Ich verstehe eines nicht: Tschatzki war doch ein sehr kluger Mensch. Wie konnte es nun geschehen, daß ein kluger Mensch hier nichts zu tun fand? Sie fanden ja alle nichts zu tun, fanden in der ganzen Zeitspanne von zwei-drei Generationen nichts. Das ist Tatsache und gegen eine Tatsache zu reden, lohnt sich nicht, denke ich; doch aus Interesse nach den Gründen fragen, das kann man. Also wie gesagt, ich verstehe nicht, wie ein kluger Mensch gleichviel wann und wo, gleichviel unter welchen Umständen, keine Arbeit für sich finden kann. Man sagt, das sei ein strittiger Punkt, doch in der Tiefe meines Herzens glaube ich das durchaus nicht. Dazu hat man doch den Verstand, um das zu erreichen, was man will. Kannst du nicht gleich eine ganze Werst gehen, so gehe hundert Schritte, immerhin ist das mehr als nichts, bringt dich immerhin näher zum Ziel, wenn du überhaupt zu einem Ziele gehst. Unbedingt mit einem einzigen Schritt zum Ziel gelangen zu wollen, ist meiner Meinung nach durchaus kein Anzeichen von Verstand. Ja, so etwas heißt sogar Arbeitsscheu. Mühe lieben wir nicht, Schritt für Schritt zu gehen sind wir nicht gewohnt, am liebsten würden wir mit einem einzigen Schritt die ganze Strecke bis zum Ziel überspringen. Nun, und eben dies ist ja Arbeitsscheu. Ja, Tschatzki hat doch sehr gut getan, daß er damals wieder ins Ausland entschlüpfte: es lag ihm wohl nicht, hier ein wenig länger zu verweilen und sich dann nach dem Osten, statt nach dem Westen zu begeben. Man liebt bei uns nun einmal den Westen, liebt ihn eben, und im äußersten Fall, d. h. wenn es zur Entscheidung kommt, fahren alle dorthin. Nun ja, auch ich fahre jetzt hin. »Mais moi c'est autre chose«. Ich habe sie dort alle gesehen, d. h. sehr viele, denn alle sind ja gar nicht abzusehen, doch alle, die ich sah, suchen dort, glaube ich, einen Winkel für ein gekränktes Empfinden. Wenigstens suchen sie etwas. Die Generation der Tschatzkis beiderlei Geschlechts hat sich ja seit dem Ball bei Famussoff,Gribojedoffs Komödie spielt im Hause des höheren Staatsbeamten Famussoff: sie beginnt mit dem Morgen, an dem Tschatzki aus dem Auslande eintrifft, und endet mit dem späten Abend desselben Tages, nach dem Ball, im Vestibül. In Famussoff hat Gribojedoff seinen eigenen Onkel gezeichnet, dessen Festlichkeiten berühmt waren. E. K. R. und überhaupt nachdem der Ball zu Ende war, dort so vermehrt wie Sand am Meer; und sogar nicht nur die Tschatzkis: sind sie doch alle aus Moskau dorthin gefahren. Wie viele RepetiloffsDie Namen sind noch nach alter französischer Art Kennzeichnungen ihrer Träger. Repetiloff heißt etwa »Schwätzer«. gibt es jetzt dort, wie viele Skalosubs,Oberst Skalosub (»Grinser«) ist ein beschränkter Gamaschenknopf. Natalja Dmitrijewnas ewig besorgte Liebe will aus ihrem früher frischfröhlichen Mann einen zugempfindlichen Stubenhocker machen. Die alte bissige Hlestowa (
hlestatj – mit der Gerte schlagen) ist als Typ auch von Tolstoj in »Krieg und Frieden« gebracht. Moltschakin (»Schweiger«) ist Famussoffs Sekretär, der sich durch zwei »Tugenden« auszeichnet: durch »Mäßigkeit und Akkuratesse,« – ein gehorsamster Diener und Streber, der aus Berechnung sogar dem Hofhunde schmeichelt. E. K. R. die schon ausgedient haben und wegen Untauglichkeit in die Bäder geschickt worden sind. Natalja Dmitrijewna mit ihrem Mann gehört dort unbedingt zu ihnen. Selbst die Gräfin Hlestowa reist in jedem Jahre hin. Sogar Moskau ist allen diesen Herrschaften langweilig geworden. Einzig Molschalin fehlt dort unter ihnen: er hat es sich anders überlegt und ist zu Hause geblieben, nur er allein ist zu Hause geblieben. Er hat sich dem Vaterlande gewidmet, der Heimat, sozusagen. Jetzt kommt man an ihn überhaupt nicht mehr heran; selbst seinen Wohltäter Famussoff würde er jetzt nicht einmal zu sich ins Vorzimmer lassen: »... Nachbar vom Lande,« heißt es jetzt, »in der Stadt grüßen wir uns nicht.