»›Auch davon bin ich überzeugt. Aber es ist ja gar nicht nötig, sie zu kennen und persönlich mit ihnen zu sprechen. Sie brauchen nur laut, gleichviel wo, zu erklären, daß Sie diese Treibereien tadeln, und es wird schon zu ihnen gelangen‹.
»›Vielleicht wird das auch keinen Einfluß haben. Ja und schließlich sind auch diese Erscheinungen als Begleiterscheinungen unvermeidlich‹.
»›Und doch schaden sie allen und allem‹.
»Es klingelte und ein anderer Gast erschien – ich erinnere mich nicht mehr, wer es war. Da verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause. Ich halte es für meine Pflicht, zu bemerken, daß ich mit Tschernyschewski ganz offenherzig sprach und durchaus daran glaubte, wie ich auch jetzt daran glaube, daß er mit den Verfassern und Verbreitern dieser Proklamation nicht ›solidarisch‹ gewesen ist. Ich hatte den Eindruck, daß mein Besuch ihm nicht unangenehm war; ein paar Tage später bestätigte er diesen Eindruck, indem er zu mir gefahren kam und ungefähr eine Stunde bei mir blieb. Es wurde mir klar, daß er mit mir bekannt werden wollte, und ich weiß noch, mir war das angenehm. Dann war ich noch einmal bei ihm und er noch einmal bei mir. Bald darauf fuhr ich nach Moskau, wo ich ungefähr neun Monate blieb. Auf die Weise hörte unser Verkehr von selbst auf. Darauf erfolgte die Verhaftung Tschernyschewskis und seine Verbannung. Über seinen Prozeß habe ich nie etwas erfahren können; ich weiß auch heute noch nichts Näheres...«
Doch wenn eine solche »Begleiterscheinung« in der großen Zeit der Bauernbefreiung durch ihre »Nichtigkeit« in ihrer Art lachhaft sein mag, so kann man das vom polnischen Aufstande von 1863 natürlich nicht mehr sagen. Ich schäme mich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals im Auslande den deutschen Zeitungen anfangs Glauben schenkte in dem, was sie von den Grausamkeiten unserer Soldaten in Polen berichteten. Indessen erhob sich damals in demselben Deutschland eine so unparteiische, ja, noch mehr als das, eine so begeisterte Stimme über unsere Bauernreform, wie wir sie bei uns in Rußland entschieden nicht zu hören bekamen. Es war die Stimme eines Greises mit jungem Geist – Jakob Grimms. Mit seinem allumfassenden, menschlichen Herzen erkannte er vollkommen und begrüßte er freudig unsere, wie er sich ausdrückte, »riesenhafte Vorwärtsbewegung«. Eben diese Vorwärtsbewegung aber sollte nun aufgehalten, sollte hintertrieben werden, und gerade in dieser Zeitspanne brach nun–zur Freude und Zufriedenheit jener europäischen Mehrheit, die nicht den edlen Geist eines Grimm besaß – der polnische Aufstand aus mit seinem blutigen Terror. Jetzt durfte sich Dostojewski nicht mehr mit Geringschätzung über die »Nichtigkeit« der Erscheinung äußern, jetzt war für ihn nichts anderes möglich, als daß er von Entrüstung und Entsetzen erfüllt wurde. Bekanntlich wird Dostojewski von vielen für einen ausgesprochenen Feind Polens gehalten, und die Edelsten unter den Polen können ihm seine Stellungnahme nicht verzeihen. Wenn wir indes jenes Kapitel in den »Aufzeichnungen aus einem Totenhause« lesen, in dem er auf die politischen Sträflinge zu sprechen kommt, so finden wir, daß er von den verbannten Polen nicht nur ohne feindselige Voreingenommenheit, sondern mit voller Achtung spricht. Ihn kränkte nur ihr hochmütiges »je hais ces brigands« in ihrem Verhalten zu den anderen russischen Sträflingen, in denen er selbst immer dasselbe russische Volk sah, mit dem er sich eins fühlte. Der polnische Aufstand aber gerade in dieser segensreichen Zeit mußte ihm einfach als eine Verhöhnung des ganzen russischen Volkes erscheinen, desselben Volkes, das jetzt endlich seinen Zar-Befreier erharrt hatte – dieser Aufruhr, dessen armseliges, doch immerhin trauriges Präludium die Studentenunruhen mit den damaligen »dummen«, aber immerhin unheilverkündenden Proklamationen waren. Doch während unsere jungen »Herrlein« gewissermaßen nur zufällig in den Augen des Volkes zu einer dem Volke so widerlich gewordenen Rolle kamen (»... jungen Herrlein revoltieren, weil man uns die Freiheit gegeben hat«), – war jetzt im polnischen Aufstande schon deutlich und in allem Ernst der alte, das verknechtete Bauernvolk stets nur verachtende, »höchst edelgeborene« Geist zu spüren. Nicht Polen war es, und nicht das polnische Volk, dem nun von demselben russischen Zaren gleichfalls Land zugeteilt worden war, was Dostojewski nicht liebte: er haßte jenen traditionellen Geist Polens, der das eigene Volk bedrückte und der Polen ins Verderben gebracht hatte. Diesen alten Geist Polens mußte er hassen, ganz wie Proudhon ihn haßte und wie viele von den Polen selbst es taten – von den wirklich selbstlos-ehrlichen polnischen Patrioten. Dieser alte Geist Polens war Dostojewski verhaßt als dem Sozialisten, der er war, – denn ein Sozialist im weiten menschlichen Sinne dieses Wortes hat Dostojewski nie aufgehört zu sein.
