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Nun, jetzt aber ist es schon was anderes und Petersburg hat gesiegt. Jetzt sind wir bereits ganze Europäer, sind herangewachsen. Jetzt versucht selbst ein Gwosdiloff sich anzupassen, wenn's zum Prügeln kommt, sucht den Anstand zu wahren, wird zum französischen Bourgeois, und warten wir noch ein Weilchen, dann wird er gar wie ein Nordamerikaner aus den Südstaaten mit Bibeltexten die Notwendigkeit des Handels mit Negern zu verteidigen anfangen. Nebenbei: diese Art der Verteidigung greift von dort ans neuerdings stark auch nach Europa hinüber. Nun, wenn ich erst dort sein werde, kann ich mich ja selbst von allem überzeugen, dachte ich bei mir. Aus Büchern ist das doch nie zu erfahren, was man mit eigenen Augen sieht. Übrigens – da ich gerade auf Gwosdiloff zu sprechen gekommen bin: warum hat Vonwisin einen der bemerkenswertesten Sätze in seinem »Brigadier« gerade nicht der Ssofja, der Vertreterin der vornehmen und humaneuropäischen Entwicklung in den Mund gelegt, sondern der dummen Brigadierin? – wo es gilt, die Wahrheit zu sagen, da wird diese also doch nicht von Ssofja ausgesprochen, sondern von dieser Frau, die er, abgesehen von ihrer Dummheit, auch noch als böses Frauenzimmer gezeichnet hat. Es ist geradezu, als habe er sich nicht getraut oder gar es für künstlerisch unmöglich gehalten, daß ein solcher Ausspruch der gleichsam in der Orangerie erwachsenen, so wohlerzogenen Ssofja entschlüpfen könnte, und er hat es doch irgendwie natürlicher gefunden, daß ein einfaches, dummes Weib ihn ausspricht! Diese Stelle, die es wert ist, behalten zu werden, ist um so bemerkenswerter, als sie ohne jede Absicht und ohne alle Hintergedanken, ganz naiv und vielleicht sogar ganz unbedacht geschrieben worden ist. Die Gattin des Brigadiers erzählt der Ssofja:

»... In unserem Regiment war ein Hauptmann, Gwosdiloff mit Namen. Derselbe hatte so eine schmucke junge Frau. Wenn es nun vorkam, daß er sich ärgerte, aber meist geschah es wohl in der Betrunkenheit, da begann er sie denn, wirst du's mir glauben, so zu prügeln, was nur die Seele hergab, und das alles für nichts und wieder nichts. Na, uns ging das ja nichts an, aber manchmal hätte man doch weinen mögen, wenn man sie so sah.

Ssofja: Ich bitte Euch, hört auf, davon zu erzählen, was die Menschheit empört.

Die Brigadierin: Ja, sieh mal, du willst davon nicht einmal hören, wie aber muß das für die Hauptmannsfrau zu erdulden gewesen sein?«

Damit wird die wohlerzogene Ssofja mit ihrer ganzen Orangerie-Empfindsamkeit von einer gewöhnlichen, ungebildeten Frau einfach matt gesetzt. Es ist das eine ganz erstaunliche Antwort bei einem Vonwisin, und man kann nur sagen, daß von ihm nichts Treffenderes geschrieben worden ist, auch nichts Menschlicheres und... Unbeabsichtigteres!Vonwisin zeichnet die russischen Menschen alten Schlages als unglaublich unwissende, rohe, geistig und seelisch beschränkte Leute; doch auch die Söhne sind nicht besser: Hohlköpfe mit französischem Schliff oder Flegel, die nichts lernen, nichts wissen, sich von der Affenliebe der Mutter päppeln lassen. Die positiven Typen der Gebildeten, Aufgeklärten (Ssofja) bleiben bei ihm im Raisonneurhaften stecken. E. K. R.

