»... Sache dauerhaft,
Wenn Blut für sie vergossen wird.«
Allen Andersdenkenden, die sich zu solchen Theorien nicht bekehren ließen, wurde Mangel an bürgerlichem Mut vorgeworfen. Schon damals begann man uns eindringlich das Sterben zu lehren, zu einer Zeit, als man uns zu leben hätte lehren sollen – ehrlich, aufopfernd, standhaft zu leben. Und als Lebensgesetze prägte man uns schon seit dem Anfang der sechziger Jahre Sentenzen ein, wie z. B.: »... ist der Mensch dann, wenn er zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Angenehmes zufügen muß; schlecht ist der Mensch dann, wenn er gezwungen ist, zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Unangenehmes zuzufügen.« Eine so unzweideutige Ausschaltung der Menschenseele mit ihrer inneren sittlichen Tat begann also bei uns in einem Augenblick, als die aufbauenden Männer der Zeit, gleich J. Ssamarin, der Ansicht waren, gerade jetzt täte uns inneres Heldentum not, »... Predigt des Materialismus in Rußland« erschien Ssamarin gerade vor der Tat der Bauernbefreiung ganz besonders unangebracht, wie er in einem seiner Artikel bemerkte, bezugnehmend auf die damalige Kritik, die in einem 1858 erschienenen Buch eine »Erniedrigung der Persönlichkeit« entdeckte, weil darin von dem Prinzip der Selbstlosigkeit als von der notwendigen Begleiterscheinung des Prinzips der persönlichen Selbständigkeit die Rede war. Ich erinnere mich auch noch, wie mir ein Mann von großem Verstande und viel Erfahrung, einer, der außerhalb aller Parteien stand – der verstorbene Professor NikitenkoSchriftsteller und Zensor, als Leibeigener geboren. E.K.R. – jene mir damals ganz unverständliche Wut gegen dieses Buch erklärte »So brauchen es jene Leute, deren Aufgabe es ist, alles ins Wanken zu bringen«. Die Richtigkeit dieser Bemerkung bestätigte mir später eine Gravüre – das Bild eines talentvollen Jünglings, der in den sechziger Jahren für die neueste Autorität in unserer Kritik galt: Hielt man das Blatt gegen das Licht, so konnte man unter dem Namenszug des Jünglings die Worte lesen: »... Werk der Zerstörung ist getan, – das Werk des Aufbaues steht bevor und wird nicht nur eine Generation beschäftigen.«
Das also fand der Mensch bei uns vor, der aus Sibirien an Wrangel geschrieben hatte: »Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzukommt, dann ist alles getan!«
Jene Treibereien der Linien kamen aber den Unzufriedenen der Herrenpartei sehr gelegen. Mit dem revolutionären Radikalismus ging der Konservatismus, wenn auch vom anderen Ende ausgehend, nun unmittelbar zusammen, dieser Konservatismus, den J. Ssamarin richtig durchschaute und als »genau so revolutionär« bezeichnete. Das französische Sprichwort »... extrêmes se touchent« fand bei uns die glänzendste Bestätigung. Das konnte ein jeder wahrnehmen, der zufällig jenen denkwürdigen »literarischen Abend« miterlebte, der im Frühjahr 1862, gleich vielen anderen Festlichkeiten, zur Feier des tausendjährigen Bestehens Rußlands veranstaltet wurde.
Anmerkung: O. Miller setzt die Vorgeschichte des erwähnten Ereignisses als noch erinnerlich oder bekannt voraus und begnügt sich daher mit einer kurzen Beleuchtung einiger Einzelheiten. Da nun diese seine Voraussetzung bei dem deutschen Leser von heute nicht zutrifft, die Aufzeichnungen anderer Zeitgenossen aber aus Zensurgründen manche »Triebfedern« kaum andeuten dürfen, wird hier zunächst eine Darstellung der Sachlage von I. Eckardt angeführt aus seinen »... Petersburger Beiträgen zur neuesten russischen Geschichte«, die er 1881 anonym und nicht in Rußland erscheinen ließ (im Verlage von Duncker & Humblot, Leipzig).
Nach Eckardt ist »... für die gesamte spätere Entwicklung so außerordentlich verhängnisvoll gewordene Petersburger Studentenkrawall vom Herbst 1861... lediglich dadurch veranlaßt worden, daß der (neue) Universitätskurator Philipson zu den Freiheiten scheel sah, die der Kaiser persönlich und der frühere Unterrichtsminister Kowalewski der akademischen Jugend erteilt hatten, und daß der damalige Generalgouverneur von Petersburg Ignatjeff Studenten und Professoren grundsätzlich verabscheute und von Zugeständnissen an ›Zivilisten‹ überhaupt nichts wissen wollte«. 1861 war u. a. auch die der militärischen sehr ähnliche Studentenuniform abgeschafft worden, um – alsbald wieder eingeführt zu werden.