Aber die Sache war die, daß unsere – nicht nur unsere »Liberalen«, sondern auch unsere »Sozialisten« bereit gewesen wären, den polnischen Panen die brüderliche Hand zu reichen, weil sie in ihnen einen reichen Vorrat an Unzufriedenheit sahen, – bei uns aber hatte sich damals schon jener Opportunismus entwickelt, der keinerlei unzufriedene Elemente verschmähte, worauf Ssamarin in seinen Briefen an Herzen so deutlich hingewiesen hat.Anspielung u. a. auch auf Bakunin und den von diesem mitgerissenen Alexander Herzen, die Führer der russischen Emigration in London, die mit den polnischen Aufständischen gemeinsame Sache machten. E. K. R.
Dostojewski war niemals ein »getreuer Untertan der Revolution« (wie Ssamarin sich in diesen Briefen an Herzen, bezugnehmend auf andere Zeitgenossen, ausdrückt), und darum war er auch nie »Opportunist«.
Aus Sibirien mit einem unermeßlichen Vorrat von Glauben und Liebe zurückgekehrt, und mit dem heißen Verlangen nach Einigkeit bei der aufbauenden Arbeit zum Wohle des Vaterlandes, mußte er mit wachsendem Unwillen die ringsum mehr und mehr hervortretenden Anzeichen einer negativen Tätigkeit zum Zwecke der Zerstörung erkennen. So ist deshalb wohl ohne weiteres zu verstehen, daß er sich bei seiner Geradheit immer mehr Feinde machen mußte.
Unter diesen Verhältnissen und in dieser Lage nahm Dostojewski seine literarische Tätigkeit nun wieder auf. Gerade im Jahre der Bauernbefreiung begann er in Gemeinschaft mit seinem älteren Bruder die Monatsschrift »... Zeit« herauszugeben.
Doch meine Aufgabe ist nur, seinen Lebenslauf bis zu diesem Augenblick zu verfolgen. Ich übergebe die Feder seinem nächsten Mitarbeiter an dieser Zeitschrift – als dem unmittelbaren Teilnehmer und Augenzeugen der weiteren Lebenszeit Fjodor Michailowitschs.Siehe die Einleitung zu Bd. XII der deutschen Ausgabe: N. N. Strachoff über Dostojewski. E. K. R.
Orest Miller
Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke
Nach Dostojewskis erster Reise ins Ausland, vom 7. Juni bis August 1862, im Winter desselben Jahres geschrieben und im Frühjahr 1863 in seiner literarischen Monatsschrift »... Zeit« veröffentlicht. E. K. R.