Ja, wie viele solcher Orangerie-Progressisten gibt es bei uns noch heute und selbst unter unseren wichtigsten Führern, Orangerie-Progressisten, die mit dieser ihrer Treibhaushaftigkeit sogar außerordentlich zufrieden sind und gar nichts anderes verlangen. Noch das Merkwürdigste bei alledem ist zweifellos, daß Gwosdiloff seine Frau nach wie vor prügelt, und zwar jetzt fast mit noch größerem Genuß als früher. Es ist wirklich so. Man sagt, früher sei es mehr aus Liebe geschehen! – wie man ja auch zu sagen pflegt »... ich liebe, den schlage ich«. Sogar die Frauen, heißt es, hätten sich beunruhigt gefühlt, wenn sie nicht geschlagen wurden: er schlägt nicht, folglich liebt er nicht. Aber das war ja alles noch Urzustand, noch elementar, rassig. Jetzt aber hat sich auch das schon der Entwicklung unterworfen. Jetzt prügelt Gwosdiloff beinahe schon aus Prinzip, aber im Grunde doch nur, weil er immer noch ein Dummkopf ist, d. h. ein Mensch der alten Zeit, der die neuen Einrichtungen nicht begreift. Nach diesen neuen Einrichtungen aber kann man ja ohne Selbsthilfe und Faustrecht noch viel mehr erreichen. Wenn ich mich hier so über Gwosdiloff verbreite, so geschieht das nur, weil man bei uns noch immer über Gwosdiloff die tiefsinnigsten und humansten Phrasen schreibt, und zwar so unaufhörlich, daß es sogar dem Publikum schon zu viel wird. Gwosdiloff ist bei uns so lebenszäh, trotz aller Artikel gegen ihn, daß er fast unsterblich zu sein scheint. Jawohl, er lebt und ist gesund, ist satt und betrunken. Jetzt sind ihm zwar ein Arm und ein Bein gelähmt, und seine Ehehälfte ist schon längst nicht mehr »so eine schmucke-schmucke junge Frau«, wie sie es früher war. Sie ist alt geworden, das Gesicht spitz und farblos, Runzeln und Leid haben es durchfurcht. Doch als ihr Hauptmann krank darnieder lag, da wich sie nicht von seinem Bett, durchwachte die Nächte bei ihm, tröstete ihn, vergoß heiße Tränen um ihn, nannte ihn ihren lieben, guten Helden, ihren lichten Falken, ihren mutigen Soldaten. Mag das einerseits die Seele empören, mag es, mag es nur! Aber andererseits: es lebe die russische Frau, und es gibt nichts Besseres in unserer ganzen russischen Welt als ihre grenzenlos verzeihende Liebe. So ist es doch, nicht wahr? Um so mehr, als selbst Gwosdiloff jetzt in nüchternem Zustande seine Frau manchmal auch nicht mehr schlägt, das heißt, seltener schlägt, den Anstand wahrt, ja mitunter sogar ein freundliches Wort zu ihr sagt. Fühlt er doch jetzt im Alter, daß er ohne sie nicht auskäme; er versteht nun schon zu berechnen, er ist nun Bourgeois, und wenn er sie auch jetzt noch ab und zu schlägt, so geschieht das doch höchstens in der Betrunkenheit und so aus alter Gewohnheit, wenn es ihm sonst schon zu langweilig wird und irgend eine Sehnsucht ihn plagt. Nun, das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, immerhin ein Fortschritt, immerhin ein Trost, eine Beruhigung. Wir aber sind ja solche Liebhaber von Beruhigungen...

