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»In jedem Sommer wurde auch eine Fahrt zu dem 60 Werst entfernten Troitzki-Kloster unternommen. Diese Fahrten brachten eine gewisse Abwechslung in unser Sommerleben; sie dauerten fünf bis sechs Tage, weshalb der Vater sich nicht an ihnen beteiligen konnte und wir nur mit der Mutter und irgend jemandem von unseren Bekannten hinfuhren. Das Theater besuchten unsere Eltern fast nie. Nur ein- oder zweimal während meiner ganzen Kindheit wurde zur Feier eines großen Festtages für die ganze Familie eine Loge genommen. Bei der Wahl des Stückes war man sehr vorsichtig. Einmal sahen wir die Aufführung eines Stückes, das › Jacko, oder Der brasilianische Affe‹ hieß. Den Inhalt des Stückes habe ich vergessen, ich erinnere mich aber, daß der Schauspieler, der den Affen spielte, sich als ein erstaunlicher Equilibrist erwies, so daß Fjodor hernach wie besessen von ihm war und lange Zeit sich mühte, die Kunststücke nachzumachen.«

Von dem ungeheuren Eindruck einer Theateraufführung allerdings ganz anderer Art, die Dostojewski als zehnjähriger Knabe gesehen hat, weiß Anna Grigorjewna, Dostojewskis Witwe, nach seinen eigenen Worten zu berichten: Das war die Aufführung von Schillers »Räubern«, mit dem berühmten Schauspieler Motschaloff in der Hauptrolle.

»Aber wenn wir auch selten ins Theater gingen,« erzählt Andrei Michailowitsch weiter, »so besuchten wir doch regelmäßig die Schaubuden der Moskauer Festmärkte, besonders in der Butterwoche, und zwar besuchten wir diese immer mit einem leiblichen Onkel unserer Mutter, Wassili Michailowitsch Kotelnitzki. Der Vater dieses W. M., also der Großvater meiner Mutter, Michail Fjodorowitsch Kotelnitzki, war Ende des achtzehnten Jahrhunderts Korrektor an der Moskauer Geistlichen Druckerei und soll, wie unsere Mutter erzählte, ein sehr kluger Mensch gewesen sein. Sein Sohn (unser Großonkel Wassili Michailowitsch) war Professor an der Moskauer Universität (an der medizinischen Fakultät), war kinderlos und liebte uns sehr. Unseren Eltern, die ihn überaus achteten, hatte er vermutlich ein für allemal das Versprechen abgenommen, daß wir Kinder in der Butterwoche alle auf einen ganzen Tag zu ihm kommen durften, und dann besuchte er mit uns, die wir ihm ohne weiteres anvertraut wurden, jedesmal verschiedene Aufführungen, deren Wahl er selbst traf.

»Unsere Eltern waren beide sehr religiös, besonders die Mutter. An jedem Sonn- und Feiertage mußten wir pflichtgetreu zum Frühgottesdienste gehen und am Abend vorher zur Abendmesse.

»... Marienhospital gehörte ein großer schöner Garten mit zahlreichen Lindenalleen und sehr sauber gehaltenen Wegen. Im Sommer hielten wir uns fast nur in diesem Garten auf. Dort spazierten wir artig mit unserer Kinderfrau Aljona Frolowna oder saßen auf einer Bank, und so verbrachten wir Stunden um Stunden. Dort fanden auch unsere Kinderspiele statt, übrigens durften wir nur Pferdchen spielen; Ballspiele und ähnliche, besonders solche mit Stöcken oder Schlägeln, waren uns als gefährlich und unschicklich aufs strengste verboten.

»Im Krankenhause wohnten außer uns noch viele Familien, verheiratete Ärzte und andere Angestellte; doch soweit ich mich erinnere, befanden sich unter deren Kindern keine Altersgenossen und so hatten wir gar keine anderen Spielgefährten, weshalb unsere Spiele denn auch recht eintönig waren. Einmal sahen wir auf einem Volksfest einen Schnelläufer, der für Geld sein Können zeigte; während des Laufens hielt er den Zipfel eines Tuches im Munde, das wohl mit einer kräftigenden Flüssigkeit getränkt war. Nachdem Fjodor diesen Läufer gesehen hatte, lief er lange Zeit täglich mit unermüdlichem Eifer in den Gartenalleen hin und her, wobei er gleichfalls einen Zipfel seines Taschentuches im Munde hielt.« – Eine Erklärung hierfür dürften wir in Dostojewskis eigenen Äußerungen finden, nach welchen er sich in seiner Kindheit gerne durch Körperkraft, Gewandtheit u. ä. hervorgetan habe.

»In diesem Garten ergingen sich auch die Genesenden, je nach dem Wetter in elefantenbraunen Tuchmänteln oder in Zwillichanzügen, jedoch immer in schneeweißen Zipfelmützen und in Schuhen oder Pantoffeln ohne Absätze. Fjodor liebte es sehr, mit diesen Kranken heimlich, d. h. wenn es sich irgendwie unbemerkt machen ließ, Gespräche anzuknüpfen, besonders wenn Knaben unter ihnen waren; das aber war uns ein für allemal streng verboten, und der Vater war äußerst ungehalten, wenn ihm etwas von einem derartigen Ungehorsam zu Ohren kam.«

Nach den Aussagen anderer Verwandten ist der Vater Dostojewskis überhaupt sehr streng gewesen, und die Wärterin Aljona Frolowna hat oft genug die Vergehen der Kinder verheimlichen oder diese vor der väterlichen Strafe schützen müssen.

»Im Jahre 1831 kauften unsere Eltern im Gouvernement Tula, 150 Werst von Moskau, ein kleines Landgut, wohin von nun an in jedem Frühjahr unsere Mutter mit uns Kindern übersiedelte. Den Vater hielt der Dienst in Moskau zurück. Nur im Hochsommer kam er auf ein paar Tage hinaus. In den ersten Jahren, als meine älteren Brüder noch nicht im Pensionat waren, nahm die Mutter sogleich alle Kinder mit und wir verbrachten den ganzen Sommer auf dem Lande. Die Fahrt hinaus aufs Gut war für uns Kinder ein Ereignis, das wir mit heißer Ungeduld herbeisehnten. Wir fuhren mit unseren eigenen Gutspferden und dem Kutscher Ssemjon Schiroki, der im Rufe stand, der beste Pferdekenner und Kutscher zu sein.« (Auch diesen Namen hat Dostojewski später benutzt.)

»... Fahrt dauerte zwei Tage, am dritten langten wir an. Während der Fahrt war Fjodor immer in einem geradezu fieberhaften Zustande. Er wählte sich auch immer den Platz auf dem Bock, neben dem Kutscher, und so oft der Wagen hielt, und war's auch nur auf eine Minute, sprang er ab, um sich alles, was in der Nähe war, anzusehen, oder er guckte gleichfalls an den Pferden herum, wenn der Kutscher Ssemjon, der Breite genannt, an ihnen etwas zu schaffen hatte.

»... Gegend, in der unser Landgut lag, war sehr anheimelnd und malerisch. Das kleine mit Lehm bestrichene Häuschen, das aus drei Zimmern bestand, lag in einem Lindenhain, der ziemlich groß und schattig war. Ihn trennte nur ein schmales Feld von einem dichten Birkenwalde, in dem es eine recht unheimliche, wilde, von kleinen Schluchten oder Erdklüften durchzogene Stelle gab. Dieser Wald hieß Brykowo (den Namen finden wir gleichfalls, und zwar in den »Dämonen«) und wurde von meinem Bruder sehr geliebt, weshalb wir ihn unter uns bald nur noch »FedjäsFamiliäre Abkürzung von Fjodor. E.K.R. Wald« nannten. Doch die Mutter erlaubte uns nur ungern, in diesen Wald zu gehen, da es hieß, dort seien Schlangen, und sogar Wölfe kämen dorthin.«

Hier hätten wir vielleicht eine Erklärung des Schreies »... Wolf kommt!« den Fjodor Michailowitsch dort einmal als Kind zu hören geglaubt hat und von dem er in seiner Erzählung vom Bauern Marei spricht.

»Fjodor, der damals bereits lesen konnte, hatte offenbar schon Indianergeschichten in die Hand bekommen, und so war denn seine Lieblingsbetätigung Indianer zu spielen. Das Spiel bestand darin, daß wir uns im Lindenhain eine Stelle mit dichterem Buschwerk aussuchten, dort ein Zelt herstellten und dieses dann für das Hauptzelt einer Niederlassung wilder Völker erklärten. Wir kleideten uns aus und bemalten unsere Körper mit Farben: was wir dann tätowieren nannten. Wir machten uns aus Blättern einen Lendenschurz und aus gefärbten Gänsefedern einen Kopfschmuck, und nachdem wir uns dann noch mit selbstgefertigten Pfeilen und Bögen bewaffnet hatten, schritten wir zum Überfall auf Brykowo (den Birkenwald). Natürlich war Fjodor, als der Erfinder dieses Spieles, auch der Häuptling und Anführer des wilden Stammes. Michail dagegen beteiligte sich nur selten unmittelbar an diesem Spiele: es paßte nicht zu seinem Charakter. Dafür war er, da er schon zu zeichnen begann und Farben besaß, derjenige, der uns anmalte und kostümierte. Doch die Hauptsache bei diesem Spiele bestand darin, daß wir als ›Wilde‹ nicht von irgend jemandem, der älter als wir war, beaufsichtigt wurden und von allem Gewohnten, von allem Nichtwilden, vollkommen abgesondert waren. Einmal, an einem heißen, trockenen Tage, ließ uns die Mutter nicht zum Essen rufen, sondern schickte das Essen zu uns hinaus und ließ es unter einem Busch am Zelt hinstellen. Das machte uns einen Riesenspaß und wir verzehrten natürlich alles ohne Messer und Gabel, einfach mit den Händen, wie es sich für richtige Wilde schickt. Doch als wir auch die Nacht als Wilde im Freien verbringen wollten, wurde uns das nicht erlaubt. Ein anderes Spiel, das nur wir zwei spielten, war ›Robinson und Freitag‹, bei dem ich den Freitag spielen mußte, da Fjodor selbstredend Robinson war. Dann mühten wir uns schrecklich, in unserem Lindenhain alle die Entbehrungen zu erdulden, die jene beiden auf der unbewohnten Insel zu ertragen gehabt hatten.