Erstes Kapiteclass="underline" Statt eines Vorworts
Seit wieviel Monaten, meine Freunde, drängen Sie mich nun schon, Ihnen doch endlich meine ausländischen Eindrücke zu erzählen, und dabei scheinen Sie nicht einmal zu ahnen, daß Sie mich mit Ihrer Bitte einfach in Verlegenheit setzen. Was soll ich Ihnen denn berichten? Was kann ich Ihnen Neues, noch Unbekanntes, noch nicht Erzähltes erzählen? Wem von uns Russen (d. h. von den Russen, die wenigstens Zeitschriften lesen) ist Europa nicht doppelt so gut bekannt wie Rußland? »Doppelt so gut« habe ich soeben nur aus Bescheidenheit gesagt, in Wirklichkeit aber dürfte uns Europa sicherlich zehnmal besser bekannt sein. Doch abgesehen von diesen allgemeinen Bedenken wissen Sie ja ganz genau, daß gerade ich im besonderen eigentlich gar nicht das Recht habe, etwas zu erzählen, oder gar noch regelrecht und schriftlich zu berichten, da ich doch nichts regelrecht betrachtet habe; denn wenn da auch manches an meinem Auge vorübergezogen ist, so bin ich doch gar nicht dazu gekommen, es mir genauer anzusehen. Ich war in Berlin, in Dresden, in Wiesbaden, in Baden-Baden, in Köln, in Paris, in London, in Luzern, in Genf, in Genua, in Florenz, in Mailand, in Venedig, in Wien, und in noch manchen anderen Städten, in manchen sogar zweimal, und alles das habe ich in genau zweieinhalb Monaten bereist! Kann man denn überhaupt etwas richtig erkennen, wenn man in so kurzer Zeit so vieles sieht? Wie Sie wissen, hatte ich meinen Reiseplan in Petersburg im voraus festgesetzt. Im Auslande war ich noch nie gewesen, doch schon seit meiner frühesten Kindheit hatte ich hingestrebt, schon damals, als ich noch nicht zu lesen verstand und an den langen Winterabenden mit offenem Munde, fast vergehend vor Entzücken und Grauen, zuhörte, wie meine Eltern vor dem Schlafengehen die Romane der Radcliffe lasen, von denen ich dann noch im Traume fiebernd phantasierte. Erst in meinem vierzigsten Lebensjahre sollte es mir endlich möglich sein, die Reise ins Ausland zu verwirklichen, – da wollte ich selbstverständlich nicht nur soviel wie möglich sehen, sondern wollte einfach alles, unbedingt alles sehen, trotz der kurzen Zeit, die mir zu Gebote stand. So war ich denn auch entschieden unfähig, mir die Wahl der Städte kaltblütig zu überlegen. Herrgott, wieviel ich mir von dieser Reise versprach! »... wenn ich mir auch nichts eingehend ansehen kann,« dachte ich bei mir, »so werde ich dafür doch alles gesehen haben, werde überall gewesen sein und aus allem Geschauten wird sich ein Gesamtbild, ein allgemeines Panorama ergeben. Das ganze ›Land der heiligen Wunder‹ wird sich mit einem Mal mir darbieten, gleichsam aus der Vogelschau, wie das Gelobte Land von einem Berge aus in der Fernsicht. Jedenfalls wird es ein ganz neuer, wunderbarer, starker Eindruck sein.« So dachte ich damals. Und was bedauere ich jetzt am meisten, wenn ich, wieder zu Hause sitzend, an meine Sommerreise zurückdenke? Nicht das, daß ich mir nichts eingehend angesehen habe, sondern nur, daß ich, der ich doch so ziemlich überall gewesen bin, Rom zum Beispiel nicht gesehen habe. Und in Rom hätte ich vielleicht den Papst zu Gesicht bekommen... Mit einem Wort, mich hatte nun einmal ein unstillbarer Durst nach Neuem erfaßt, nach Ortsveränderung, nach allgemeinen, synthetischen, panoramatischen, perspektivischen Eindrücken. Nun also – was können Sie jetzt, nach einem solchen Geständnis, noch von mir erwarten? Was kann ich Ihnen erzählen? Was schildern? Ein Panorama, eine Perspektive? Irgend etwas aus der Vogelschau? Aber gerade Sie werden doch vielleicht die ersten sein, die mir dann zurufen, ich flöge zu hoch. Hinzu kommt, daß ich mich für einen gewissenhaften Menschen halte und gar keine Lust habe, zu lügen, nicht einmal in der Eigenschaft als Reisender. Und doch würde ich, auch wenn ich nur ein Panorama vor Ihnen zu entrollen versuchte, unfehlbar von der Wahrheit abweichen, und das nicht einmal deshalb, weil ich als Reisender schildere, sondern ganz unwillkürlich, eben weil es mir in meiner Lage schlechterdings unmöglich ist, die objektive Wahrheit zu sagen. Urteilen Sie selbst: Berlin zum Beispiel hat auf mich den sauersten Eindruck gemacht und ich bin in dieser Stadt im ganzen nur vierundzwanzig Stunden geblieben. Heute weiß ich, daß ich Berlin unrecht tue, daß ich nicht mit Bestimmtheit sagen darf, es mache wirklich einen saueren Eindruck – oder wenn schon, dann doch zum mindesten einen süßsaueren. Und woher kam mein unheilvoller Irrtum? Entschieden daher, daß ich, der ich als ein kranker, leberleidender Mensch zweimal vierundzwanzig Stunden lang mit der Eisenbahn durch Regen und Nebel nach Berlin gefahren war, nun nach meiner Ankunft, unausgeschlafen, gelb, müde, mit steifen Gliedmaßen, plötzlich auf den ersten Blick nur dies eine gewahrte: daß Berlin bis zur Unglaublichkeit an Petersburg erinnert. Dieselben schnurgeraden Straßen, dieselben Düfte, dieselben... (doch wozu alles aufzählen!). »... du lieber Gott«, dachte ich da bei mir, »... es sich nun gelohnt, sich zweimal vierundzwanzig Stunden lang rädern zu lassen, um schließlich genau dasselbe vor sich zu erblicken, wovon man weggefahren ist?