In der Tat, wir haben uns jetzt vollkommen beruhigt, ganz von selber. Mag es auch rund um uns herum selbst jetzt noch nicht sehr schön aussehen, dafür sind wir persönlich doch dermaßen schön, dermaßen zivilisiert, dermaßen Europäer, daß sogar dem Volk bei unserem Anblick übel wird. Jetzt hält uns das Volk bereits ganz und gar für Ausländer, versteht kein Wort von uns, kein Buch von uns, keinen Gedanken von uns, – das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, ein Fortschritt. Jetzt verachten wir das Volk und die volklichen Grundlagen schon so tief, daß wir uns sogar mit einem gewissen neuen, noch nie dagewesenen Ekel zu ihm verhalten, mit einem Ekel, wie er nicht einmal zur Zeit unserer de Rohans vorhanden war, das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, gleichfalls ein Fortschritt. Dafür sind wir – ja, wie sind wir dafür selbstbewußt, wie überzeugt von unserer zivilisatorischen Berufung, mit welch einer Herablassung lösen wir die Probleme, und noch dazu was für Probleme: es fehlt an Land, es fehlt an Volk; Nationalität – das ist nur ein bestimmtes Steuersystem; die Seele – tabula rasa, ein Ding aus Wachs, aus dem man sogleich einen wirklichen Menschen formen kann, einen allgemeinen Allgemeinmenschen, einen Homunculus – man braucht nur die Früchte der europäischen Zivilisation anzuwenden und zwei-drei Bücher zu lesen. Dafür: wie sind wir jetzt ruhig, wie erhaben ruhig, eben weil wir an nichts mehr zweifeln und alle Streitfragen schon entschieden und unterschrieben haben. Mit welch einer ruhigen Selbstzufriedenheit haben wir zum Beispiel Turgenjeff heruntergerissen,Turgenjeffs Roman »Väter und Söhne« hatte bei seinem Erscheinen 1862 einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Daraufhin brachte Dostojewskis Freund N. N. Strachoff in der »Zeit« einen Artikel, der als einzige Kritik dem Werk gerecht wurde und die Richtigkeit der ausgestellten Typen, die man als Verleumdungen verschrieen hatte, (den Nihilisten in Basaroff, die intellektuelle Frau in der Kutschina usw.) nachwies. E. K. R. weil er es wagte, sich nicht mit uns zu beruhigen und sich nicht mit unseren erhabenen Persönlichkeiten zu begnügen, weil er sich weigerte, sie für sein Ideal anzuerkennen, und etwas Besseres suchte, als was wir jetzt sind. Etwas Besseres als wir, Herr des Himmels! Was gibt es denn noch Schöneres und Tadelloseres als wir unter der Sonne? Nun, er hat denn auch genug zu hören bekommen für seinen Basaroff, diesen unruhigen und sich sehnenden (das Anzeichen eines großen Herzens), ja, ungeachtet seines ganzen Nihilismus, sich sehnenden Basaroff. Sogar für die Kutschina wurde er heruntergerissen, für diese progressive Laus, die Turgenjeff aus der russischen Wirklichkeit herausgekämmt hat, um sie uns vor die Augen zu halten, und man fügte sogar hinzu, er spreche gegen die Emanzipation der Frau. Die Emanzipation der Frau aber ist doch Fortschritt, da sagen Sie, was Sie wollen. Jetzt stehen wir mit einer solchen korporalhaften Selbstsicherheit, als solche Feldwebel der Zivilisation hoch über dem Volke, daß es eine wahre Freude ist, uns anzuschauen: die Hände in die Seiten gestemmt, herausfordernden Blickes – so sehen wir auf das Volk hinab und spucken bloß: »... sollten wir von dir, grobem Bauer, wohl lernen können, wenn doch die ganze Nationalität, die ganze Volklichkeit im Grunde nur Rückständigkeit ist, nur ein Steuersystem und nichts weiter!« Man wird doch Vorurteile nicht durchgehen lassen, ich bitte Sie! Ach Gott, Vorurteile – da fällt mir soeben etwas ein... Meine Herrschaften, nehmen wir für einen Augenblick an, daß ich meine Reise schon beendet habe und bereits nach Rußland zurückgekehrt bin, und erlauben Sie mir, eine Anekdote wiederzugeben: ich las sie in diesem Herbst in einer unserer fortschrittlichsten Zeitungen. Es war eine Korrespondenz aus Moskau unter der Überschrift: »Noch Reste der Barbarei« (oder etwas Ähnliches, jedenfalls ein sehr starker Ausdruck. Schade nur, daß ich die Zeitung nicht zur Hand habe). Und es wird erzählt, wie man eines Morgens – es war in diesem Herbst – in Moskau ein Gefährt erblickt hat, auf dem eine betrunkene Brautwerberin saß, noch in der Hochzeitstracht, mit Bändern aufgeputzt und ein Lied singend. Auch der Kutscher war mit Bändern geschmückt und gleichfalls betrunken, ja, auch er brummte sogar ein Lied. Selbst das Pferd war bunt bebändert, nur weiß ich nicht, ob es auch betrunken war. Sicherlich wird es betrunken gewesen sein. Nie Brautwerberin hielt auf dem Schoß ein Bündelchen mit Sachen von dem neuvermählten Paar, das augenscheinlich eine glückliche Nacht verbracht hatte. Dieses Bündelchen enthielt natürlich ein gewisses leichtes Kleidungsstück, das den Eltern der Neuvermählten am nächsten Morgen zu zeigen unter dem einfachen Volke ein alter Brauch ist. Das Volk lachte beim Anblick dieser Ehestifterin; ein spassiges Objekt. Die Zeitung berichtete den Vorfall mit Empörung, nannte ihn, spuckend, schimpfend und mit Entrüstung, eine unerhörte Barbarei, die sich »trotz aller Fortschritte der Zivilisation sogar bis heute erhalten hat!« Meine Herrschaften, ich muß Ihnen gestehen, daß ich darob in lautes Lachen ausbrach. Oh, bitte, denken Sie nicht, daß ich urweltlichen Kannibalismus, diese leichten Kleidungsstücke, Decken usw. verteidige. Das ist abscheulich, das ist unkeusch, das ist wild, ist slawisch, ich weiß, ich gebe es zu, obschon das natürlich ohne schlechte Absicht geschah, sondern im Gegenteil, zur Ehre der jungen Frau, aus reiner Herzenseinfalt, aus Unkenntnis von Besserem, Höherem, Europäischem. Nein, ich lachte über etwas anderes. Und zwar: mir fielen plötzlich unsere Damen und unsere Modegeschäfte ein. Selbstverständlich schicken unsere zivilisierten Damen jetzt keine leichten Sachen mehr zu ihren Eltern, aber wenn es zum Beispiel gilt, bei der Modistin ein Kleid zu bestellen, mit welch einem Scharfsinn, mit wie feiner Berechnung und Sachkenntnis verstehen sie dann, an gewissen Stellen Watte unter ihre bezaubernden europäischen Toiletten zu legen! Warum, wozu diese Watte? Natürlich zur Erhöhung der Eleganz, um der Ästhetik willen, pour paraître... Und nicht nur sie, auch ihre Töchter, diese unschuldigen siebzehnjährigen Geschöpfe, die kaum das Pensionat verlassen haben, auch die wissen um die Watte schon Bescheid, wissen alles: wozu diese Watte dient, und wo man sie anbringen muß, und warum und weshalb, d. h. speziell zu welchem Zweck das alles angebracht wird... Nun wohl, dachte ich lachend, diese Mühen, diese Sorgen, diese bewußten Sorgen um wattierte Vergrößerungen, – sind sie nun wirklich reiner, sittlicher, keuscher als jenes unselige leichte Kleidungsstück, das in einfältigem Glauben den Eltern geschickt wird, in der Überzeugung, daß man es tun muß, daß eben dies sittlich sei!...