Nach meinem Merkbuch sitze ich jetzt im Waggon und bereite mich darauf vor, morgen in Eydtkuhnen einzutreffen, d. h. ich erwarte den ersten Eindruck des Auslandes, und bei diesem Gedanken fühle ich sogar mein Herz erschauern. Wie werde ich denn nun endlich Europa sehen, ich, der ich von Europa fast vierzig Jahre lang fruchtlos geträumt, ich, der ich schon als Sechzehnjähriger, und zwar allen Ernstes, wie Njekrassoffs Bjelopätkin
»Nach der Schweiz zu fliehen gedachte«,
und doch nicht floh, und der ich nun endlich in das »Land der heiligen Wunder« fahre, in das Land meiner so langen Sehnsüchte und Erwartungen, meines so hartnäckigen Glaubens! Herrgott, was sind wir denn für Russen? fuhr es mir da durch den Kopf, während ich immer noch in demselben Waggon saß. Sind wir denn überhaupt und wirklich Russen? Warum macht denn Europa auf uns, wer wir auch sein mögen, einen so starken, zauberischen Eindruck, als rufe es uns? Das heißt: ich rede jetzt nicht von jenen Russen, die dort in Europa geblieben sind, und auch nicht von jenen einfachen Russen, deren Name fünfzig Millionen ist und die wir, wir hunderttausend Menschen, noch immer höchst ernsthaft für niemand halten und über die unsere tiefsinnigen satirischen Zeitschriften sich noch bis heute lustig machen, weil sie sich die Bärte nicht scheren. Nein, ich rede jetzt lediglich von unserem privilegierten und patentierten Häuflein. Ist doch alles, entschieden fast alles, was es bei uns an Entwicklung, Wissenschaft, Kunst, Bürgersinn, Menschlichkeit gibt, alles von dort hergekommen, alles aus eben diesem Lande der heiligen Wunder! Hat sich doch unser ganzes Leben schon von unserer ersten Kindheit an nach dem europäischen ABC aufgebaut. Hätte denn überhaupt jemand von uns diesem Einfluß, diesem Ruf, diesem Druck standhalten können? Wie war es nur möglich, daß wir uns nicht endgültig in Europäer verwandelten? Denn: daß wir uns nicht verwandelt haben – das werden, denke ich, alle zugeben, die einen mit Freuden, die anderen natürlich mit Ärger darüber, daß wir eben nicht so weit herangewachsen sind. Doch das ist eine Frage für sich. Ich will hier nur die Tatsache hervorheben, daß wir uns nicht verwandelt haben, sogar trotz so unwiderstehlicher Einflüsse, und diese Tatsache kann ich eigentlich selbst nicht recht verstehen. Es sind doch nicht immer unsere Kinderwärterinnen und Ammen gewesen, die uns vor der Verwandlung bewahrten, wie es mit Puschkin geschah... Sollte es denn wirklich eine solche chemische Verbindung des Menschengeistes mit der Heimaterde geben, daß man sich doch nicht endgültig von ihr loszureißen vermag, oder wenn man es versucht, dann doch immer wieder, zu ihr zurückkehren muß? Der Slawophilismus ist bei uns gewiß nicht vom Himmel herabgefallen und wenn er auch in der Folge die Gestalt eines Moskauer Einfalls angenommen hat, so ist die Grundlage dieses Einfalls doch etwas breiter als die Moskauer Formel und ruht vielleicht in manchen Herzen viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Vielleicht ist das auch bei den Moskowitern selber der Fall. Man bedenke nur einmal, wie schwer es doch ist, sich gleich beim ersten Mal klar auszudrücken, sogar wenn man es nur für sich selbst zu tun versucht. Manch ein lebenszäher, starker Gedanke kommt denn auch in drei Menschenaltern nicht klar zum Ausdruck, sodaß das Finale manchmal dem Anfang völlig unähnlich ausfällt...