« Nicht einmal die Linden gefielen mir; und doch würde der Berliner für ihre Erhaltung alles opfern, was ihm teuer ist, im Notfalle vielleicht selbst seine preußische Verfassung – was aber ist dem Berliner noch teurer als diese? Überdies sahen die Berliner alle so ungeheuer deutsch aus, daß ich, sogar ohne die Fresken Kaulbachs bewundert zu haben (unerhört!), mich schleunigst nach Dresden davonmachte, in meiner Brust die tiefste Überzeugung nährend, daß man sich an den Deutschen erst besonders gewöhnen muß und daß er, wenn man sich noch nicht an ihn gewöhnt hat, in großen Massen schwer zu ertragen ist. In Dresden aber versündigte ich mich sogar an den deutschen Frauen: es schien mir dort plötzlich – ich war kaum auf die Straße getreten –, daß es nichts Widerlicheres gäbe, als den Typus der Dresdener Frauen, so daß selbst der berufene Verherrlicher der Liebe, Wssewolod Krestowski,Unbedeutender Dichter, versuchte in seinen »Petersburger Höhlen« Eugene Sue's »Geheimnisse von Paris« nachzuahmen. E.K.R. der selbstsicherste und vergnügteste aller russischen Dichter, hier völlig aus dem Text kommen und vielleicht sogar an seinem Beruf irre werden würde. Natürlich fühlte ich noch in derselben Minute, daß ich Unsinn dachte, daß es solche Umstände, die Herrn Krestowski an seinem Berufe irre zu machen vermöchten, überhaupt nicht geben kann. Zwei Stunden später fand ich die Erklärung für alles: in mein Hotelzimmer zurückgekehrt, steckte ich vor dem Spiegel die Zunge heraus und überzeugte mich, daß mein Urteil über die Dresdener Damen der schwärzesten Verleumdung gleich kam. Meine Zunge war belegt – ein böses Zeichen... »Sollte es denn wirklich, wirklich möglich sein, daß der Mensch, dieser König der Schöpfung, in einem solchen Maße von seiner eigenen elenden Leber abhängt?– was für eine Niedertracht!« Mit diesen halbwegs tröstenden Gedanken begab ich mich nach Köln. Ich muß gestehen, ich versprach mir viel vom Kölner Dom; schon in meiner Jugend, als ich mich mit Architektur befassen mußte, hatte ich ihn mit Ehrfurcht nachgezeichnet. Auf meiner Rückreise aus Paris, einen Monat später, sah ich den Kölner Dom zum zweiten Male, und da hätte ich ihn auch »... den Knieen um Verzeihung bitten« mögen, weil ich seine Schönheit das erste Mal nicht begriffen hatte, genau so, wie einst Karamsin es bei Schaffhausen vor dem Rheinfall getan.Karamsins »Briefe eines russischen Reisenden«, in denen der nachmalige Historiograph des russischen Staates seine europäischen Eindrücke schildert, sind reichlich gefühlvoll geschrieben und namentlich in den Naturschilderungen oft überschwänglich im Ausdruck. Sie wurden 1791 veröffentlicht, hatten einen ungeheuren Erfolg und – gleich seinen späteren Werken – einen unabschätzbaren Einfluß auf die russische Sprachbildung. E. K. R. Nichtsdestoweniger aber bleibt die Tatsache als solche bestehen, daß der Dom mir bei meinem ersten Aufenthalt in Köln durchaus nicht gefiel. Er kam mir wie ein Galanteriegegenstand vor, der nur aus Spitzen und Spitzen und nichts als Spitzen bestand, oder wie irgend so ein Ding, das als Briefbeschwerer auf den Schreibtisch zu stellen ist, allerdings von guten siebzig Faden Höhe. »Wenig Imposantes«, urteilte ich, ganz wie in der alten Zeit unsere Großväter über Puschkin zu urteilen pflegten: »Er schreibt zu leicht, hat zu wenig Erhabenes«. Ich vermute, daß mein erstes Urteil unter dem Einfluß zweier Umstände so ungünstig ausfieclass="underline" der erste Umstand war – das Eau de Cologne. Johann Maria Farina befindet sich nämlich in der nächsten Nähe des Domes, und in welch einem Hotel Sie auch absteigen, in welch einer Stimmung Sie auch sind, wie sehr Sie sich vor Ihren Feinden im allgemeinen und vor Johann Maria Farina im besonderen verstecken möchten, seine Vertreter werden Sie doch unfehlbar auffinden, und dann heißt es einfach: »