N. N. Strachoff, der Mitherausgeber der »Materialien zur Lebensbeschreibung Dostojewskis«, der als Anhänger der Hegelschen Rechten dieselben Vorgänge von einem konservativeren Standpunkt aus sieht als es O. Miller tut, gibt in seinen »Erinnerungen an Dostojewski« einen weiteren Überblick über die Vorgeschichte der Studentenunruhen, der gleichzeitig einen Einblick in die Petersburger Stimmung jener Zeit gewahrt und auch Dostojewskis politische Stellungnahme beleuchtet, weshalb seine Ausführungen über die »Studentengeschichte« hier in folgendem wiedergegeben sind:
»... will nun eines der wichtigen Ereignisse jener Zeit erzählen, die sogenannte Studentengeschichte, die sich zu Ende des Jahres 1861 abspielte und die den damaligen Zustand der Gesellschaft am besten beleuchtet. In dieser Geschichte wirkten wahrscheinlich verschiedene innere Triebfedern mit; doch diese werde ich nicht berühren,«(Als Strachoff 1883 unter Alexander III. dies schrieb, wären Angaben, wie Eckardt sie gibt, von der Zensur nicht durchgelassen worden. E. K. R.) »sondern werde nur ihre äußere, öffentliche Erscheinung schildern, die für die Mehrzahl der handelnden Personen, wie für die Mehrzahl der Zuschauer die größere Bedeutung hatte.
»... Universität, an der infolge des Zustroms von Liberalismus ein reges Leben herrschte, begann von diesem Leben mehr und mehr überzuschäumen; doch zum Unglück war das ein Leben, das die Beschäftigung mit der Wissenschaft verdrängte. Die Studenten hielten Versammlungen ab, gründeten eine Kasse, gründeten eine Bibliothek, gaben ein Sammelwerk heraus, führten eine Art Gerichtshof ein, in dem sie über ihre Kameraden das Richteramt ausübten, usw.; aber alles dieses zerstreute und beschäftigte sie so sehr, daß die Mehrzahl von ihnen, und sogar viele der Klügsten und Begabtesten, schließlich aufhörte, sich auch noch mit ihrem eigentlichen Studium zu befassen. Hinzu kam, daß es auch noch andere Unzulässigkeiten gab, d. h. Überschreitungen aller möglichen Dispense, und so entschloß sich die Universitätsbehörde zu guter Letzt, Maßregeln zu ergreifen, um diesem Lauf der Dinge ein Ende zu machen. Um sich eine unbestreitbare Autorität zu sichern, erwirkte sie einen allerhöchsten Befehl, durch den Zusammenkünfte, Kassen, Deputationen und Ähnliches den Studenten verboten wurden. Der Befehl wurde während der Sommerferien ausgegeben, und als die Studenten im Herbst sich wieder auf der Universität einfanden, mußte er in Anwendung gebracht werden. Die Studenten beschlossen, sich zu widersetzen, einigten sich aber auf die einzige Art von Widerstand, die mit liberalen Grundsätzen vereinbar ist, d. h. auf den ausschließlich passiven. Sie benutzten nun die verschiedensten Vorwände, um den Behörden möglichst viel Arbeit und der ganzen Sache möglichst viel öffentliches Aufsehen zu verschaffen. Und richtig brachten sie sehr geschickt den größten Skandal zustande, den man auf die Weise überhaupt in Szene setzen konnte. Die Regierung war zwei- oder dreimal gezwungen, sie mitten am Tage von der Straße in großen Scharen fortzuführen. Zur noch größeren Freude der Studenten wurden sie sogar in die Peter-Pauls-Festung gesetzt. Sie unterwarfen sich ohne Widerspruch diesem Arrest, dann der Verurteilung und Verschickung, – die für viele sehr schwer und langwährend ausfiel. Nachdem sie das getan hatten, glaubten sie, alles getan zu haben, was nötig war, d. h. sie hatten laut die Verletzung ihrer Rechte festgestellt, waren selbst nicht über die Grenzen der Gesetzlichkeit geschritten und hatten eine schwere Strafe auf sich genommen, gleichsam nur darum, weil sie für ihre Forderungen einstanden.