Andrei Michailowitsch erzählt weiter: »Meine Brüder Michail und Fjodor, meine Schwester Warwara und ich, wir vier bildeten sozusagen die erste Serie der Geschwister.« Nach Fjodor Michailowitschs eigenen Worten hat er in der Kindheit »Schwester Warjä« besonders geliebt. »... übrigen Geschwister, Wera, Nikolai und Alexandra, waren noch zu klein, um an unseren Beschäftigungen oder Spielen teilnehmen zu können. Wir vier dagegen waren fast immer zusammen. So geschah alles, was meine Brüder taten oder sprachen, vor meinen Augen und Ohren, und nur in den seltensten Fällen schickten sie mich fort; dann nannten sie mich ihr ›Schwänzchen‹. Michail und Fjodor standen ja fast im gleichen Alter, sie wuchsen zusammen auf und waren große Freunde. Diese Freundschaft dauerte bis zum Tode des älteren Bruders. Und doch waren sie zwei ganz verschiedene Charaktere. Michail war auch in der Kindheit weniger mutwillig, weniger unternehmend, weniger lebhaft im Gespräch, kurz, er war nicht so heiß wie Fjodor, der in allem, was er tat, ›das wahre Feuer‹ war, wie unsere Eltern zu sagen pflegten.
»Da ich nun einmal von unserer Familie spreche, möchte ich hier auch eine Person erwähnen, die mit ihrem ganzen Leben und Denken in unserer Familie aufging. Das war unsere Kinderfrau Aljona Frolowna. Ich erwähne sie nicht deshalb, weil sie etwa, wie die Kinderfrau Puschkins, auf die Entwicklung Fjodors einen großen Einfluß gehabt hätte; – nein, sie war nur ein gütiger Mensch, der uns liebte. Als Moskauer Kleinbürgerin hatte sie das Recht, sich eine ›Städterin‹ zu nennen, was sie denn auch immer mit einer gewissen Wichtigkeit tat. (Übrigens war sie noch nicht alt, aber ziemlich dick.) Doch ich erwähne sie hauptsächlich deshalb, weil ich darauf hinweisen möchte, wie teuer meinem Bruder später die Erinnerung selbst an unsere Dienstboten war. So habe ich auch in seinen Werken sehr oft Namen unserer ehemaligen Dienstboten in der Stadt und auf dem Lande wiedergefunden.«Den Namen dieser Kinderfrau finden wir im Roman »... Dämonen«, und in seinem »Tagebuch eines Schriftstellers« kommt Dostojewski einmal ausführlich auf sie zu sprechen (s. Bd. 23 der deutschen Ausgabe), wie auch auf den leibeigenen Bauer Marei (Bd. 13 und 18 der deutschen Ausgabe). E. K. R.
Nach der Behauptung Andrei Michailowitschs habe Aljona Frolowna nicht gut zu erzählen verstanden, was den Aussagen anderer und auch Fjodor Michailowitschs zum Teil widerspricht. Vielleicht hat sie nur nicht so schöne Märchen erzählt, wie die Ammen aus dem Dorf.
»... allen ihren Kindern hat unsere Mutter nur ihren ältesten Sohn selbst gestillt,« (den sie nach Fjodor Michailowitschs Äußerung am meisten geliebt haben soll), »– wir anderen hatten Ammen. Diese Ammen pflegten uns alljährlich (gewöhnlich im Winter) zu besuchen. Ihr Besuch war für uns Kinder immer ein richtiges Fest. Sie kamen aus den nächsten Dörfern und blieben meist zwei bis drei Tage bei uns. Unter meinen Erinnerungen hat sich eine Bilderreihe noch so deutlich erhalten, als sähe ich sie leibhaftig: Es ist ein Wintermorgen; Aljona Frolowna tritt aus der Küche ins Wohnzimmer und meldet der Mutter: ›Die Amme Lukerja ist gekommen‹. Kaum haben wir Jungen das vernommen, da stürmen wir auch schon aus dem Saal ins Wohnzimmer, und es fehlt nicht viel, daß wir vor Freude in die Hände klatschen. ›Führe sie herein‹, sagt die Mutter. Und Lukerja erscheint, eine Bäuerin in Bastschuhen. Zuerst betet sie vor dem Heiligenbilde, dann begrüßt sie die Mutter, dann küßt sie alle Kinder der Reihe nach und dann verteilt sie unter uns die als Gastgeschenk mitgebrachten, mit Buttermilch gebackenen Pfannkuchen; darauf aber begibt sie sich wieder in die Küche, – wir Kinder haben jetzt keine Zeit, am Vormittag müssen wir lernen. Doch dann ist die Dämmerung da. Es dunkelt. Die Mutter ist im Wohnzimmer beschäftigt, der Vater gleichfalls – er trägt die Rezepte in die Krankenbücher ein, die ihm täglich stoßweise gebracht werden –, und nun warten wir Kinder in dem abendlichen unbeleuchteten Saal auf die Amme. Sie kommt, wir setzen uns alle in der Dunkelheit auf Stühlen zurecht, und nun beginnt das Märchenerzählen. Dieses Vergnügen dauerte manchmal drei, manchmal vier Stunden. Erzählt wurde möglichst leise, fast flüsternd, um die Eltern nicht zu stören; es ist so still, daß man das Kratzen des Gänsekiels hört, mit dem der Vater im Nebenzimmer schreibt. Und was für Geschichten wurden da erzählt – ich kann mich nicht einmal all der Namen entsinnen. Außer den russischen Sagen und Märchen hörten wir auch die Geschichte vom Blaubart und noch viele andere. Ich weiß nur, daß manche dieser Geschichten uns sehr gruselig erschienen.« (Vielleicht ist es auf diese im Dunkeln erzählten gruseligen Geschichten zurückzuführen, daß Fjodor Michailowitsch nach seiner eigenen Aussage in der Kindheit die Dunkelheit gefürchtet hat?)
»Im übrigen aber verhielten wir uns zu diesen Märchenerzählerinnen doch auch kritisch und stellten z. B. fest, daß ›Warwaras Amme zwar mehr Märchen kenne, dafür aber nicht so gut zu erzählen verstehe wie Andrjuschas Amme‹ – oder etwas ähnliches.
»... Tage verliefen in unserer Familie immer gleichmäßig nach der einmal eingeführten Ordnung. Man stand früh auf, ungefähr gegen sechs Uhr. Nach sieben Uhr begab sich der Vater ins Hospital, von wo er um neun Uhr zurückkehrte, um dann sofort in die Stadt zu seinen übrigen Kranken zu fahren. Während seiner Abwesenheit mußten wir lernen. Um 12 Uhr kehrte er gewöhnlich zurück und dann wurde sogleich zu Mittag gespeist. Um 4 Uhr tranken wir Tee, worauf der Vater sich wieder zu den Kranken ins Hospital begab. Die Abende wurden im Wohnzimmer am runden Tisch verbracht, und wenn der Vater nicht mit den Krankheitsberichten beschäftigt war, so wurde vorgelesen. An den Feiertagen spielten wir Kinder in demselben Zimmer zuweilen harmlose Kartenspiele, an denen die Eltern sich gleichfalls beteiligten. Bei diesen Spielen versuchte Fjodor infolge seiner Gewandtheit immer irgend einen kleinen Betrug zu machen, wobei er aber mehr als einmal ertappt wurde. Zwischen 8 und 9 Uhr aßen wir zu Abend, und nachdem wir Knaben vor den Heiligenbildern das Gebet gesprochen und den Eltern Gute Nacht gewünscht hatten, gingen wir zu Bett.
»Fremde oder Gäste kamen sehr selten zu uns. Der ganze Verkehr unserer Eltern beschränkte sich fast ausschließlich auf kurze Besuche im Laufe des Tages. Kam es aber einmal vor, daß die Eltern gegen Abend zu einem Besuche fuhren, so wurden unsere Spiele sogleich bedeutend geräuschvoller und abwechslungsreicher. Übrigens blieben die Eltern niemals sehr lange fort; schon gegen neun oder zehn Uhr kehrten sie unfehlbar zurück.
»Unter den Familienfesten war der Geburtstag des Vaters das wichtigste. Dann mußten die älteren Brüder unbedingt irgend etwas auswendig lernen, natürlich in französischer Sprache. Das Gelernte wurde hübsch sauber auf Postpapier geschrieben, dieses zu einem Röllchen zusammengerollt und dem Vater am Morgen überreicht: dann ward das auswendig Gelernte aufgesagt. Einmal war es irgend etwas aus der Henriade – Gott weiß was. Das rührte den Vater sehr und er küßte die beiden Knaben mit aufwallender Herzlichkeit. An diesem Tage waren immer viele Gäste bei uns, besonders zum Mittagessen. Später, als wir Kinder schon heranwuchsen, wurde etwa zweimal auch ein Tanzabend veranstaltet, doch so viel ich mich erinnere, hat kein einziger von uns Knaben gern getanzt, vielmehr sahen wir uns zum Tanz wie zu einer notwendigen und schweren Arbeit gezwungen.
»Im Sommer wurde fast regelmäßig gegen 7 Uhr ein Abendspaziergang zum nahegelegenen Marienhain gemacht. Außer uns Kindern und unseren Eltern beteiligten sich gewöhnlich noch andere Einwohner des Marienhospitals an diesen Spaziergängen, die sehr ruhig verliefen. Man benahm sich äußerst wohlerzogen und selbst im Hain, also schon außerhalb der Stadt, wagten wir Kinder nicht, etwa zu laufen oder gar Mutwillen zu treiben. Während dieser Spaziergänge unterhielt sich der Vater mit uns immer über Gegenstände, die uns belehren konnten. So entsinne ich mich noch seiner wiederholten anschaulichen Erklärungen geometrischer Begriffe, z. B. was spitze, stumpfe und rechte Winkel sind, oder krumme und gebrochene Linien, wie man sie in den Moskauer Straßen fast auf Schritt und Tritt sieht.