheit... Ich murre nicht; dies ist mein Kreuz und ich habe es verdient.« Er lebt einsam, verbirgt sich sogar vor den Menschen, denn nachdem er fünf Jahre lang stets unter Aufsicht gewesen, ist es ihm »... größte Wonne, manchmal allein zu sein... übrigens... vermute nicht, daß ich noch ebenso melancholisch und argwöhnisch bin, wie ich es in den letzten Jahren in Petersburg war. Das ist vollkommen vergangen...« Weiter heißt es in diesem Brief: »... danke Bruder Koljä für die Nachschrift... ich habe auch endlich von den Schwestern Warenka und Wjerotschka Briefe erhalten... ich glaube, daß sie mich wirklich so lieben, wie sie sagen«. Am 6. Nov. 1854 schreibt er an den Bruder Andrei: »... ich habe mein neues Leben angefangen. Jene vier Jahre aber betrachte ich als eine Zeit, in der ich lebendig begraben und in einem Sarge eingeschlossen war. In dieser ganzen Zeit habe ich von Euch allen nicht die kleinste Nachricht erhalten...«Unter Nikolai I. war es zum mindesten nicht ratsam, an einen verbannten Staatsverbrecher Briefe zu schreiben, selbst wenn es sich um einen Bruder handelte. E.K.R.
Ende November lernt Dostojewski den jungen, damals 23jährigen, Baron A.E. Wrangel kennen, den er in einem späteren Brief als einen Menschen mit den besten Eigenschaften schildert, als seinen Freund, der ihm in dieser Zeit unendlich viel Gutes erwiesen hat, doch liebe er ihn nicht nur deswegen. Er sei unmittelbar aus dem Lyzeum nach Sibirien gekommen, mit der großzügigen Absicht, das Land kennen zu lernen, nützlich zu sein usw.
In dieser ersten Zeit der Freundschaft mit Wrangel tritt nun, man kann Wohl sagen, ganz unverhofft der Regierungswechsel ein,Am 19. Februar 1855 kam Alexander II. auf den Thron, nach dem plötzlichen Ableben Nikolais I., dessen ganzes System im Orientkrieg (1853–56) gescheitert war. E.K.R. der auch für Dostojewskis weiteres Schicksal von größter Bedeutung sein sollte.
Bei seiner »Zweifelsucht« quält es ihn sehr, daß der Bruder ihm auch jetzt noch oft monatelang nicht schreibt, und wenn auch die anderen Geschwister lange schweigen oder »gänzlich aufhören zu schreiben«, argwöhnt er alles mögliche, wie er dem Bruder im Mai 1855 gesteht.