Im Laufe dieses Jahres hat Dostojewski in Semipalatinsk noch anderen Verkehr gefunden und Personen kennen gelernt, von denen eine in seinem späteren Leben eine wesentliche Rolle spielen sollte. Es war das Frau Marja Dmitrijewna Issajewa. Als Wrangel sich im August 1855 vorübergehend in Barnaul aufhalten mußte,Baron Wrangel war als Bezirks-Staatsanwalt nach Sibirien gekommen; seine intime Freundschaft mit dem gewöhnlichen Soldaten hatte für ihn anfangs verschiedene kleine Unannehmlichkeiten zur Folge. In seinen »Erinnerungen« gibt er über Dostojewskis Leben in Semipalatinsk mit einer Kenntnis des Sachverhalts und einer Ausführlichkeit Auskunft, die im Jahre 1883 O. Miller, der nur Briefe aus dieser Zeit zur Hand hatte, gar nicht möglich gewesen wäre. Wrangel ist bisher auch der einzige, der über Dostojewskis erste Frau näheres berichtet hat, bzw. berichten kann. (Vgl. »... den Erinnerungen des Barons A. Wrangel« in »... Briefe u. Berichte der Zeitgenossen«). E. K. R. schreibt Dostojewski an ihn voll großer Sorge um ihre gemeinsame Bekannte: er teilt ihm den Tod ihres Mannes mit und bittet ihn, der mittellos in Kusnezk zurückgebliebenen Witwe die verabredete Summe zu schicken, die er ihm unbedingt, wenn auch nicht sofort, zurückerstatten werde.Warja Dmitrijewnas Mann war als Gymnasiallehrer nach Kusnezk versetzt worden und hatte mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn erst kurz vorher Semipalatinsk verlassen. E. K. R.
Am 18. Januar 1856 schreibt er an Maikoff über seinen Gemütszustand in diesem Jahr: »... Ein Umstand, ein Ereignis, das in meinem Leben lange auf sich hatte warten lassen und mich nun endlich erfaßte, riß mich hin und verschlang mich ganz. Ich war glücklich. Ich konnte nicht arbeiten. Später kamen Trauer und Leid über mich. Ich verlor das, was mein alles war. Mehrere hundert Werst trennten uns... Die Ausführung meines Hauptwerkes habe ich aufgeschoben...« – gemeint sind die angefangenen »Aufzeichnungen aus einem Totenhause,« – »... ich begann im Scherz eine Komödie zu schreiben...« (»Onkelchens Traum«). Doch neben diesen Arbeiten hat ihn noch eine »größere Novelle« beschäftigt (»... Gut Stepantschikowo«), u. a. Mit Interesse spricht er von der neuesten Literatur und geht er auf Maikoffs Mitteilungen ein. »... ich teile mit Ihnen die Idee, daß Europa und Europas Bestimmung von Rußland beendet werden wird. Das war mir schon lange klar.« Eine Bestätigung dieser Äußerung finden wir in Miljukoffs »Erinnerungen«.
Von großer Bedeutung für sein weiteres Geschick ist ein Brief vom 23. März 1856 an den inzwischen nach Petersburg zurückgekehrten Wrangel, mit der Bitte, das beigefügte Schreiben persönlich dem General Eduard I. Todleben zu übergeben. Die Fragen, ob Dostojewski aus Gesundheitsgründen recht bald um seinen Abschied vom Militär bitten könne und ob seine Werke gedruckt werden dürfen, haben für ihn mittlerweile eine ganz besondere Bedeutung erhalten: er hat sich bereits endgültig entschlossen, Marja Dmitrijewna Issajewa zu heiraten, weshalb ihm an einer Veränderung seiner sozialen Stellung und finanziellen Lage sehr viel liegt. Nun folgen – in diesem, wie im nächsten Brief vom 13. April – Pläne und Besprechungen, wie er den Onkel (Kumanin) um 1000 Rubel bitten werde, ohne seine Heiratsabsichten zu verraten. Er erwähnt ein Gedicht, das er auf die Thronbesteigung Alexanders II. verfaßt hat, – es ist verloren gegangen, doch dürfte es, ebenso wie ein erhaltenes Gedicht auf den Orientkrieg, mit Kunst wenig zu tun gehabt haben, um so mehr aber, da er in diesem Gedicht den zukünftigen Befreier des Bauernstandes mit aufrichtiger Vaterlandsliebe begrüßt. Er erwähnt ferner einen Artikel über Rußland, aber der sei ein rein politisches Pamphlet geworden; da man ihm aber wohl kaum erlauben werde, seine neue literarische Tätigkeit mit einem Pamphlet zu beginnen, »... patriotisch sein Inhalt auch sein mag,« so habe er schon in seine »Briefe über Kunst« ganze Seiten aus diesem Pamphlet übernommen. Seine Liebe zu Marja Dmitrijewna, die, nach den Briefen an Wrangel zu urteilen, mehr und mehr zur Leidenschaft wurde, war für ihn eine Quelle neuen Glücks, aber auch großer Pein. Sie scheinen sich gegenseitig mit Eifersucht gequält zu haben. Wenigstens bemerkt Doktor Janowski in einem Brief an Maikoff, in dem er darauf zu sprechen kommt, daß »unter dem Einfluß gegenseitiger Eifersucht Fjodor Michailowitschs Krankheit sich weiter entwickelt« habe. Dazu wird vermutlich noch der Umstand beigetragen haben, daß er hochherzig gegen dieses Gefühl ankämpfte und es soweit besiegte, daß er selbstlos für den anderen, einen gewissen W., auf den er eifersüchtig war, sorgte und ihm zu einer Existenzmöglichkeit zu verhelfen suchte. Seine Briefe an Wrangel werfen aber auch ein neues Licht auf den ersten Roman, den er nach seiner Rückkehr aus Sibirien 1860-61 schrieb: Die »Erniedrigten und Beleidigten« enthalten demnach nicht nur eine Schilderung seines eigenen jungen Schriftstellerdaseins in den vierziger Jahren, sondern sind auch in der Zeichnung seines Verhältnisses zu der Heldin dieses Romans autobiographisch, – eines Verhältnisses, das von unseren jetzigen Kritikern mit so schnellfertiger Oberflächlichkeit aufgefaßt wird.
