Es wäre der größte Kleinmut, alles das jetzt nicht einzugestehen, jetzt, nach jenem furchtbaren Tage vom 1. März 1881, der in unserer Geschichte als ein ewiger Zeuge einer noch nicht dagewesenen Undankbarkeit verbleiben wird, unserer schreienden Undankbarkeit gegenüber dem Urheber eines in der Weltgeschichte so einzig dastehenden Tages wie es der 19. Februar ist.
Doch aus dem »Tagebuch eines Schriftstellers« vom Jahre 1873 erfahren wir auch von Dostojewski selbst, wie er sich zu dem in den sechziger Jahren sich abspielenden Präludium jener in den »Dämonen« dargestellten späteren Erscheinungen verhielt. Er äußert sich hier mit seiner gewohnten Offenheit. Was ihn dazu veranlaßte, war das Gerücht, seine 1865 erschienene phantastische Satire »... Krokodil« sei auf N. G. TschernyschewskiBedeutender literarischer Kritiker und radikaler Publizist (1828–1889, seit 1863 verbannt, starb in der Verbannung). Verehrer Lessings, Feuerbachs. Seit 1854 als Mitarbeiter, bald als Leiter der von Njekrassoff herausgegebenen Zeitschrift (»... Zeitgenosse«, gegen den Dostojewskis »Zeit« – besonders Strachoff – später heftig polemisierte) gewissermaßen »Fortsetzer der literarischen Arbeit Bjelinskis«. Dem großen Einfluß seiner politischen Ideen auf die Jugend werden zum Teil auch die Studentenunruhen wegen der reaktionären Unterrichtspolitik zugeschrieben. Der Roman »... tun?«, den er 1863 während seiner Untersuchungshaft in der Peter-Pauls-Festung schrieb – eine anschauliche Vorführung der Menschen und Einrichtungen, die er propagierte – hatte einen durchschlagenden Erfolg bei der jungen Generation. Die Geheimakten über seinen Prozeß sind von der »Dritten Abteilung« bis heute noch nicht veröffentlicht. Als vermeintlicher Verfasser der Proklamation »An die junge Generation« wurde Tschernyschewskis Mitarbeiter, der Dichter M. Michailoff, verschickt, während in Wirklichkeit ein anderer Mitarbeiter Tschernyschewskis, Schelgunoff, sie verfaßt hatte, Tschernyschewski nannte sich noch »Realist«; den »Realisten« zu Anfang der sechziger Jahre folgten die »Nihilisten« zu Ende des Jahrzehnts. In dem Tschernyschewski nahestehenden Kritiker und Mitarbeiter an derselben Zeitschrift Dobroljuboff, den man in vielem einen Schüler Tschernyschewskis nennen kann, glaubt man das Urbild von Turgenjeffs Basaroff – der erste Typ des Nihilisten im Roman »Väter und Söhne« – zu erkennen (vgl. Masaryk: »... russischen Geschichts- und Religionsphilosophie«, Verlag Diederichs, Jena). Auch Dostojewskis Pjotr Stepanowitsch Werchowenski – im Roman »... Dämonen« – erinnert namentlich in seinem Verhalten zu dem »großen Schriftsteller« Karmasinoff, in dem Dostojewski Turgenjeff karikiert hat, an den jungen Dobroljuboff und dessen Umgang mit dem berühmten Turgenjeff. E. K. R. gemünzt gewesen. Er gibt deshalb seine ganze Unterredung mit dem Autor des Romans »... tun?« über die damalige Verhetzung der Jugend wieder.
»... Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski bin ich gleich im ersten Jahre nach meiner Rückkehr aus Sibirien, 1859, zusammengetroffen,« erzählt er. »... erinnere mich aber nicht mehr, wo und auf welche Weise es geschah. Später sind wir einander noch manchmal begegnet, wenn auch sehr selten, und haben dann stets miteinander gesprochen, wenn auch nur sehr kurz. Übrigens haben wir uns jedesmal die Hand gereicht. Herzen sagte mir einmal, Tschernyschewski habe einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht, d. h. durch sein Äußeres, seine ganze Art. Mir gefiel sein Äußeres wie seine Art.
»Eines Morgens fand ich auf der Klinke meiner Wohnungstür eine Proklamation, eine der merkwürdigsten von allen, die damals auftauchten; und es tauchten damals recht viele auf. Diese hatte die Aufschrift: ›An die junge Generation‹. Man konnte sich nichts Abgeschmackteres und Dümmeres vorstellen. Der Inhalt war eine Aufreizung von so lächerlicher Form, daß eigentlich nur der größte Feind dieser Leute ihn für sie erfunden haben konnte, um sie ein für allemal unmöglich zu machen. Diese Proklamation verdroß mich schrecklich und ich fühlte mich den ganzen Tag bedrückt. Das war damals alles noch so neu und dermaßen nahe, daß selbst diese Menschen richtig zu erkennen schon schwer war. Schwer namentlich deshalb, weil man gewissermaßen nicht glauben wollte, daß sich unter diesem verwirrenden Getümmel eine solche Nichtigkeit verberge. Ich spreche jetzt nicht von der damaligen Bewegung als solcher, sondern nur von den Menschen. Was die Bewegung betrifft, so war sie eine schwere, krankhafte, aber durch ihre historische Bedingtheit doch schicksalsvolle Erscheinung, die einmal ihr ernstes Blatt in der Petersburger Periode unserer Geschichte haben wird. Ja, und dieses Blatt ist, scheint es, noch lange nicht zu Ende geschrieben.
»... da ärgerte ich mich nun plötzlich, obgleich ich schon lange mit meiner Seele und meinem Herzen weder mit diesen Leuten, noch mit dem Sinne ihrer Bewegung übereinstimmte –, ärgerte mich und schämte mich fast für ihre Ungeschicktheit: ›Warum kommt das bei ihnen so dumm und ungeschickt heraus‹? Und was ging denn das schließlich mich an? Aber es tat mir ja doch nicht um ihren Mißerfolg leid. Von den eigentlichen Urhebern und Verbreitern der Proklamationen kannte ich keinen einzigen und kenne sie auch jetzt nicht; aber das war ja das Traurige dabei, daß diese Erscheinung sich mir nicht als ein einzelner Fall darstellte, als ein törichter Streich bestimmter Personen, auf die es weiter nicht ankam. Hier bedrückte vielmehr eine Tatsache: das Niveau der Bildung, der Entwicklung und das Fehlen selbst des geringsten Verstehens der Wirklichkeit, – das war es, was so entsetzlich niederdrückend wirkte. Obgleich ich schon seit drei Jahren wieder in Petersburg lebte und bereits manche Erscheinungen beobachtet hatte, machte diese Proklamation an jenem Morgen doch einen furchtbaren Eindruck auf mich, sie wirkte gleichsam wie eine neue, völlig unerwartete Entdeckung: ich hatte bis dahin noch nie eine solche Nichtigkeit hinter alldem für möglich gehalten! Es erschreckte einen namentlich der Grad dieser Nichtigkeit. Kurz vor dem Abend fiel es mir plötzlich ein, Tschernyschewski aufzusuchen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie daran gedacht, zu ihm zu gehen, ganz wie auch er noch nie bei mir gewesen war... Ich traf ihn ganz allein zu Hause an, auch von den Dienstboten war niemand da, und er machte mir selbst die Tür auf. Er empfing mich überaus bereitwillig und fühlte mich in sein Arbeitszimmer.
»›Nikolai Gawrilowitsch, was bedeutet das hier?‹ Ich zog die Proklamation hervor.
»Er nahm sie wie etwas ihm vollkommen Unbekanntes und las sie durch. Es waren im ganzen zehn Zeilen. »›Nun, und?‹ fragte er mit einem leichten Lächeln.
»›Sind diese Leute wirklich so dumm und so lächerlich? Sollte es nicht doch möglich sein, sie zurückzuhalten und dieser Schändlichkeit ein Ende zu machen?‹
»Darauf antwortete er sehr gewichtig und eindringlich: ›Glauben Sie denn, daß ich mit jenen solidarisch bin, und halten Sie es für möglich, daß ich an der Abfassung dieses Textes beteiligt gewesen sein könnte?‹
»›Das ist's ja, daß ich das nicht glaube‹, versetzte ich, ›und ich halte es sogar für überflüssig, Sie dessen noch zu versichern. Jedenfalls aber muß man ihnen Einhalt tun, um jeden Preis. Ihr Wort ist für sie von Gewicht und natürlich fürchten sie Ihre Meinung.‹
»›Ich kenne keinen von ihnen‹.