« Er ist beschäftigt, ja, er allein hat etwas zu tun gefunden. Er ist in Petersburg und... und hat's weit gebracht. »Er kennt Rußland und Rußland kennt ihn«. Jawohl, gerade ihn kennt es zur Genüge und es wird ihn lange nicht vergessen. Jetzt pflegt er auch nicht einmal mehr zu schweigen, im Gegenteil, nur er allein redet jetzt... Doch was rede ich von ihm! Ich kam doch auf sie alle zu sprechen, die in Europa einen erquickenden Winkel suchen, und ich muß sagen, ich dachte wirklich, daß sie es dort besser hätten. Statt dessen ist in ihren Gesichtern ein solcher Harm... Die Ärmsten! Und was ist das für eine ewige Unruhe in ihnen, was für eine krankhafte, sehnsüchtige Geschäftigkeit! Alle haben sie den »Führer« bei sich und in jeder Stadt stürzen sie sich gierig auf die Sehenswürdigkeiten, die sie mit einem Eifer besichtigen, als wären sie dazu verpflichtet, als setzten sie einen vaterländischen Dienst fort: nicht ein einziges dreifensteriges Palais wird von ihnen übergangen, wenn es nur im »Führer« angegeben ist, ebenso kein einziges Rathaus, das sich oft von einem ganz gewöhnlichen Moskauer oder Petersburger Hause kaum unterscheidet; sie gaffen das Rindfleisch eines Rubens an und glauben artig, das seien die drei Grazien, weil der »Führer« so zu glauben befiehlt; sie stürzen zur Sixtinischen Madonna und stehen vor ihr in stumpfer Erwartung: jetzt gleich wird etwas geschehen, irgend jemand wird unter dem Fußboden hervorkriechen und ihren gegenstandslosen Harm und ihre Müdigkeit verscheuchen. Und sie gehen weg, verwundert, daß nichts geschehen ist. Das ist nicht das selbstzufriedene und vollkommen mechanische Interesse englischer Touristen und Touristinnen, die mehr in ihren »Führer« sehen als auf die Sehenswürdigkeiten, die nichts erwarten, weder Neues, noch Erstaunliches, und die nur nachprüfen: ist es auch so im »Führer« angegeben und wieviel Fuß hoch oder Pfund schwer ist der Gegenstand ganz genau gemessen und gewogen? Nein, unsere russische Wißbegier ist irgend so eine wilde, nervöse, mächtig lechzende, doch im tiefsten Grunde im Voraus überzeugte, daß nichts geschehen wird, natürlich bis zur ersten Fliege: kaum fliegt eine vorüber – so fängt es sofort wieder an... Ich spreche jetzt nur von den klugen Leuten. Um die anderen braucht man sich ja nicht zu sorgen: die werden doch immer von Gott beschützt. Und ich spreche auch nicht von jenen, die sich endgültig im Auslande angesiedelt haben, ihre Muttersprache vergessen und katholische Patres anhören. Übrigens, von der ganzen Masse kann man nur folgendes sagen: kaum haben wir uns über Eydtkuhnen hinweggewälzt, da gleichen wir schon auffallend jenen kleinen unglücklichen Hündchen, die ihren Herrn verloren haben und nun suchend umherlaufen. Aber was glauben Sie, – daß ich dies hier spottend schreibe, jemanden anklage, weil sozusagen »gerade jetzt, wo usw., – und Sie sind im Auslande! Hier ist die Bauernfrage im Gange und Sie sind im Auslande!« usw., usw... Oh, keineswegs und nicht im geringsten. Und wer bin ich denn, daß ich anklagen könnte? Wen anklagen? und wessen? »... würden ja gern etwas tun, aber es gibt für uns nichts zu tun, das aber, was es da gibt, das wird auch ohne uns gemacht. Die Stellen sind besetzt, Vakanzen sind nicht vorauszusehen. Wer hat denn Lust, seine Nase in Dinge zu stecken, in die sie zu stecken man nicht gebeten wird.« Das ist dann die Ausrede und sie ist nicht einmal lang. Wir kennen sie schon auswendig. Aber was ist das? Wo bin ich hingeraten? Wann habe ich denn schon Zeit gehabt, Russen im Auslande zu sehen? Wir nähern uns doch erst der Grenzstation Eydtkuhnen... Oder sind wir schon weiter gefahren? In der Tat, auch Berlin, auch Dresden, auch Köln liegt schon hinter uns. Ich sitze zwar immer noch im Eisenbahnwagen, doch vor uns liegt nicht mehr Eydtkuhnen, sondern Erquelines, und wir fahren nach Frankreich hinein. Paris, Paris war's doch, wovon ich erzählen wollte und wovon ich ganz abgekommen bin! Ich habe mich schon zu sehr vom Nachdenken über unser europäisches Rußland umstricken lassen; aber das ist wohl verzeihlich, wenn man gerade ins übrige Europa zu Besuch fährt. Übrigens, wozu gar so sehr um Entschuldigung bitten. Mein Kapitel ist ja ein überflüssiges.