Im Mai äußert er sich, nachdem er erfahren, wie General Todleben seine Bitte aufgenommen hat, ganz entzückt über »diese ritterliche, erhabene, großmütige Seele«. Ebenso freut ihn die Mitteilung, daß alle Welt den neuen Kaiser glühend liebt. »Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzu kommt, ist alles getan! Wie soll man es jetzt aushalten, zurückzubleiben, sich nicht der allgemeinen Bewegung anschließen zu können, nicht auch sein Scherflein beizusteuern? O, gebe Gott, daß mein Leben sich schneller ändere!« Das wünschte er sich nicht bloß für sein Privatleben, sondern auch, um sich an der allgemeinen Bürgerarbeit beteiligen zu können, in Gemeinschaft mit einem solchen Kaiser! Von seinen Privatangelegenheiten aber kann er jetzt und im Juni nichts Gutes mitteilen. Er schreibt, daß er »fast verzweifelt.« »... Also – jetzt kann ich mit Sicherheit hoffen, doch... nun ist es zu spät.« Seine Hoffnungen auf Familienglück sind zunichte geworden. Trotzdem sorgt er sich nach wie vor um Marja Dmitrijewnas Lebensbedingungen. Sein Bruder soll sich erkundigen, ob man ihren Sohn im Pawlowsker Kadettenkorps unterbringen könnte, man solle alles tun, damit ihr eine einmalige Unterstützung schnell ausgezahlt werde, sie könnte sonst vorher heiraten und damit den Anspruch auf Unterstützung verlieren. »Er besitzt nichts, sie auch nicht... Das bedeutete für sie wieder Armut, wieder Leid...« Von sich selbst aber sagt er: »... meinetwegen ins Wasser! oder sich dem Trunk ergeben!«
Am 1. Oktober 1856 wurde Dostojewski (nachdem er am 15. Januar desselben Jahres Unteroffizier geworden war) zum Fähnrich befördert. Es geschah dies auf Befürwortung Todlebens und des Prinzen von Oldenburg hin, doch glaubte Dostojewski – und zwar mit Recht –, daß er auch sehr viel den persönlichen Bemühungen Wrangels zu verdanken habe. Am 1. Dezember teilt er seinem Freunde mit, daß er voraussichtlich noch vor der Fastenzeit im Frühjahr heiraten werde – »... wissen, wen... Sie hat sich bald von dem Irrtum ihrer neuen Neigung überzeugt... O, wenn Sie wüßten, was diese Frau ist!« Geld hat er natürlich keine Kopeke. Er will sich an den Onkel Kumanin wenden, der den Geschwistern schon oft geholfen hat... Warum ist »... kleine Held« – die Geschichte, die er in der Peter-Pauls-Festung während der Untersuchungshaft geschrieben hat – noch nicht gedruckt? Wenn man ihm noch ein ganzes Jahr nichts zu veröffentlichen erlaubt, ist er verloren – »dann lieber überhaupt nicht leben!... Natürlich bin ich bereit, meinetwegen immer ohne Nennung meines Namens oder unter einem Pseudonym zu schreiben«. Zum Schluß bittet er Wrangel »kniefällig«, jenem selben W. zu helfen, für den er sich im Sommer verwandt hatte, »... jetzt ist er mir teurer als ein leiblicher Bruder...«
Am 25. Februar 1857 schreibt er an Wrangel, daß er 8 Monate wie ein Bettler werde leben müssen, wenn ihm der Onkel nicht noch einmal hilft. Am 9. März aber teilt er dem Freunde in ganz ruhigem Tone mit, daß am 6. März seine Trauung in Kusnezk stattgefunden hat... In Barnaul hat er einen Anfall gehabt und der Arzt hat ihm gesagt, daß es richtige Epilepsie sei – das beunruhigt ihn. Nach seiner Rückkehr nach Semipalatinsk erwarten ihn einerseits die Sorgen um die Einrichtung der Wohnung, andererseits ist eine Besichtigung durch den Brigadekommandeur angesagt.