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Doch da fallen Sie mir schon ins Wort und sagen, es sei Ihnen diesmal gar nicht um genaue Angaben zu tun, die fänden Sie im Notfall auch im Führer von Reichardt; dagegen wäre es gar nicht übel, wenn überhaupt jeder Reisende sich in seinem Reisebericht weniger die Feststellung der unbedingten Richtigkeit (zumal eine solche doch fast immer über sein Vermögen gehe), als seine eigene volle Aufrichtigkeit angelegen sein ließe; wenn er sich nicht scheute, manchmal auch gewisse persönliche Eindrücke und Erlebnisse mitzuteilen, selbst wenn diese ihm nicht gerade zur Ehre gereichen, und wenn er sein Urteil nicht nach dem Urteile bekannter Autoritäten richten würde. Kurz, Sie geben mir zu verstehen, daß Sie von mir nichts anderes als nur meine sozusagen privaten Beobachtungen mit aller Freimütigkeit hören wollen.

Ach so! rufe ich aus, dann ist es Ihnen also nur um leichte Skizzen, persönliche, im Vorübergehen festgehaltene Eindrücke zu tun, um eine ganz gewöhnliche Plauderei? Ja, damit bin ich einverstanden, und ich werde sogleich in meinem Merkbuch nachschlagen. Auch werde ich mir alle Mühe geben, mit voller Freimütigkeit zu berichten und ganz offenherzig zu sein. Nur bitte ich, nicht zu vergessen, daß immerhin in dem, was ich jetzt schreiben werde, sehr viele Irrtümer vorkommen können. Selbstverständlich nicht in allem. Bei solchen Tatsachen, wie zum Beispiel, daß es in Paris eine Notre-Dame und einen Bal-Mabille gibt, ist ein Irrtum natürlich ausgeschlossen. Besonders die letztere Tatsache ist ja von allen Russen, die über Paris geschrieben haben, so oft bezeugt worden, daß man an ihr wirklich nicht mehr zweifeln darf. Also wird auch mir in der Beziehung ein Irrtum nicht gut möglich sein, – doch übrigens, streng genommen, stehe ich auch dafür nicht ein. Man sagt ja auch, in Rom sein und den Petersdom nicht sehen, sei unmöglich. Nun, was sagen Sie aber dazu: ich war in London und habe doch die St. Pauls-Kathedrale nicht gesehen. Ich habe sie tatsächlich nicht gesehen. Freilich ist zwischen Paul und Peter immer noch ein Unterschied, aber für einen Reisenden ist so etwas doch gewissermaßen bloßstellend. Da hätten Sie nun mein erstes Erlebnis, das mir nicht zur Ehre gereicht (das heißt, ich habe die St. Pauls-Kathedrale zwar von weitem gesehen, so ungefähr aus einer Entfernung von achthundert Schritt, aber da ich mich gerade auf dem Wege nach der Pentonville Road befand und es eilig hatte, dachte ich »... was!« und fuhr weiter). Doch zur Sache, zur Sache! Übrigens bin ich nicht nur gereist und habe nicht nur aus der Vogelschau gesehen (aus der Vogelschau heißt nicht »... oben herab«. Es ist dies vielmehr ein Fachausdruck der Architekten, wie Sie wissen). So habe ich z. B. einen ganzen Monat außer acht Tagen, die ich in London verbrachte, nur in Paris verlebt. Deshalb werde ich Ihnen auch zunächst von Paris erzählen, denn diese Stadt habe ich mir doch ein wenig besser angesehen als den Londoner St. Paul oder die Dresdener Damen. Also nun beginne ich.

Zweites Kapiteclass="underline" Im Waggon.

»Überlegung hat der Franzose nicht, ja, ihr Besitz würde ihm sogar als das größte persönliche Unglück erscheinen.« Diesen Satz hat noch im vorigen Jahrhundert VonwisinDenis I. Vonwisin (1745-92), Zeitgenosse Katharinas II., Verfasser der satirischen Lustspiele »... Brigadier« und »... Muttersöhnchen«, die epochemachend wirkten, da sie nach den langweiligen Oden Lomonossoffs und Dershawins und den billigen Nachahmungen europäischer Literatur die ersten selbständigen Werke in russischer Sprache waren, die der russischen Wirklichkeit ihr Spiegelbild zeigten. Mit ihnen beginnt die russische Selbstkritik, die sogen. »Anklageliteratur«, die später in Gribojedoffs »Kummer durch Verstand«, Tschaadajeffs Briefen, Gogols Komödien und »Toten Seelen« ihre Fortsetzung fand, Vonwisins »Briefe aus Frankreich«, in denen neben manchen Lästerungen zum ersten Mal Kritik an den Lehrern geübt wird, laufen im wesentlichen auf den Satz hinaus: »nous commençons et ils finissent«. E. K. R. geschrieben und, mein Gott, mit welch einer Lust müssen ihm diese Worte aus der Feder geglitten sein! Ich könnte wetten, daß es in seinem Herzen, als er diesen Satz verfaßte, nur so kitzelte vor Vergnügen. Und wer weiß, vielleicht haben wir alle nach ihm, drei-vier Generationen hintereinander, nicht ohne einen gewissen Genuß diesen Satz gelesen. Haben doch alle Phrasen dieser Art, die von uns aus die Ausländer ähnlich abtun, selbst heute noch etwas unwiderstehlich Angenehmes für uns Russen. Doch selbstverständlich nur im tiefsten Geheimen, ja mitunter sogar vor uns selber insgeheim. Man verspürt dabei so etwas wie Rache für etwas Vergangenes und nicht Gutes. Nun ja, dieses Gefühl ist auch gerade kein gutes, aber ich bin doch irgendwie überzeugt, daß es fast in jedem von uns vorhanden ist. Wir würden natürlich sehr ungehalten sein, wenn man uns dessen verdächtigte, und würden uns dabei durchaus nicht verstellen, indessen glaube ich, daß selbst Bjelinski in diesem Sinne im geheimen ein Slawophile war. Ich weiß noch, wie man damals – vor einigen fünfzehn Jahren, als ich mit Bjelinski bekannt war – ja, mit welch einer schon bis zur Seltsamkeit getriebenen Ehrfurcht dieser ganze damalige Kreis sich vor dem Westen beugte, d. h. insonderheit vor Frankreich. Damals war Frankreich Mode, – im Jahre 1846. Und nicht nur, daß solche Namen vergöttert wurden, wie George Sand, Proudhon und andere, oder daß solche geachtet wurden, wie Louis Blanc, Ledru-Rollin usw. Nein, auch alle möglichen Eintagspilze, die armseligsten Personennämchen, deren Träger sich denn auch sogleich blamierten, als es später auf sie ankam, – selbst die standen in hohem Ansehen. Auch von diesen wurde etwas Großes in dem bevorstehenden Dienst der Menschheit erwartet. Von manchen derselben ward nur mit dem besonderen Geflüster der Ehrfurcht gesprochen... Und? Dabei habe ich in meinem Leben noch keinen so leidenschaftlich russischen Menschen getroffen, wie es gerade Bjelinski war, obschon vor ihm nur ein TschaadajeffDandy und Geschichtsphilosoph (1794–1866), Westler mit katholischen Sympathien, erhob in seinen »Lettres sur la philosophie de l'histoire«, die an eine Dame gerichtet waren, die wuchtigsten Anklagen gegen Rußland, dem er geistige Schöpfungsmöglichkeiten absprach. Der erste Brief wurde 1836 in russischer Übersetzung veröffentlicht und erregte ungeheures Aufsehen: er wirkte, wie im 18. Jahrhundert Vonwisins satirischer Leitspiegel kaum gewirkt hatte, und erreichte fast den Einfluß, der von Gribojedoffs Satire »Kummer durch Verstand« seit 1825 ausgegangen war. E. K. R. so dreist, aber mitunter auch so blind wie er, über vieles uns Eigentümliche ungehalten gewesen war und anscheinend alles Russische verachtet hatte. Ich erinnere mich gewisser Momente, die mich jetzt zu diesen Erwägungen veranlassen. Also wer weiß, vielleicht ist dieser Ausspruch Vonwisins sogar einem Bjelinski bisweilen nicht allzu skandalös erschienen. Es gibt doch nun einmal Augenblicke, wo einem selbst die beste und sogar eine rechtmäßige Vormundschaft nicht gerade sehr gefällt. Doch – Gott behüte! – denken Sie nun nicht, daß sein Vaterland lieben die Ausländer schelten heiße, und daß ich es so verstehe. Nein, so denke ich keineswegs, sogar im Gegenteil... Schade nur, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich deutlicher zu erklären. Oder befürchten Sie nicht schon, daß ich, statt mich nach Paris zu begeben, einen Ausflug in das Gebiet der russischen Literatur vorziehe? einen literarisch-kritischen Artikel zu schreiben gedenke? Nein, das habe ich hier nur so... aus beschaulicher Muße.