Alle diese müßigen Gedanken belagerten mich nun unwillkürlich im Waggon auf meiner Fahrt nach Europa, zum Teil übrigens aus Langeweile und infolge des Nichtstuns. Seien wir doch aufrichtig! Über solche Gegenstände pflegen bei uns bis jetzt nur diejenigen nachzudenken, die nichts zu tun haben. Ach, wie ist es langweilig, müßig im Waggon zu sitzen! – wirklich auf ein Haar so, wie es bei uns in Rußland ohne eigene Arbeit langweilig zu leben ist. Wenn man auch gefahren wird, wenn auch für einen gesorgt wird, ja wenn man auch manchmal so eingelullt wird, daß einem, wie man meinen sollte, nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, die Langeweile, die Langeweile ist dennoch da, und zwar gerade deshalb, weil du selbst nichts tust, weil andere sich schon gar zu sehr um dich bekümmern, du aber sitze da und warte, bis man dich endlich hingeschafft hat. Weiß Gott, manchmal wäre ich wahrhaftig am liebsten nur so hinausgesprungen aus dem Waggon und seitwärts neben der Maschine auf meinen eigenen Füßen gelaufen. Mag es so auch schlechter gehen, mag ich auch aus Ungeübtheit ermüden, mich im Wege versehen, darauf kommt es nicht an! Dafür gehe ich selbst, mit meinen eigenen Beinen, dafür habe ich eine Aufgabe für mich gefunden und tue sie selbst, dafür werde ich, wenn es geschieht, daß die Waggons zusammenstoßen und kopfüber hinabsausen, nicht mehr mit gefalteten Händen eingeschlossen sitzen und mit meinen Körperseiten fremde Schuld bezahlen...
Weiß Gott, was alles einem beim Nichtstun manchmal in den Sinn kommt!
Inzwischen begann es schon zu dunkeln. In den Waggons wurde das Licht angezündet. Mir gegenüber saß ein Ehepaar, schon bejahrte Leute, Gutsbesitzer; ich glaube, gute Menschen. Sie reisten nach London, nur auf ein paar Tage, um sich die Weltausstellung anzusehen, die Kinder aber hatten sie zu Hause gelassen. Rechts neben mir saß ein Russe, der aus kommerziellen Gründen seit zehn Jahren in London lebte, jetzt nur auf zwei Wochen Geschäfte halber nach Petersburg gekommen war und, wie mir schien, bereits jede Vorstellung von Heimweh vollständig verloren hatte. Links saß ein echter, ein Vollblut-Engländer, rotblond, mit einem englischen Scheitel und von betontem Ernst. Während der ganzen Reise sagte er zu keinem einzigen von uns auch nur das kleinste Wort, gleichviel in welcher Sprache, am Tage las er unausgesetzt in einem Buch von jenem kleinsten englischen Druck, den nur Engländer ertragen können, ja sogar noch wegen der Bequemlichkeit loben, und abends zog er, sobald es zehn Uhr wurde, sogleich seine Stiefel aus und Schuhe an. Wahrscheinlich hatte er das in seinem Leben einmal so eingeführt und seine Gewohnheiten wollte er offenbar auch auf der Reise nicht ändern. Bald schlummerten alle ein; das Pfeifen und Stampfen des Zuges trieb einen unwiderstehlich in irgend so einen Schlummerzustand. Ich saß, dachte, dachte, und ich weiß eigentlich selbst nicht, wie mir plötzlich jener Satz einfieclass="underline" »Überlegung hat der Franzose nicht«, womit ich dieses Kapitel begann. Aber wissen Sie: es unterspült mich etwas und treibt mich, Ihnen diese meine Überlegungen im Eisenbahnwagen mitzuteilen, so lange wir uns noch auf der Reise nach Paris befinden, einfach so... oder meinetwegen auch im Namen der Humanität: hatte ich doch Langeweile im Waggon, also mögen Sie sich nun gleichfalls langweilen. Doch übrigens, um andere Leser davor zu bewahren, werde ich alle diese meine Überlegungen absichtlich in ein besonderes Kapitel einschließen und dieses ein überflüssiges nennen. Sie, meine Freunde, können sich durch dasselbe durchlangweilen, die anderen aber können es, als ein überflüssiges, auch überspringen. Mit dem Leser muß man nun einmal vorsichtig und gewissenhaft umgehen, mit Freunden aber – nun, da geht's auch so. Also: