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So weit N. N. Strachoff.

Nach den Aufzeichnungen J. Eckardts folgte »... Krisis vom Herbst 1861 allerdings etwas wie ein Systemwechsel... Aber das durch die bisherigen Widersprüche erzeugte und von den bereits damals außerordentlich zahlreichen Radikalen genährte Mißtrauen gegen die Umgebung des Kaisers ließ sich nicht mehr völlig beschwichtigen und – die folgenden Maßregeln waren ebenso widerspruchsvoll wie die vorhergehenden,« Diese Widersprüche in den Regierungsmaßnahmen erklärt Eckardt zum Teil dadurch, daß in den höchsten Ämtern Reaktionäre und Liberale einander »in regelmäßigem Turnus ablösten«.

Zur Geschichte der Zeit sei hier bemerkt, daß den Studentenunruhen, den Proklamationen, den Brandstiftungen, den seit der Bauernemanzipation stetig zunehmenden Agrarunruhen, dem Polnischen Aufstande usw. – am 4. Sept. 1866 bereits das erste Attentat auf das Leben Alexanders II., den »Zar-Befreier« erfolgte, der schließlich dem sechsten Attentat am 1. März 1881 zum Opfer fiel, vier Wochen nach dem Tode Dostojewskis.

E. K. R.

Die große Reform (die Aufhebung der Leibeigenschaft) war gewissermaßen am Vorabend der Jahrtausendfeier vollzogen worden, und so hätte man das Fest, sollte man meinen, mit beruhigtem Gewissen und »furchtlosem Blick nach vorwärts« begehen können. Doch als der die Festrede vortragende Professor der Universität auf das Maß von Bitternis zu sprechen kam, die das russische Volk im Laufe seines tausendjährigen Lebens zu trinken gehabt, und im Anschluß hieran sagte: »... Zeit der Thronbesteigung des heute glücklich regierenden Kaisers war der Becher zum Überlaufen gefüllt...« – da ließ man ihn nicht zu Ende sprechen, daß der Kaiser nun jenen Überschuß von Bitternis, der sich durch die Leibeigenschaft angesammelt, aus dem Becher weggegossen hatte. Man faßte seine Worte in einem ganz anderen Sinne auf, als sie gemeint waren, und es brach ein wilder Beifallssturm und ein Bravogejubel aus. Ich erinnere mich noch genau, mit welch einem wollüstigen Entzücken damals gerade die Vertreter – nicht des Nihilismus (das sah man an dem Ordensschmuck, den sie trugen), ihren Beifall durch Applaus bekundeten, ungeachtet dessen, daß sie sich in ihren »heiligsten Rechten« verletzt fühlten. Als aber der Vortragende zu dem Satze kam: »Unsere Administratoren stehen am Rande eines Abgrundes...«, da floß das Entzücken dieser Nihilisten (oder »Revolutionäre« nach Ssamarin) mit dem Entzücken jener Nihilisten zusammen – obschon selbstredend die nach dem Sprichwort sich nun berührenden »Extreme« oder entgegengesetzten Parteien bei der Bezeichnung »Administratoren« – keineswegs an ein und dieselben, sondern an ganz verschiedene Persönlichkeiten dachten.

Die Mehrzahl von uns erinnert sich natürlich noch der Folgen dieses Abends, an dem der bewußte Artikel über das Tausendjährige Rußland zum Vortrag gelangte. Der Redner hatte dafür zu büßen – allerdings nicht wegen der paar Worte, die er außer dem von der Zensur genehmigten Text sagte, sondern wegen der ungeheuren Wirkung seines Vortrags – der mißverstanden worden war. Ein Teil der studierenden Jugend verlangte nun von den Professoren, daß sie ihre Vorlesungen einstellten, da nach alledem, was vorgefallen war, eine Fortsetzung der Universitätskurse, die damals in den Sälen der Duma stattfanden, bereits undenkbar war. Einer der Professoren fand jedoch, daß man um einer Demonstration willen nicht die Wissenschaft aufgeben müsse, und verfocht seinen Standpunkt auch gegen die pfeifende und zischende Mehrheit. Der betreffende Professor mußte aber – ich glaube ganz gegen seinen Wunsch – den Abschied nehmen, obgleich seine selbständige Handlungsweise die Jugend gewiß eher eines Besseren hätte belehren können, als die vorhergegangene Festungshaft der Haupturheber jener Unruhen, die die Schließung der Universität veranlaßt hatten. Diese Festungshaft hatte in der Jugend bekanntlich nur den Eigendünkel erhöht, zumal sie sich zu ihrer Weigerung, die neuen Vorschriften anzunehmen, von einem durchaus ernsten und edlen Beweggrund hatten bestimmen lassen: es war das ihr Unvermögen, sich damit auszusöhnen, daß nach diesen Vorschriften von nun an alle für den Besuch der Vorlesungen ein Kollegiengeld zahlen mußten, »wodurch alle diejenigen jungen Leute, denen die Mittel dazu fehlten, den Zutritt zur höheren Bildung verloren«. Wer das nicht wußte, dem konnte diese Auflehnung wegen irgendwelcher »Matrikel« gerade jetzt in der großen Zeit der Bauernbefreiung tragi-komisch erscheinen! Das Volk wußte natürlich nicht, um was es sich handelte, und urteilte von seinem Gesichtspunkte aus: »... jungen Herrlein revoltieren, weil man uns die Freiheit gegeben hat.«

Alles das zusammen bildete schon eine Reihe verwickelter, bunter Erscheinungen, die bereits entschieden jene Erscheinungen ankündigten, die von Dostojewski später in den »Dämonen« geschildert worden sind. Ich kann mich jetzt nicht mehr darauf besinnen, ob Dostojewski an jenem denkwürdigen Abend vor mehr als zwanzig Jahren auch zugegen war, – doch die wesentlichen Züge der Ereignisse jenes Abends finden wir wiedergegeben in den fast zehn Jahre später geschriebenen »Dämonen« (in der Schilderung des literarischen Vormittags, der zu einem wohltätigen Zweck veranstaltet wird, an dem es jedoch infolge einer unvorhergesehenen politischen Rede zu einem ungeheuren Skandal kommt). Aber ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich zum erstenmal Dostojewski sah und vorlesen hörte: er las aus dem »Totenhause« die Sterbeszene des schwindsüchtigen Sträflings im Gefängnislazarett. Ich weiß nicht, ob er mit Absicht gerade dieses Kapitel gewählt hatte, das deutlich den ganzen Unterschied zwischen seinem Verhältnis zum Volk und dem Verhältnis jener, die ihn zum Lesen aufforderten, hervorhob – jene Besonderheit, auf Grund welcher er in demselben »Totenhause« sagt, daß unsere Intellektuellen dieses Volk nicht viel lehren könnten, – sondern selber vom Volk lernen müßten. Erst nach seinem Tode erfuhr ich, daß es ihm unangenehm war, gerade aus dem »Totenhause« vorzulesen, worum man ihn in der Regel ausdrücklich bat, – weil es als Anklage aufgefaßt werden konnte. Er begriff offenbar nur zu gut, daß man ja gerade um der Demonstration willen etwas aus dem »Totenhause« zu hören wünschte. Da ich ihn damals noch nicht persönlich kannte – ich lernte ihn erst in den siebziger Jahren kennen –, ahnte ich natürlich nicht, was für eine neue Folter dieser Mensch nun ertragen mußte, indem er sich unter Menschen fand, die ihn für einen der Ihrigen hielten, während er selbst sich unter ihnen als Fremden empfand. Dabei war er derselbe geblieben, der er damals war, als er im Freundeskreise Puschkins Gedicht vortrug, das man jetzt unter dem von ihm »vergötterten« Kaiser endlich frei vortragen durfte. Gerade deshalb »vergötterte« er ja diesen Kaiser: nicht, weil er ihn, Dostojewski, befreit hatte, sondern weil Puschkins Worte von dem »... einen Wink des Zaren« befreiten Volk nun nicht mehr verboten waren. Er begriff, daß die Zeiten sich geändert hatten, – jene aber, die sich seiner um der Demonstration willen zu bedienen suchten, wollten das nicht begreifen. Ihre Eigenliebe oder ihre Machtliebe erlaubte ihnen nicht, einzugestehen, daß das Volk in seiner unerschütterlichen Hoffnung auf den Zaren recht behalten hatte. So war es denn ein in seiner Art ganz folgerichtiger Wunsch, dem Volke nun einzureden, daß es sich einer Selbsttäuschung hingebe, in Wirklichkeit jedoch nur betrogen worden sei. Die sich aber einmal aus diesen Weg gestellt hatten, mußten nach und nach dahin kommen, daß sie sich sogar zu der Not des Volkes schadenfroh verhielten – und auch hierin stimmten sie wieder mit den »revolutionären Konservativen« überein.